Foto: Lydia Krüger

Heidiland ist abgebrannt

Kennst Du diese Leute, die partout in ihrer perfekten Welt leben wollen? Und ausrasten, wenn man ihnen zeigt, dass nicht alles so ist, wie sie es gern hätten? Ich nenne diese heile Welt Heidiland. Und ich kann sogar verstehen, dass man danach sucht…

 

Maykäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrandt.
– Niedersächsisches Wiegenlied (1800) mit vielen Variationen –

Gelegentlich treffe ich auf Leute, die in Heidiland leben. Da, wo es sauber und
schnieke ist, alle tierisch gut drauf sind und einander den ganzen Tag
Honig ums Mäulchen schmieren.

Nun bin ich nicht gerade ein Ghettokid – aber sagen wir’s mal so: Als Diplomatenkid im Ghetto von Prenzlberg war’s auch kein Zuckerschlecken. Jedenfalls ist mir Heidiland ziemlich fremd.

Berlin, vielleicht liegt’s tatsächlich an Berlin. Berlin nimmt Dir sofort jede Illusion. Berlin is so real, wie die Touristen sagen. Es lässt keine Schönheit aufkommen. Sobald Du was Schönes entdeckst, z.B. eine Jugendstilvilla, steht direkt daneben ein Neubauklotz aus den 70ern mit qietschgelben Fenstern. Oder ein Papierkorb, aus dem der Müll auf den Bürgersteig quillt. Oder du trittst
in einen Hundehaufen. Und wenn nichts davon passiert, biegt im nächsten
Moment ein stinkender, fluchender Penner um die Ecke…

Gestern bin ich spontan auf den Glockenturm der Zionskirche gekraxelt, durch
einen ziemlich schmalen Wendelgang. Ich war schon ein paar Mal in der
Kirche drin, aber noch nie oben. Premiere also. Und wow! Ein fantastischer Blick über Berlin, blauer Himmel, weiße Wölkchen, Fernsehturm, Wasserturm, Potsdamer Platz. Man konnte alles wunderbar erkennen. Was für eine Überraschung!

Zionskirchplatz
Die Freude währt nicht lang in Berlin. (Foto: Lydia Krüger)

Beseelt stieg ich die verdammt enge Treppe im Turm wieder hinab. Und wurde von einem entgegenkommenden “Gentleman” angepöbelt, der fand, ich hätte ihm Platz machen müssen. (Wie denn??) Laune im Keller. Dit is Berlin. Holt
Dich immer sofort auf den Boden, wenn Du abheben willst.

Berlin muss echt mal an seiner Fehlerkultur arbeiten, Mann. Egal, was Du falsch
machst: Kriegst garantiert einen Spruch reingedrückt. Jedes. Verdammte.
Mal. Du hast trotz Warnschild die Kinderumkleidekabine bei H&M benutzt? Gibt nen Spruch von der Mütterpolizei. (Zu Recht, aber trotzdem.) Im Weg rumstehen? Zu schnell, zu langsam, zu laut, zu leise? Auf dem Radweg? Nicht auf dem Radweg? Die Zurechtweisung ist Dir so sicher wie das Amen in der Zionskirche.

Manchmal denke ich, wie gut es mir vielleicht getan hätte, zwischen Kühen auf der Alm aufzuwachsen und den ganzen Tag zu lesen und Gänseblümchen zu pflücken. Das hätte mir so eine stabile Heidiland-Basis gegeben. Wahrscheinlich
würde ich jetzt in Blümchenkleid und Strohhut, mit einem Weidenkörbchen
am Handgelenk auf meinem Hollandrad zum Bio-Wochenmarkt radeln. Und
überall nur glückliche Prenzlberger Familien sehen – und nicht depressive Muttis, Puffgänger** und verwöhnte Gören.

Also ja, ich kann es verstehen, wenn man eine heile Welt sucht – gerade in dieser Stadt. Ich bin ja auch in den Prenzlberg (zurück)gezogen, meinen
sogenannten Heimatbezirk, weil ich meine Ruhe haben wollte: Es ist
sauber, gesittet, wohlhabend und  – ähem – deutsch. Von ein paar
Spaniern, Franzosen und Italienern abgesehen.

