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Freue dich, wenn du naiv bist

„Das ist doch naiv“ – das wohl einfachste Totschlagargument, um andere zum Schweigen zu bringen. Und Schwups hat dein Gegenüber dich mit Leichtigkeit in Beschämung gebracht. Dabei ist ein Anflug von Naivität nicht gleich „kindlich, einfältig und dümmlich“, sondern kann manchmal sogar etwas Positives sein …

 

Naiv zu sein hatte nämlich früher eine ganz andere Bedeutung. In der Literaturkritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand Naivität für das Natürliche, das Ungezwungene, das Ungekünstelte. Ein Verhalten, das meines Erachtens gerne wieder Einzug in die heutige Zeit halten darf, vielleicht sogar muss. Und zwar genau in diesem Verständnis.

Komplexität oder doch lieber Handeln?

Denn wir Menschen machen uns die Welt heute so komplex, dass wir immer weniger ins Handeln kommen. Wir schaffen es tatsächlich, die Welt und das Leben in eine tornadoartige Komplexität zu verwandeln. Das fängt beim Denken an und hört beim Nicht-Handeln auf. Denn beim Denken drehen wir uns oft im Kreis – und das ist noch feinfühlig formuliert. Wir gehen von der Analyse in eine tiefergehende Analyse – und enden schließlich in der Paralyse. Weil jeder einzelne sich nur noch fragt: „Worüber reden wir hier eigentlich?“

Du kennst das sicher aus deinem Umfeld: Kollegen besprechen Sachverhalte so kompliziert und wirr, dass am Ende niemand mehr weiß, was gemeint ist. Oder Freunde verzieren ihre vielleicht gutgemeinte Kritik sprachlich so ornamental und sind so darauf bedacht, sie „politisch korrekt“ zu formulieren, dass am Ende wieder die gleiche Frage steht: „Wovon reden wir hier eigentlich?!“ Am Ende spart uns die zunehmende Komplexität dann das Handeln.

Sinnlose Teilnehmer

Wir werden im Leben Teilnehmer sinnloser Podiumsdiskussionen. Da kann ich nur sagen: Ach, was wünsche ich mir einen Hauch von entstehender Naivität! Denn eben diese Naivität kann uns zurückführen ins Lernen und Handeln.

Würden deine Kollegen beispielsweise Naivität nicht sofort als negativ abtun, kämen ganz andere Fragen und Themen auf den Tisch: Wie viele Meetings führt ihr, ohne Entscheidungen zu treffen oder ohne dass zielgerichtete Handlungen daraus entstehen? Wofür machen wir das Ganze überhaupt? Was soll am Ende besser werden? Worüber reden wir hier eigentlich konkret?

Ein schönes Kompliment

All das sind Fragen, die scheinbar von Naivität zeugen. Doch sie sind genau die richtigen Fragen! Deshalb bin ich überzeugt, dass ein wenig Naivität im positiven Sinne endlich wieder ein zielgerichtetes Handeln in deinem Team ermöglichen würde – oder zumindest überhaupt mal ein Handeln. Der Vorwurf der Naivität ist also im Prinzip ein großes Kompliment.

Denn sie hilft dir, aus dem handlungsunfähigen Kreislauf der Komplexität auszubrechen und die Frage zu stellen: „Ergibt es Sinn, dass das Einfache und Natürliche vor dem Komplizierten steht?“ Dabei wünsche ich dir viel (naiven) Erfolg!

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