Emilia Roig: „Wir würden alle vom Ende der Ehe profitieren”

Emilia Roig fordert in ihrem neuen Buch „Das Ende der Ehe“ eine Revolution der Liebe. Warum ein Leben ohne die Ehe für uns alle besser sein könnte, erzählt sie im Interview.

In meinem sonst so feministischen Umfeld passiert auf einmal etwas, womit ich nicht gerechnet habe: Es wird geheiratet. Die Gründe: Sicherheit, der nächste Schritt in der Beziehung, Vergünstigung in der Kinderwunschklinik oder es brauchte einen Anlass für ein wirklich großes Fest. Zeitgleich ruft die Autorin und Politologin Emilia Roig das Ende der Ehe aus.

Im Interview sprechen wir darüber, warum wir uns alle mehr mit dem Ursprung der Ehe auseinandersetzen sollten und wie eine Gesellschaft ohne die Ehe aussehen kann.

Emilia, du bist bekennende Feministin – und du hast geheiratet. Warum?

„Ehrlich gesagt habe ich schon damals insgeheim gespürt, dass die Ehe nichts für mich ist, wollte sie aber dennoch vollziehen, weil ich dachte, damit eine wichtige Etappe in meinem Leben und in meiner Beziehung zu erreichen. Hinzu kamen überzeugende Argumente für die Ehe, beispielsweise als es um das Thema künstliche Befruchtung ging: Die ist deutlich günstiger, wenn man verheiratet ist – auch wenn wir sie am Ende doch nicht gebraucht haben.“

Du sagst, die Ehe war dann doch nichts für dich. Woran hast du das festgemacht?

„Ich bin lesbisch, habe aber hetero geheiratet. Das war damals mein größtes Problem, noch bevor ich die Ehe als Institution so stark kritisiert habe wie heute. Klar kann man bisexuell und pansexuell sein und trotzdem in einer hetero Beziehung glücklich werden, aber für mich hat das zu inneren Konflikten geführt: Ich habe das Gewicht der externen sozialen Erwartungen und Normen gespürt, konnte sie aber erst mit der Zeit von meinen intrinsischen Wünschen und Werten trennen.

Meine beste Freundin und Trauzeugin sagte damals: ,Du musst nicht heiraten, du kannst auch alles absagen.’ Aber es waren bereits alle Verwandten eingeladen und ich wollte die Probleme in meiner Beziehung nicht wahrhaben.

Mit der Ehe wurde ich in eine Rolle gedrängt, die nicht zu mir passte: Ich sehe mich als unabhängige Feministin und plötzlich war ich die Frau von … Ich möchte nicht über meinen Beziehungsstatus definiert werden – geschweige denn, dass ein Mann mich besitzt. Vielleicht denken jetzt viele, dass das heutzutage längst anders ist. Aber es ist historisch im Patriarchat verankert, dass der Ehemann die Ehefrau besitzt – und das habe ich deutlich gespürt. Ich wurde anders betrachtet und habe mich selbst anders betrachtet.“

Nun ließe sich behaupten, dass dies deine eigene individuelle Ehe-Erfahrung ist. Wieso plädierst du für das Ende der Ehe für alle?

„Das ist zwar meine persönliche Geschichte, aber sie ist in einem gesellschaftlichen Muster verankert: Wir alle sind eingegliedert in Systeme, in Gesellschaften. Es wäre naiv zu behaupten, dass meine Geschichte völlig einzigartig ist.

Wir passen uns an bestimmte Erzählungen an, an Rollen und damit verbundene Erwartungen. Die Reaktionen auf mein Buch zeigen mir, dass es vielen Frauen so geht wie mir damals. Ich spreche kollektive Gefühle an, die Frauen im Patriarchat oft verdrängen, weil uns beigebracht wird, dass wir Ungerechtigkeit und Ausbeutung erdulden sollten. Uns wird weisgemacht, dass Tolerieren Teil unserer weiblichen Erfahrung ist.

„Nur wenn Frauen anfangen, öffentlich über Erfahrungen in heterosexuellen Ehen und Beziehungen zu sprechen, kann auch hier eine Veränderung eintreten.“

Emilia Roig

Indem wir diese Position normalisieren, stützen wir das Patriarchat. Wir normalisieren die Tatsache, dass Frauen weniger verdienen, wir normalisieren die Tatsache, dass Frauen Angst vor Männern haben, wir normalisieren die Tatsache, dass Frauen finanziell von ihren Ehemännern abhängig sind – wenn wir das umkehren würden, würde das Empörung hervorrufen. Dazu brauchen wir uns bloß die Reaktionen der Maskulinisten anschauen, wenn es darum geht, klarzustellen, dass Frauen auch Menschen sind.

