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Dieser Chef hat den 5-Stunden-Tag in seiner Firma eingeführt – so sieht das dann in der Praxis aus

Feierabend um 13 Uhr? Business Insider hat die Firma besucht, die den 5-Stunden-Tag eingeführt hat und berichtet, wie das Modell in der Praxis funktioniert.

In fünf Stunden das schaffen, was andere in acht erledigen

Es ist still im Büro von Rheingans Digital Enabler. Kurz vor acht Uhr sitzen die ersten Mitarbeiter*innen bereits an ihren Rechnern im sechsten Stock in der Bielefelder Altstadt und arbeiten konzentriert. Kein Wunder — sie müssen in fünf Stunden das schaffen, was die*der durchschnittliche Arbeitnehmer*in in acht Stunden erledigt.

Lasse Rheingans ist der Mann, der mit seinem Arbeitszeitmodell seit Ende 2017 in den Medien hohe Wellen schlägt: Er führte in seiner Werbeagentur die 25-Stunden-Woche ein. Wer für ihn arbeitet, arbeitet nur fünf Stunden am Tag, von acht bis 13 Uhr. Keine Überstunden. Keine Wochenendarbeit. Keine Zielvereinbarung. Und das bei voller Bezahlung. Nathalie Gauliac von unserem Partner Business Insider wollte wissen, wie das Projekt in der Praxis wirklich funktioniert.

„Habe ich noch Zeit?“

Der Morgen beginnt mit einer Versammlung, in der die Aufgaben des Tages besprochen werden. Im Stehen wird geklärt, wer was zu erledigen hat, welche Aufgaben oberste Priorität haben und was die Deadline für die jeweiligen Aufgaben ist. Es fallen Sätze wie „Ich hätte gerne einen Zeitraum von einer Woche, um das umzusetzen“ oder „Habe ich noch Zeit, um XYZ zu machen?“. Man merkt den Zeitdruck: Das Meeting wird kurz gehalten, private Gespräche haben dort nichts zu suchen.

Lasse Rheingans ist von dem Druck nichts anzusehen. Er ist so, wie man sich den lockeren jungen Chef einer Werbeagentur vorstellt: Er ist motiviert, er brennt für seinen Job, will flache Hierarchien und gibt sich locker. Nach der Versammlung setzen wir uns in den kleinen modernen Konferenzraum. Dort lehnt er sich im weißen Plastikstuhl zurück, legt einen Arm über die Lehne und die Beine auf einen Stuhl hoch. Dann fängt er an, über sein Projekt zu sprechen

„Manche haben gedacht, ich spinne“

Auf die Idee, den 5-Stunden-Tag einzuführen, kam Rheingans in seinem vorherigen Job in einer anderen Agentur. Mit einer Vollzeit-Stelle, zwei Kindern, einem großen sozialen Umfeld und mehreren Hobbys fiel es ihm immer schwerer, Arbeit und Privatleben zu vereinbaren — also nahm er sich an zwei Nachmittagen pro Woche frei, um mehr Zeit für seine Kinder zu haben. So bemerkte er erstmals, dass es machbar ist, das Arbeitspensum von einer Woche zu schaffen, obwohl ein ganzer Arbeitstag fehlt.

Also begann Rheingans, sich mit Studien und Forschungen zu diesem Thema auseinanderzusetzen, las unter anderem das Buch „The Five-Hour Workday“ von Stephan Aarstol. Dann beschloss er: Nach der Übernahme der Werbeagentur Digital Enabler — die er zu „Rheingans Digital Enabler“ umbenannte — wird er sofort den 5-Stunden-Tag einführen. Im Oktober 2017 fing er dort an, hielt zunächst Impulsvorträge über seine Vision von Teamspirit und guter Kommunikation — und führte ab der ersten Novemberwoche den 5-Stunden-Tag ein.

„Ich glaube, manche haben gedacht, ich spinne und waren sich nicht sicher, ob sie anfangen sollten zu lachen. Im Agenturgeschäft ist es eigentlich normal, dass man erst dann rausgeht, wenn es dunkel ist.“ Eine Arbeitsweise, die langfristig zu Überanstrengung und Burnout führt, glaubt Rheingans.

