Wir reden über Work-Life-Balance und Arbeit 4.0 und kommen in der Praxis kein Stück weiter. Warum das so ist und was es braucht, damit wir endlich besser leben können.
Lebst du schon?
Wir sollten mal eine Grundsatzdiskussion führen. Über Arbeit. Und über Nicht-Arbeit. Letzteres heißt ja gerne mal „Life“ und wird häufig im Zusammenhang mit Balance diskutiert. Findige Geister sprechen inzwischen gar von der „Work-Life-Integration“. Doch egal, ob Balance oder Integration: Etwas läuft ziemlich schief.
Die ganze „New Work“-Debatte droht mittlerweile zur Lachnummer zu werden. Denn viel mehr als eine Worthülse ist bisher nicht daraus geworden. Auch Versionsnummern scheinen nicht weiterzuhelfen: „Arbeit 4.0“ ist jedenfalls noch nicht so recht angekommen in der so genannten Mitte unserer Gesellschaft – der Begriff bleibt Theorie, während viele weiterhin unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind.
Aber wer ist schuld daran? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass wir Arbeit noch immer anhand zum Teil Jahrhunderte alter Kriterien beurteilen? Wieso ist noch nicht mehr passiert?
Sind es ausbeuterische Unternehmen, unwürdige Arbeitsbedingungen, Nichtvereinbarkeit oder ähnliche Missstände? Ja, auch. Ganz bestimmt sogar. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, dann müssen wir anfangen zuzugeben: Wir tragen selbst einen nicht unerheblichen Teil an Verantwortung. Denn wir sind träge, inkonsequent und ängstlich. Und das spiegelt sich in vielen Aspekten wider.
– Wir beschweren uns seit Jahren über unsere Arbeitgeber, die keine Führungsqualität bieten, die uns das Berufsleben zur Hölle und unser Privatleben zum Eiertanz werden lassen.
– Wir jammern tagein, tagaus über das Gehetze, das unseren Alltag erodiert, das uns von A nach B hasten und keine Zeit zum Innehalten lässt.
– Wir meckern pausenlos über das liebe Geld, das uns nicht ruhen lässt, das Monat um Monat für Rastlosigkeit und Dauerstress sorgt.
– Wir hadern stets mit der Vielzahl an Anforderungen, die uns bestimmen, die keine Entspannung möglich und uns Schritt für Schritt mürbe machen.
– Wir huldigen dem Prinzip „Lean in“, wir kaufen Ratgeber für erfolgreiche Karrieren, wir lassen uns coachen und liften und optimieren, und landen am Ende doch im Hamsterrad fauler Kompromisse und Erschöpfungszustände, gegen die ein wenig Yoga garantiert nicht helfen kann.
Wir müssen etwas verändern wollen
Aber das Schlimmste ist: Wir lassen all das mit uns machen. Warum nur?
Weil wir träge sind. Wir wählen lieber den bekannten Schrecken als den Aufbruch zu Neuem. Das mag evolutionär erklärbar sein, besser oder richtiger wird es dadurch nicht.
Weil wir feige sind. Wir reißen die Klappe im Freundes- und Familienkreis auf, geben jedoch klein bei, sobald es darum geht, vor Vorgesetzten vehement für unsere Belange einzustehen.
Weil wir unreflektiert sind. Wir leben die Leben unserer Eltern, weil es einfacher ist Bekanntes nachzuahmen, statt neues Terrain zu erkunden.
Ich war sicherlich auch schon feige, träge oder unreflektiert. Aber ich gebe mich nicht damit zufrieden. Ich hadere regelmäßig mit mir und bestimmten Umständen. Aber ich mache das nicht ausschließlich mit mir selbst im Stillen aus. Statt dessen hinterfrage ich meine Reaktion und mein Verhalten in bestimmten Situationen und rede darüber. Ich checke meine Haltung und überprüfe, ob und wie ich sie in Aktion umsetze. Manchmal laufe ich dabei gegen Wände. Doch grundsätzlich versuche ich stets in eine mehr oder weniger sachliche Opposition zu den Umständen zu gehen, die ich als nicht akzeptabel identifiziere – für mich und auch für andere.
Es ist daher an der Zeit eine klare Haltung zu entwickeln und sich in bestimmten Bereichen zu emanzipieren. Die Argumente sind dabei auf unserer Seite.
Wir sind keine Bittsteller, sondern wertvolle Arbeitskräfte, die sich für die Belange ihrer Unternehmen mit ganzer Energie einsetzen.
Wir widmen einen großen Teil unserer Lebenszeit dem Arbeiten und stellen unsere eigenen Ansprüche hinten an.
Wir sind kreativ, tragen mit Leidenschaft und Engagement Entscheidungen mit und setzen uns für das Vorankommen unserer Arbeitgeber ein.
Warum verhandeln wir dann nicht auf Augenhöhe?
Wer, wenn nicht wir?
In den vielen, vielen Debatten über Vereinbarkeit und Balance des beruflichen und privaten Lebens stelle ich immer wieder fest, dass viele, insbesondere Frauen, die Argumentation ihrer Arbeitgeber quasi in vorauseilendem Gehorsam übernehmen. Man müsse ja auch das Unternehmen verstehen, es sei schließlich nicht so leicht eine junge Mutter/einen jungen Vater zu ersetzen, die Kolleg_innen würden ja dadurch belastet, etc. etc.
Und dann frage ich mich, wie sich denn jemals etwas ändern soll, wenn selbst viele der Betroffenen nicht Willens sind für ihre Belange einzustehen. Als Gegenargument höre ich dann, dass das ja alles nicht so einfach sei, dass man schließlich Verpflichtungen (gerne Hypothek oder Kinder) habe, dass nicht jeder Mensch sich so leicht mit sowas tue, etc. etc.
Mich frustriert das: diese Trägheit, dieses nur bis zum eigenen Tellerrand blicken, diese vielen faulen Kompromisse, dieser Selbstbetrug. Veränderung funktioniert nicht ohne eigenes Zutun. Engagement für die Sache ist nicht immer nur mit angenehmen Dingen verbunden. Doch an dieser Stelle müssen wir unsere Komfortzonen verlassen. Das sind wir uns selbst, unseren Familien und den nachfolgenden Generationen schuldig.
Was passiert, wenn du deinen Bedürfnissen folgst?
Fragen wir doch einmal umgekehrt: Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte, wenn wir uns in bestimmten Situationen nicht fügen, wenn wir nicht klein beigeben, wenn wir uns nicht verstecken? Diese theoretischen Worst-Case-Szenarien machen in den allermeisten Fällen Mut, da die in der Regel gar nicht so schlimm sind, wie wir ursprünglich dachten.
Es lohnt sich immer für die eigenen Belange und diejenigen anderer Benachteiligter einzutreten. Erst, wenn wir selbst bereit sind gegen Widerstände oder Übervorteilungen anzutreten, erst dann erwerben wir auch das Recht uns über Missstände zu beklagen. Schließlich müssen alle Beteiligten ihren Teil beisteuern um größere Veränderungen zu ermöglichen.
Ich wünsche mir daher mehr Streitbarkeit in der Sache, mehr Blick über den eigenen Horizont hinaus und mehr Reflexion über die eigene Rolle und Haltung. Und ich wünsche mir konstruktive Opposition, auch im Angesicht etwaiger persönlicher Nachteile. Sonst kann sich nichts verändern, und unsere Kinder werden sich fragen, warum auch sie immer noch den traurigen Begriff der Work-Life-Balance diskutieren. Soll das ihre Zukunft sein?
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