Die #Metoo-Bewegung hat deutlich gezeigt, dass aus privaten Berichten eine kollektive Bewegung entstehen kann. Nur wenn Frauen anfangen, öffentlich über Erfahrungen in heterosexuellen Ehen und Beziehungen zu sprechen, kann auch hier eine Veränderung eintreten.“

Bei jeder Hochzeit, zu der ich eingeladen werde, denke ich: Es ist absurd. Erst wird die halbe Verwandtschaft quasi in die Beziehung eingeladen, um ein riesen Fest zu feiern, und dann bekommt man nichts mehr mit. „And they lived happily ever after”…?

„Was in der Ehe passiert, bleibt in der Ehe. Es gibt diese unausgesprochene Regel, dass das, was in Familien passiert, privat und geheim ist. Sei es Ausbeute, Gewalt oder psychischer Missbrauch: Das, was innerhalb von Familien passiert, bleibt von der Außenwelt verborgen.

Ab dem Moment im Leben einer Frau, da sie einen Mann gefunden hat, an den sie gekoppelt werden kann, hat sie eine vollständige Identität in der patriarchalen Gesellschaft erreicht. Ab diesem Moment ist sie ein vollständiger Mensch. Das war das Ziel, und was danach passiert, ist irrelevant.“

Du schreibst, es sei erwiesen, dass es Männern besser geht, wenn sie verheiratet sind, Frauen hingegen schlechter. Oft scheint es aber so, als ob Frauen auf den Antrag warten – mit welchem schrägen Mindfuck haben wir es hier zu tun?

„Das Patriarchat ist ein System, das von uns allen getragen wird. Sowohl von Männern, als auch von Frauen. Es gibt viele Frauen, die die Existenz des Patriarchats verleugnen oder minimieren oder sie denken, dass sie davon nicht betroffen sind, weil das Patriarchat nicht mehr oder nur noch an entfernten Orten existiert.

Dass heute nach wie vor Frauen heiraten wollen, hat viele Gründe und die meisten basieren auf dem Regime der Heterosexualität.“

„Ab dem Moment im Leben einer Frau, da sie einen Mann gefunden hat, an den sie gekoppelt werden kann, hat sie eine vollständige Identität in der patriarchalen Gesellschaft erreicht. Ab diesem Moment ist sie ein vollständiger Mensch. Das war das Ziel.“

Emilia Roig
„Das Ende der Ehe“, Ullstein, März 2023

Für die meisten ist Heterosexualität eine sexuelle Orientierung. Was genau meinst du mit Regime?

„Heterosexualität ist ein politisches, kulturelles und wirtschaftliches Regime – das ist oft schwer zu akzeptieren, weil viele argumentieren, dass sie sich ihre sexuelle Orientierung nicht aussuchen können. Aber darum geht es mir gar nicht: Es geht darum, dass unsere gesamte Gesellschaft um die Heterosexualität herum organisiert ist. Und dementsprechend ist die Ehe – gleichgeschlechtlich oder nicht – ein wirtschaftliches Modell, in dem die Care-Arbeit von Frauen umsonst übernommen wird. Sie übernimmt eine Arbeit, die sonst vom Staat übernommen werden sollte. Die Ehe ist nicht nur eine rechtliche Institution, sondern auch eine kulturelle und politische Institution, die sich ebenfalls auf nichtverheiratete Paare auswirkt. Die Ehe ist in diesem Sinne ein Hetero- Pärchen-Regime und verfestigt die Heterosexualität als politisches Regime.“

Viele Menschen würden nun vielleicht sagen: Wenn man Kinder zur Welt bringt, dann ist es doch normal, sich um sie zu kümmern…?

„Sich um Kinder zu kümmern ist die natürliche Aufgabe der Erwachsenen, da gehe ich mit. Aber: Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft es so organisiert, dass Frauen vorwiegend diese Rolle übernehmen, in kleinen Kernfamilien, in einem kapitalistischen System, das hat nichts Natürliches an sich.