Die Fakten sprechen für sich: Eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin legt nahe, dass das Risiko gesundheitlicher Beschwerden bei langen Arbeitszeiten steigt. „Meine Erfahrung hat gezeigt, dass nichts dadurch besser wird, dass man länger arbeitet. Zum Beispiel bei der Softwareentwicklung: Man macht mehr Fehler, muss nacharbeiten und muss am Ende mehr Zeit investieren, als wenn man kürzer und hochkonzentriert arbeitet.“

Die Reaktionen der Mitarbeiter*innen auf die Verkündung: Freude, aber auch Skepsis. Was auf Anhieb erst einmal toll klingt, weckt Zweifel, wenn man bedenkt, dass man in fünf Stunden das Arbeitspensum von acht Stunden schaffen muss. Dass die Umstellung zu Beginn schwierig werden würde, sei auch Rheingans klar gewesen: „Ich hab ihnen gesagt, dass ich erwarte, dass wir hier erst einmal scheitern.“

Aller Anfang ist schwer

Im ersten Schritt ging es darum, Zeitfresser zu identifizieren und zu eliminieren. Vielleicht kennt ihr es aus dem eigenen Arbeitsalltag: Man setzt sich zu einem Meeting zusammen und aus der angesetzten halben Stunde wird schnell mehr als eine Stunde. „Das ist vielleicht bei einem 8-Stunden-Tag-möglich. Wir haben die Zeiträume kleiner gemacht und uns eine Viertelstunde anstelle von einer Stunde zusammengesetzt.“

Wie Rheingans erklärt, lassen sich immer wieder neue Zeitfresser identifizieren. „Welche Tools nutzen wir? Brauchen wir Headset statt Telefon? Brauchen wir ein anderes Hardware-Equipment? Es hört nie auf, man lernt die ganze Zeit.“

Dass hier Zeit gespart wird, erkennt man auch an der Kommunikation zwischen den Mitarbeitern: Wenn es ein Problem gibt, gehen sie lieber direkt zum Kollegen an den Tisch, anstatt per Chat um den heißen Brei zu reden.

„Wir lassen nicht um Punkt 13 Uhr den Stift fallen“

Ist alles pünktlich erledigt, heißt es um 13 Uhr Feierabend. Aber wie sieht es mit der Abrufbarkeit nach 13 Uhr aus? „Wenn ein Notfall passiert, ist es natürlich besser, wenn man erreichbar ist“, sagt Rheingans. „Ich weiß, dass es möglich wäre, den Kollegen anzurufen. Aber das will ich gar nicht und im Regelfall ist es auch nicht notwendig.“

Und wenn die Arbeit bis 13 Uhr nicht erledigt wurde, bleibt man bei Rheingans Digital Enabler auch mal länger am Platz. „Wir lassen nicht um Punkt 13 Uhr den Stift fallen. Wir wollen das Bestmögliche leisten.“ Überstunden? Werden nicht ausgezahlt. Ein Preis, den die Mitarbeiter*innen bereit sind zu zahlen, wenn sie in der Woche 15 Stunden weniger als die meisten Arbeitnehmer*innen arbeiten, sagt Rheingans.

5 Stunden hochkonzentrierte Arbeit — und was ist mit dem Arbeitsklima?

Uns interessiert, ob das Zwischenmenschliche nicht zu kurz kommt. Wer fünf Stunden konzentriert durcharbeitet, hat schließlich kaum Zeit für ein privates Pläuschen mit den Kolleg*innen. „Das kommt auf jeden Fall ein bisschen zu kurz beim 5-Stunden-Tag“, gibt Rheingans offen zu.

Einen kurzen Plausch an der Kaffeemaschine und einen Wortwechsel zwischen den Mitarbeiter*innen gebe es trotzdem auch mal. Das Private hält er für „total wesentlich im Job“. Freitags werde immer gemeinsam gekocht und die Mitarbeiter*innen organisieren sich selbst, wenn sie Privates unternehmen wollen. „Manche sitzen hier auch noch manchmal bis 16 Uhr, um zu quatschen und das nachzuholen, was zu kurz gekommen ist.“

Wir wollen mit einem Mitarbeiter*innen reden, um eine andere Sichtweise zu hören — doch aufgrund der EU-Datenschutz-Grundverordnung haben die gerade alle Hände voll zu tun und müssen jede Minute ihrer Zeit sinnvoll nutzen. Nach einer kurzen Diskussion kommt Rheingans zurück in den Konferenzraum. In einer Stunde hätte jemand Zeit, heißt es.

