Foto: Unsplash – Erik-Jan Leusink

Die Sache mit der Doppelmoral: Warum wir uns nur Maßstäbe setzen, die bequem sind

Wir leben vegan und tragen trotzdem H&M-Kleidung, nehmen die Rolltreppe zum Fitnessstudio, regen uns über Smartphone-Kids auf, ähneln ihnen aber doch mehr, als wir wollen. Über die eigene Doppelmoral.

Wie es uns in den Kram past

Eine meiner Freunde ist Veganerin, mit vollem Blut und Ehrgeiz. Nicht im Traum würde ich auf die Idee kommen, ihre Einstellung anzuzweifeln oder eine Diskussion anzufangen. Denn es ist ihr Leben, ihr Verantwortungsbewusstsein für die Umwelt, ihre Maßstäbe. Und doch, da ist in meinen Augen dieser Fehler im Bild, der ihre Grundsätze zu Nichte macht: ihre Kleidung. Die kauft sie nämlich, wie es ihr beliebt bei H&M, Primark und Zara. An dieser Stelle hört ihr Umweltbewusstsein wieder auf. Fair Fashion sei zu teuer, nicht hip genug, schwer zu finden, was auch immer. Stimmt nicht, denke ich. Wer sucht und finden will, der findet auch.

Was ich gerade tue, ist urteilen, ich weiß. Und wir alle lieben es, uns über andere eine Meinung zu bilden, Verbesserungsvorschläge zu machen und dagegen zu halten. Denn eigentlich habe ich nicht das Recht dazu, denn wir alle verfolgen unsere eigenen Grundwerte und setzen die Maßstäbe gerne so, wie sie uns bequem sind.

Weil wir es einfach nicht sehen wollen

So predigen wir unseren Mitmenschen ständig, mehr Zeit für sich zu nehmen, tun es aber selbst nicht. Wir leben vegan, schlürfen Soja-Latte und kaufen unsere Kleidung trotzdem bei H&M – am allerliebsten Stücke aus der nachhaltigen Kollektion, weil die ist ja der Inbegriff von Umweltverträglichkeit sei. Außerdem legen wir viel Wert auf Bio-Lebensmittel und kaufen sie auch, wenn sie dreifach in Plastik eingepackt sind. Wir plädieren ständig dafür, das Wasser während des Zähneputzens abzustellen, duschen dafür aber 30 Minuten lang. Wir wählen die Rolltreppe hoch zu unserem Fitnessstudio statt die Treppe, denn schließlich schwitzen wir gleich noch genug. Wir trauern um unseren geliebten Buchladen, in dem wir bereits zu Schulzeiten unsere Bücher gekauft haben. Dass unter anderem Amazon Schuld hat, wissen wir. Unser Kaufverhalten ändern wir trotzdem nicht. Teenager, dessen Blick nur am Smartphone hängt belächeln wir, obwohl uns im hintersten Punkt unseres Kopfes bewusst ist, dass wir nicht viel anders sind. Unserem Wunsch für ein enges Miteinander kommen wir selbst in die Quere, indem wir täglich mit gesenktem Blick am Obdachlosen vor der S-Bahn-Station vorbei.

Das Einzige, was wir hier machen, ist uns selbst reinzulegen. Nur fällt uns meist gar nicht auf, dass noch eine andere Seite der Medaille existiert – weil wir die andere Seite nicht sehen wollen oder, weil sie uns zu viel Geld, Zeit oder Anstrengung kostet.

Verstehen und verändern

Im Klartext: Wir sind zu bequem. Zu bequem, um unser Essverhalten zu ändern, unseren Konsum einzuschränken, alte Gewohnheiten für neue aufzugebenCharles Duhigg, der Autor des Buches ,The Power of Habit: Why We Do What We Do, and How to Change‘, schreibt, dass das Brechen der Gewohnheiten dabei anfängt, sie zu verstehen. Sobald dies geschieht, und man sich dessen bewusst werde, habe man die Macht, sie neu zu strukturieren. Um das geschehen zu lassen, lautet die Message: Get to work.

Wie wäre es also, wenn wir heute nach dem Feierabend in Ruhe nach Hause laufen und die Zeit für uns genießen, anstatt die überfüllte Bahn zu nehmen? Unsere H&M-Klamotten könnten wir das nächste Mal Secondhand kaufen, unseren Plastikmüll aufwerten, indem wir die Verpackung als Müllbeutel oder Wäschesack auf Reisen wiederverwenden. Die Bücher für die nächste Reise shoppen wir nicht bei Amazon, sondern leihen sie einfach in der Bibliothek aus. Und unser Kleingeld könnten wir in einem Extrafach unseres Portemonnaies aufbewahren, sodass wir beim nächsten Besuch der S-Bahn-Station gar nicht mehr lange überlegen müssen und unser Verhalten direkt ändern können.

Get to work!

Diese Dinge sind immer einfacher gesagt als getan, aber auch mich motiviert dieser Text dazu, meine Gewohnheiten noch mehr in Frage zu stellen.

1. Identifizieren

Als erstes gilt es, ganz im Sinne von Duhigg, die eigenen Gewohnheiten zu identifizieren. Und dabei meine ich nicht die offensichtlichen, sondern auch Verhaltensweisen oder Muster, die unbewusst geschehen. Ihr solltet euch fragen: Was mache ich täglich, regelmäßig oder sehr oft, lang oder gar zu lang? Welche Taten umgehe ich? Wovor drücke ich mich? Wo schaue ich weg?

2. Notieren

Beobachtet euch selbst mal über ein paar Tage und schreibt diese am Abend auf. Und zwar nicht in irgendwelchen Apps – Achtung, Doppelmoral – sondern in ein Notizbuch. Meine neueste Entdeckung und Leidenschaft: ein Bullet-Journal, eine Kombination aus Kalender, To-Do-Liste und Tagebuch. So könnt ihr nicht nur euren Alltag mehr strukturieren, sondern auch persönliche Ziele fokussieren, Gewohnheiten mittels einem ,Habit Tracker‘ identifizieren und schlechte eliminieren.

Bullet Journal-Impressionen von teanandtwigs und lonely_fawns auf Instagram.

Inspiration und Anregungen findet ihr dazu beispielsweise auf Instagram unter #bulletjournal bzw. #bujo, auf Pinterest oder auf Youtube in diesem Video. Wem das zu aufwendig ist, kann auch einfach ein Post-it mit den persönlichen Zielen an die Schlafzimmertür heften – Hauptsache, ihr verliert sie von einem Tag auf den anderen nicht wieder aus den Augen.

3. Realisieren

Ruft euch in Erinnerung, dass es nicht darum geht, die eigenen Maßstäbe höher und euch damit unter Druck zu setzen. Es geht darum, sich der Doppelmoral bewusst zu werden und sie Stück für Stück aus dem Weg zu räumen. Denn, so schreibt Duhigg weiter:

 ,...hiding what you know is sometimes as important as knowing it‘. 

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