Foto: Chira Brecht

Die Gretchenfrage zu Weihnachten: Brauchen wir Gott?

Hat der Gottbegriff in unserer heutigen modernen Gesellschaft noch eine Berechtigung oder ist er nur ein Vorwand für nicht übernommene Verantwortung?

 

Um es vorneweg zu nehmen. Ich behaupte von mir, dass ich nicht an Gott glaube. Doch wie mit so vielem im Leben ist es einfacher, Dinge rationell zu beschließen als sie gefühlsmäßig zu bewältigen. 

Als ich einmal zu meiner Therapeutin nach einer unendlich anstrengenden Stunde – in der es gar nicht um IHN ging – eben diesen Satz sagte, meinte sie lapidar: „Dafür haben Sie sich heute aber ziemlich oft auf ihn berufen.“  

In dem Moment wurde mir klar, wie oft ich täglich „Oh mein Gott!“ sage. Wie oft schicke ich ein Stoßgebet an ihn, lieber Gott hilf mir. Immer noch!  

Bin ich also mit meinen 48 Jahren nicht über diesen Kinderglauben hinausgewachsen? Über diesen Gott aus meiner katholisch geprägten Kindheit, der nach Belieben straft oder gibt, der seine Gunst wahllos verteilt, Kriegen und Hungerkatastrophen ebensowenig Einhalt gebietet wie rechten
Neonazis, die im Jahr 2018 Aufmärsche veranstalten. 

So lange ich klein war, habe versucht brav zu sein, so gut ich konnte. Als ich neun wurde, konnte ich in der Beichte abladen, was ich „Böses“ getan hatte. Später wurde ich wütend auf ihn, dass ich immer wieder das selbe beichten musste, weil er mir nicht half, ein besserer Mensch zu werden. Zum Beispiel nicht böse auf meine Mutter zu sein, oder meine kleinen Geschwister anzuschreien, wenn sie nervten. Heute weiß ich, dass man so ganz sicher nicht lernt, mit seinen Gefühlen umzugehen. Ich glaube, mit siebzehn habe ich ihn sogar einmal in einem besonders langweiligen Gottesdienst herausgefordert, mir ein Zeichen seiner Existenz zu geben. Wie allen anderen Siebzehnjährigen vor mir, die ähnliches verlangt haben, hat er es mir verweigert.   

Später habe ich es etwas differenzierter mit Jesus, der die reine Liebe predigte, versucht. Aber ehrlich, wenn ich mich so umsah: das mit der wahren Liebe um uns herum war allenfalls eine Mär. Kriege, Hungernöte und Nazis gibt es ja trotzdem. Soll man denen mit unendlicher Liebe kommen? Was würde das bewirken? Auch hier fühlte ich mich letztendlich verraten. Jesus mochte vielleicht eher der Rockstar im Vergleich zu seinem allmächtigen und autoritären Vater sein. Doch ich konnte nicht finden, dass er merklich viel in dieser Welt verbesserte. Die zwei ließen es einfach laufen.  

Gott ist nicht gerecht. Jesus mag Liebe gelehrt haben, und er hat sich für uns geopfert. Sollten also auch Kriege und Seuchen Opfer sein für eine vielleicht bessere Welt? Was für eine verquere Vorstellung! In meiner eigenen kleinen Welt bewirkte diese Einstellung, dass man aushalten lernte. Dass man nicht lernte, gegen Ungerechtigkeit oder andere Unabwägbarkeiten aufzubegehren,
sondern sie mit Fassung ertrug. Jeder muss halt Opfer bringen. Keine Verantwortung für sich selber, seine eigenen Bedürfnisse oder gar Gefühle übernehmen. Dinge sind „gottgegeben“, denn dieser opfert notfalls seinen eigenen Sohn. (Im Alten Testament hat er übrigens Abraham noch davon abgehalten, das Gleiche zu tun. Aber das sind Kleinigkeiten.) 