Schön und gut — aber was sagen die Mitarbeiter?

Eine Stunde später sitzen wir in der kleinen Küche am Tisch mit Luca Anzaldo, Web-Developer bei Rheingans Digital Enabler. Luca ist 26 Jahre alt und seit August 2017 in der Firma. Auf die Frage, was er vom 5-Stunden-Tag hält, antwortet er: „Für mich ist es perfekt, weil ich mich gerne fünf Stunden fokussiere und mich mit etwas beschäftige, anstatt ständig Kaffee zu holen und zu quatschen.“

Reibungslos geklappt habe die Umstellung von acht auf fünf Stunden aber nicht. „Es war erst einmal komisch. Wir mussten die Arbeit einfacher und schneller gestalten, das hat am Anfang nicht so recht funktioniert. Mittlerweile klappt es aber und wird immer besser.“ Druck, bis 13 Uhr fertig sein zu müssen, verspürt Luca nicht. Dass Überstunden nicht ausgezahlt werden, stört ihn ebenfalls nicht. „Wenn es nicht klappt, arbeitet man eben etwas länger. Wie schlimm ist es schon, mal bis 14 Uhr zu bleiben?“

Feierabend um 13 Uhr — und was dann?

Das größte Problem, das Luca mit der verkürzten Arbeitszeit hat, hätten wohl viele gerne: „Was macht man nach 13 Uhr? Manchmal ist es ein bisschen langweilig. Dann bleibe ich ein bisschen länger oder versuche, mich mit Sport abzulenken.“ Den freien Nachmittag genieße er natürlich trotzdem, fügt er lachend hinzu. „Ich war damals neun Stunden im Büro, manchmal ein bisschen länger. Da hat man abends keine Lust mehr, sich weiterzubilden. Außerdem habe ich viele Student*innen als Freund*innen, die gerne mal um 16 Uhr etwas unternehmen, und konnte nie dabei sein. Jetzt geht das alles.“

Durch die verkürzte Arbeitszeit habe sich am Arbeitsklima nichts verändert. „Freitags nach der Arbeit essen wir zusammen, quatschen noch, ab und zu gehen wir auch mal was trinken.“

Nach dem Gespräch mit Luca wollen wir nochmal mit Lasse sprechen — der steckt aber in einem Meeting. Zeit hat er erst in ein paar Stunden. Um die Wartezeit zu überbrücken, mischen wir uns unter die Mitarbeiter*innen und arbeiten an anderen Projekten weiter. Im Hintergrund: Eine angenehme Stille, nur das Klappern der Tastaturen. Hin und wieder steht jemand auf, um mit einer*m Kolleg*in etwas zu besprechen — schnell und effektiv.

„Ich halte diese Diskussion für überlebensnotwendig für den Mittelstand“

Rheingans Vision ist größer, als einfach nur die Arbeitszeit zu verkürzen, erklärt er uns, als er einige Stunden später wieder das Büro betritt. Es ginge um ein größeres Problem, mit dem der Mittelstand heute zu kämpfen hat.

„Die einen sagen, sie kriegen keine neuen Fachkräfte, aber alle arbeiten wie in den 50er-Jahren.“ Und wer wie in den 50er-Jahren arbeitet, verpasse die Digitalisierung und vergesse, dass es die*den informierte*n Kund*in gibt, die*der sich im Internet über Produkte umfassend informieren kann — wodurch die*der Berater*in im Geschäft überflüssig wird.

