Foto: Unsplash | Ben Weber

Bitte nicht entfolgen! Warum ich Menschen auf Social Media viel zu ernst nehme

Ich hasse soziale Netzwerke. Ich liebe soziale Netzwerke. Ich hassliebe sie. Was Twitter, Instagram und Co. mit uns machen und ob es so schlimm ist, dass dort nicht alles echt ist.

I hate you but I love you

Ohne soziale Netzwerke hätte ich viele tolle Menschen nie kennengelernt, ich hätte eine Menge Spaß verpasst, diverse Freundschaften nie geschlossen und ich hätte wahrscheinlich nie ein Buch geschrieben. Dafür bin ich dankbar. Total sogar. Das macht Twitter, Instagram und Co. zu meinen best friends forever and ever. Aber leider kracht es ja besonders da häufig am schmerzhaftesten, wo die Liebe am größten ist. Und es kracht im Moment. In mir. Ich bin nämlich wütend auf meine best friends und vor allem auf mich. Warum, fragt ihr jetzt? Tja, wie erkläre ich das jetzt am besten? Soziale Netzwerke machen etwas mit mir. Sie gehen mir nah. Das ist klasse, wenn es um mitfreuen und mitlachen geht. Aber echt ätzend im Falle von Neid, Pöbelei, Streit und Wut.

Wobei das Problem eigentlich gar nicht die anderen sind. Es geht um mich. Und um meine Gefühle. Über die rege ich mich nämlich furchtbar auf. Die möchte ich auch nicht „annehmen, weil sie doch ein Teil von Dir sind“. Die sollen weg! Ich will nicht traurig sein, weil mir jemand auf Twitter oder Instagram entfolgt ist oder nicht zurück folgt. Das ist völlig albern. Leider fühle ich trotzdem so. Ich fühle mich abgelehnt, frage mich, was ich falsch gemacht habe und suche nach eigenen Fehlern. Das findet ihr lächerlich? Schließlich ist es ja nur Instagram, nur Twitter? JAAAA! Sag ich doch. Ich finde das auch lächerlich. Aber ich kann nicht aus meiner Haut.

Warum treffen mich diese Kommentare so?

Genauso treffen mich Kommentare wie „deine Texte sind völlig banal und unlustig“, „jeder Viertklässler schreibt besser, als Du“, „Du sahst auch schonmal besser aus“ oder „als Mutter bist du ein Totalschaden“. Wenn Derartiges mein Mann oder meine Kinder sagen würden, ja, ich finde dann dürfte ich mich zurecht innerlich von der Klippe schmeißen, aber solche Kommentare kommen von mir völlig fremden Internetsonderlingen. Es sollte mir absolut egal sein, ob ein 58jähriger frühpensionierter Baggerfahrer findet, dass ich eine schlechte Mutter sei oder meine Haare strähnig sind. Würde sich im Bus ein Fremder neben mich setzen und mir unaufgefordert seine Meinung zu meiner Frisur mitteilen, dann würde ich mich doch auch einfach wegsetzten. Vielleicht würde ich noch die Polizei rufen, weil, wer meine Haare nicht mag, kann ja wohl nicht auf die Allgemeinheit losgelassen werden. Was ich aber nicht tun würde, ist mich tatsächlich emotional betroffen zu fühlen. Mich zu hinterfragen. Traurig zu sein. Warum verhalte ich mich dann also in der virtuellen Welt so?