Ich möchte Frauen, die heiraten (wollen), auf keinen Fall verurteilen. Sie sind dadurch keine schlechten Feministinnen. Vielmehr ist es unser System, das uns in die Ehe leitet. Es braucht Zeit, sich der heterosexuellen Muster in unserer Gesellschaft bewusst zu werden. Und wenn man sie erstmal wahrnimmt, kann man eigentlich nur wütend und frustriert reagieren, weshalb sich sicher auch viele Frauen entscheiden, nicht so genau hinzuschauen.“

„Es braucht Zeit, sich der heterosexuellen Muster in unserer Gesellschaft bewusst zu werden.“

Emilia Roig

Ein Argument vieler Menschen für die Ehe lautet, dass es gut für die Kinder sei, wenn ihre Eltern verheiratet sind. Ich bin selbst Scheidungskind und kann das nicht bestätigen. Du führst in deinem Buch Studien heran, die sogar belegen, dass das Gegenteil der Fall ist.

„Die Konstellation Kernfamilie fungiert in unserer Gesellschaft als Siegel für Ausgeglichenheit, Sicherheit und Glück. Aber das stimmt einfach nicht: Die Kernfamilie ist historisch, aber auch gegenwärtig der Ort, an dem die meiste Gewalt gegenüber Frauen und Kindern geschieht. Das belegen zahlreiche Studien und Statistiken.

Viele Kernfamilien funktionieren als Einheit und reproduzieren das Bild der vermeintlich perfekten Familie, ohne aber wirklich sicherzugehen, ob es den Kindern in dieser Konstellation wirklich gut geht. Der Gedanke: ,Ich bleibe für die Kinder in meiner Ehe’ impliziert darüber hinaus eine Herabsetzung von Alleinerziehenden und anderen Familienkonstellationen, die nicht der Kernfamilie entsprechen. Das ist problematisch, denn ich würde behaupten, dass mein Kind in seiner jetzigen Konstellation viel glücklicher ist als viele Kinder, die in Kern-Hetero-Familien leben. Als ich mich getrennt habe, sprachen mich Familien aus der Kita an, es sei sicherlich schwierig, dass die Familie jetzt nicht mehr „heile” sei. Aber meine Familie ist heile, ich bin eine Familie mit meinem Kind – ich brauche dazu keinen Mann und keine Ehe. Es entspricht der patriarchalen Norm aber nicht. Als alleinerziehende queere Person werde ich als Projektionsfläche für Menschen genutzt, die sich in ihrer Norm versichern wollen, die sich darin bestätigen wollen, das ,richtige’ Leben zu leben.“

„Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der die menschlichen Bindungen von der Fortpflanzung und von der romantischen Liebe entkoppelt werden.“

Emilia Roig

Du sagst: Das Ende der Ehe ist nicht das Ende der Liebe, im Gegenteil. Wie würde eine Welt aussehen, in der es keine Ehe gibt?

„Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der die menschlichen Bindungen von der Fortpflanzung und von der romantischen Liebe entkoppelt werden. Die romantische Liebe ist eine sehr schöne Sache, keine Frage. Aber sie muss unser soziales und wirtschaftliches Leben nicht bestimmen. Viele meinen, dass die Ehe eine Besiegelung ihrer Liebe ist. Aber in erster Linie war die Ehe seit jeher dazu da, die Fortpflanzung und die Körper von Frauen zu kontrollieren.

Wenn wir die menschlichen Bindungen von dieser Institution entkoppeln, haben wir viel mehr Raum und Freiheit, um unsere Gesellschaft so zu organisieren, dass die Care-Arbeit von uns allen geleistet und nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden wird. Wir würden alle vom Ende der Ehe profitieren, denn es bedeutet gleichzeitig auch ein Infragestellen der kapitalistischen Wirtschaft oder sogar eine Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaft und die Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung.

Das Schöne daran ist: Wenn etwas abgeschafft wird, weil ein System nicht mehr funktioniert, wissen wir nicht, wodurch es ersetzt wird. Diese Ungewissheit müssen wir aushalten, aber wir können darauf vertrauen, dass wir die Ressourcen in uns haben, um neue Systeme entstehen zu lassen, die nicht in Unterdrückung verwurzelt sind.“

Vielen Dank für das wegweisende Gespräch.

Emilia Roig auf dem FEMALE FUTURE FORCE DAY am 21. Oktober 2023

Emilia Roig wird zusammen mit Josephine Apraku, Stefanie Knaab und Madita Oeming am 21. Oktober 2023 auf dem FEMALE FUTURE FORCE DAY in der Arena Berlin zu Gast sein, im Rahmen des Panels „Of Love and Politics. Warum Liebe, Dating und Beziehungen politisch sind“.

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