Offiziell und endgültig habe ich mich von ihm losgesagt, als mein jüngerer Bruder mit nur 24 Jahren bei einem Verkehrsunfall – und auch noch auf ziemliche grausame Weise – ums Leben kam. Ich versuchte eine Weile, ohne Spiritualität oder den Glauben an eine höhere Macht durchs Leben zu kommen. Ich versuchte es mit dem Begriff Universum. Eine Zeitlang war es schick, sich einen
Parkplatz vom Universum zu wünschen. Als ob das Universum nichts Besseres zu tun hätte!  

Leider „Gottes“ ertappte ich selbst mich weiterhin dabei, stattdessen Gott den Allmächtigen wegen allem möglichen Kleinkram zu behelligen: „Lieber Gott, lass mich morgen den Tag überstehen!“, „Lieber Gott, werde ich endlich zehn Kilo abnehmen?“, „Lieber Gott, mach, ….“ Also doch nicht
abgeschworen?! 

In meiner feministisch esoterischen Phase versuchte ich mich mit Gott als Frau. „Göttin mach!“ Das war vielleicht eine Zeitlang witzig und der alte Gott mit Rauschebart wurde überlagert von einem kleinen schwarzen Hutzelweibchen, wahlweise mit einem fiesen oder einem spöttischen Lächeln um den Mund. „Göttin sei Dank“, die Phrase etablierte sich nicht. So wenig wie „Salzstreuerin“ oder andere *I Schnörksel uns fließend über die Lippen kommen. Manche Begriffe sind einfach nicht alltagstauglich. Für mich gehörte „Göttin“ dazu. 

Also wurde ich weiterhin die Vorstellung nicht los, dass in von Menschen erbauten Kathedralen, Moscheen oder Synagogen bärtige alte Männer angerufen werden – eventuell sogar ein- und derselbe, sie wissen es nur nicht. Das Bild hat sich einfach zu tief eingeprägt in unseren archaischen Gehinregionen – zumindest in meinen eigenen.  

Doch dabei will ich es nicht belassen. Die Vorstellung, dass noch weitere 3000 Jahre alte Männer unsere Spiritualität und unseren Glauben bevölkern sollen, ist mir unheimlich. Wie soll die Menschheit jemals weiterkommen und an sich selbst glauben, wenn sie sich auf diese alten Männer beruft?   

Am leichtesten habe ich mich immer mit der Vorstellung des „Göttlichen“ in der Natur getan. Ob geschaffen oder gewachsen, die Natur, das Leben ist da.  

Brauchen wir also wirklich einen Gottbegriff? Reicht es nicht aus, an das Leben zu glauben? 

Das Leben ist wie es ist, es ist nicht gerecht, aber es muss auch nicht gerecht sein, denn niemand erwartet vom Leben Gerechtigkeit. Gut, wir mögen es uns wünschen, aber tief in unserem Inneren wissen wir es besser. Das Leben gibt oder nimmt und das stets reichlich und sogar im höchsten Überfluss. Leben ist überall: in den Tiefen des Grand Canyon genauso wie auf dem höchsten Berg,
im tiefsten Wald, in einem grünen Fluss, in einer pulsierenden Stadt und sogar im All, wenn Astronauten von einer Kapsel auf unseren Planeten herabschauen. 

Warum also müssen wir einem „Gott“ huldigen, statt unserem Leben? Warum lernen wir nicht, es anzunehmen, ihm dankbar zu sein und es vielleicht sogar ab und an zu verfluchen? Wir dürfen das, es ist unser Leben und wir können es selbst in die Hand nehmen. Denn wir sind es, die für dieses unser Leben verantwortlich sind, nicht bärtige alte Männer!   

Ich hoffe also, dass es ich in der nächsten Zeit öfter schaffe zu sagen: „Mein Leben!“ anstelle von „Oh mein Gott!“ – Klingt doch ganz vernünftig: „Mein Leben, werden wir es schaffen, den heutigen Tag zu überstehen?“ – „Ja, werden wir!“ Auf diese Weise kann man auch gut mit seinem eigenen Leben in Kommunikation treten, finde ich.  

 

 

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