Ein weiteres Gefühl, dass insbesondere Instagram bei mir auslöst ist Neid. Ach, und Habgier. Habgier auch. Freunde, das sind Todsünden! Dafür komme ich in die Hölle. Oder ich werde wie in dem Film „Sieben“ von einem irren Psycho abgemurkst. Ich muss also schleunigst damit aufhören. Ich habe schließlich Kinder. Die sollen keine abgemurkste Höllenmutter haben. Todsünden und Mutterschaft vertragen sich echt schlecht. Aber es ist so schwer, nicht neidisch zu sein. Alle sind wunderschön, klug, lustig, erfolgreich. Instagram-Menschen führen ein Leben auf der Überholspur: Tolle Urlaube, fantastische Wohnungen, angesagte Klamotten. Und jedes Mal will ich alles sein und alles haben, was ich sehe. Ich ergoogele mir die Blumenvase, die bei Bloggerin X hinten links im Bücherregal steht, ich kaufe das angepriesene super Shampoo innerhalb von Sekunden nach und habe mittlerweile sogar so eine Kette, an der ich mein Handy um den Hals trage, weswegen mich meine Freund*innen auslachen. Die Hundewelpen meines liebsten Puppies-Instagram-Accounts will ich nicht nur alle besitzen und mich wie in ein Bällebad in sie hineinlegen, nein, ich will auch ihr glänzendes Fell und ihre strahlenden Augen haben. Ich bin das perfekte Opfer. Es verwundert, dass Marketingagenturen noch keine goldenen Statuen von mir gefertigt haben.

Ich will ich alles sein und alles haben

Das Schlimme an der ganzen Sache ist aber, dass ich es besser wissen müsste. Ich durchschaue das Spiel doch. Ja, ich spiele es doch teilweise selbst mit. Auch ich werde gefragt, wo ich denn das tolle Kleid oder die hippe Handykette (Leute, die ist so albern) herhabe. Ich löse offenbar auch durch diese Todsünden Gefühle aus. Dabei, liebe Partner in Todsündencrime, ist das nicht die Realität. Natürlich zeige ich mich nicht in meinem löchrigen Schlafanzug, ungeschminkt und mit Pickeln. Ja, und vielleicht (tue ich!) ziehe ich auf Selfies auch meinen schwangerschaftsbedingt ausgeleierten Bauch ein. Sie werden keine Videos von mir sehen, wie ich Rotz und Wasser heule, weil die Kinder mich zur Weißglut bringen und die Wäscheberge mich erschlagen. Und natürlich sind meine Tweets auf Twitter meist lustig. Aber doch nur, weil Humor mein einziges Talent ist. Ich habe sonst keine tollen Fähigkeiten, mit der ich die Welt beeindrucken könnte. Ich helfe nicht einmal Kröten über die Straße oder bin anderweitig wahnsinnig wohltätig, engagiert oder weltrettend. Aber nur, weil ich lustige Tweets schreibe, ist mein Leben keine Komödie. Fragt mal meinen Mann. Der erlebt mich selten lustig. Ich zeige euch eben auch nur die halbe Wahrheit. Vielleicht sogar nur ein Viertel. Wenn überhaupt.

Und genau da liegt der Punkt meines Ärgers: Es besser wissen, aber trotzdem mit ausgebreiteten Armen ins Todsündenfegefeuer rennen. Bin ich echt so bescheuert? Wo bitte ist meine Impulskontrolle? Gebe ich die an der imaginären Interneteintrittspforte ab? Ernsthaft, ich benehme mich in der virtuellen Welt wie eine Zwölfjährige auf einer Oberstufenparty. Und damit muss jetzt echt mal Schluss sein. Ich könnte jetzt einen Aufruf starten für mehr Wahrheit in sozialen Netzwerken. Ich könnte meine Accounts mit Bildern von mir sonntagmorgens um halb sechs mit Hass und Falten im Gesicht fluten und nur noch Tweets à la „Ich räume jetzt die Spülmaschine aus“ schreiben. Aber sind wir doch mal ehrlich, das will kein Mensch. Dafür haben wir ja schon das Real Life. Für das Gewöhnliche, das Banale, den Alltag. Soziale Netzwerke sollen Spaß machen. Sie sollen glitzern und glänzen. Wir wollen diese Illusion. Ich will diese Illusion. Und genau das muss ich mir wieder bewusster machen: What I see ist eben nicht what I get. Ich sehe, was man mir zeigen will und wenn es mir zu nahe geht drücke ich zukünftig einfach das Aus-Knöpfchen.

Wie Marlene das nun umsetzt? Folgt ihr hier bei Twitter @MarleneHellene oder Instagram @marlenehellene.

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