„Man braucht immer weniger Menschen, egal ob im Handel, in der Medizin oder in der Produktion. Aber wenn du Menschen brauchst, müssen diese verdammt gut, kreativ, motiviert, ausgeruht und zufrieden sein. Man braucht immer öfter kognitive Höchstleistung. Und das kann man über acht Stunden gar nicht leisten. Deswegen glaube ich, dass man diesen 8-Stunden-Tag in so einer Wissensgesellschaft heutzutage nicht mehr braucht.“

In Schweden hat es bereits mehrere Experimente gegeben, bei denen der 6-Stunden-Tag eingeführt wurde, darunter auch in einem Altersheim in der Großstadt Göteborg. Nach zwei Jahren wurde festgestellt: Die Mitarbeiter*innen sind gesünder und glücklicher. Trotzdem musste das Projekt beendet werden. Die Begründung: Zu teuer. Weitere Mitarbeiter*innen mussten eingestellt werden, da die Bewohner*innen des Altersheims rund um die Uhr betreut werden müssen. In anderen Branchen, zum Beispiel in einer Toyota-Werkstatt in Göteborg, erwies sich das kürzere Arbeitszeitmodell hingegen als erfolgreich.

Weniger Stress und mehr Zeit für die Familie

Mithilfe des Meinungsforschungsinstituts YouGov führte Viking im Februar 2017 eine repräsentative Studie unter deutschen Berufstätigen durch, um herauszufinden, wie diese einem Arbeitszeitmodell von sechs Stunden am Tag und einem einhergehenden geringeren Verdienst gegenüberstünden. Die Resonanz war überwiegend positiv: Rund 53 Prozent der Studienteilnehmer*innen antworteten, sie würden sich einen kürzeren Arbeitstag wünschen — sogar ohne vollen Lohnausgleich. Die am häufigsten genannten Gründe waren weniger Stress und mehr Zeit für die Familie.

Mit seinem Projekt trifft Rheingans also einen gesellschaftlichen Trend. „Fachkräftemangel, Digitaltransformation, Work-Life-Balance und Kulturwandel — das sind alles Themen, die gerade ultrarelevant sind“, sagt Rheingans. „Und das zeigt auch: Wir haben da etwas gemacht, was durchaus richtig ist.“

„Der 5-Stunden-Tag ist gnadenlos“

Ursprünglich sollte der Versuch in der Werbeagentur im Februar 2018 beendet werden. Jetzt, im Juni, wird immer noch fünf Stunden am Tag gearbeitet. Wie geht es nun bei Rheingans Digital Enabler weiter?

„Ich habe überhaupt keinen Druck, das wieder zu ändern“, antwortet Rheingans. Grund dafür sei nicht nur, dass er Fan des Arbeitsmodells ist — er selbst arbeitet weitaus mehr als fünf Stunden. Nach vier Monaten Versuchszeit habe es aber zu wenig valide Werte gegeben. „Ich habe genug Kritiker*innen gehört und gelesen, und es war mir ein persönliches Anliegen, diesen Kritiker*innen valide Werte entgegenzusetzen“, so Rheingans. Also wird das Projekt auf unbestimmte Zeit fortgesetzt.

Auch jetzt klappt es nicht immer wie am Schnürchen. Und das ist auch richtig so, sagt Rheingans. „Das ist ein konstanter Lernprozess, der auch nie aufhört. In einem 8-Stunden-Tag kannst du Probleme kaschieren und dich drumherum mogeln. In einem 5-Stunden-Tag ist das nicht möglich. Das ist gnadenlos. Es zeigt dir ganz genau, wo es nicht läuft und worum man sich kümmern muss — wie ein Vergrößerungsglas, das auf Missstände hinweist.“

Als wir das Büro um 12.30 Uhr verlassen, wünschen uns die Mitarbeiter*innen einen schönen Nachmittag. Auch wenn sie aufgrund der DSGVO noch eine Weile im Büro sitzen werden, werden auch sie den Nachmittag genießen können.

Bei vollem Lohn drei Stunden weniger am Tag zu arbeiten, mag in den meisten Firmen noch wie ein Märchen klingen. Dass kürzere Arbeitstage immer mehr zum Gesprächsthema werden, macht aber deutlich, dass derzeit ein Umdenken stattfindet. Lasse Rheingans ist ein Beispiel dafür, und es werden sicherlich noch mehr seinem Beispiel folgen.

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