Für die Nicht-Berliner: Prenzlberg ist, wo Ansgar, Lovis und Amélie dreisprachig
aufwachsen (bilingual ist so 90er) und in ihren Wellensteyn-Jacken schon die halbe Welt umsegelt haben. Jedesmal, wenn ich mein “geschütztes Wohnen” hier verlasse und z. B. ins laute, dreckige Kreuzberg fahre, bin ich schnell genervt und will zurück. Gleichzeitig weiß ich: Dort ist es reeller, echter. Es gibt nun mal verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Und sei es, auf der Straße zu leben und sich zuzudröhnen.

Auch Reisen können Fluchten in eine heile Welt sein – davon kann ich ein Liedchen singen. Eine Zeit lang, als es mir nicht so gut ging, war ich geradezu reisesüchtig. Also, noch mehr als sonst. 😉 Quasi auf der Suche nach Heidiland. In Myanmar* (das ganze Land ist eine einzige Westküste) habe ich Sonnenuntergänge ohne Ende gesehen. Jeden Abend einen Sonnenuntergang – bis ich gar nicht mehr hinschaute, so wie die Einheimischen.

Trotzdem hab ich auch die Armut gesehen. Die Auswirkungen der Sanktionen. (Es gab kaum westliche Produkte, dafür getrockneten Fisch in allen Varianten.) Und ich sah die Plastiktüten. Wohin man schaute: Müllberge mit Plastiktüten,
 dazwischen Kühe und Hühner, die nach Futter suchen. Ich kann das nicht
ausblenden. Ich hab das sogar fotografiert.

Oder Kuba, meine erste (und letzte) All-inclusive-Reise. Im Hotel gab’s pervers viel Essen, ein riesiges, auf Tische über den ganzen Speisesaal verteiltes Büffet. Alle Fleischsorten, Reis, Nudeln, Kartoffeln, Fisch, ein Grill, Gemüse, Früchte, Egg Station, allerlei Törtchen, Eis und Cremes zum Dessert.

Das alles schmeckte zwar nach nichts, weil es zu dem Zeitpunkt weder Salz noch Pfeffer auf Kuba gab, aber nach ein paar Tagen gewöhnte man sich dran. All inclusive ist ja ein bisschen wie Altersheim: Man fiebert den ganzen Tag den
Mahlzeiten entgegen. So als Höhepunkt, da ja sonst nicht viel los ist.

Jedenfalls Berge von Essen und eine Menge übergewichtiger Touristen, die wohl
hauptsächlich zum Essen dorthingekommen waren. Nach Kuba, land of the Mangelwirtschaft, of all places. Alle paar Meter stand ein Hotelangestellter, um uns zu bedienen.

Und um das Büffet alle fünf Minuten nachzufüllen. Es war so überbordend,
dass nach jeder Mahlzeit eine Menge übrigbleiben musste. In einem Anflug von Heidilanditis ging ich fest davon aus, dass die Angestellten die Reste essen durften. Bis ich Zweifel bekam und jemanden an der Rezeption fragte. “Oh nein”, lautete die Antwort. “Wir Angestellte kriegen jeden Tag Reis und Bohnen. Ab und zu mal ein bisschen Hühnchen.”

Die werfen das alles weg!

Von da an schmeckte mir nichts mehr – und das lag nicht an den fehlenden
Gewürzen. Klar, man kann sowas zwischendurch ausblenden. Muss man ja
auch irgendwie, um das Leben zu genießen. Und um nicht verrückt zu
werden.

Aber sich immer und überall etwas vorzumachen – das kann ich nicht nachvollziehen. “Ich liebe Havanna, alles so schön verfallen hier. Und die tanzen so toll, die Kubaner.” Ja, da tanzen sie, mit ihren leeren Augen und Mägen. Was sollen sie auch sonst machen? In ihren bröckelnden Wohnungen sitzen? Wahrscheinlich hoffen sie auf ein paar Devisen von Dir, Tourist, um sich einen Import-Apfel auf dem Schwarzmarkt zu kaufen.”

Ich weiß schon: Man kann sich sein Leben gründlich verderben, wenn man alles immer nur schwarz sieht. Aber die Wahrheitssuche sitzt bei mir im Hinterkopf und läuft immer mit.

Alles immer nur weiß sehen – ich weiß nicht, das erscheint mir irgendwie noch
schlimmer. Und so langweilig. Verbannt ins Heidiland, auweia. Dann doch
lieber Penner, Pöbler und Pissegestank. Wenigstens real. “I’m a lover of reality”, sagt Byron Katie.

Ab und zu treffe ich auf leidenschaftliche Heidiland-Verfechter, die sich ihre Illusion einer heilen Welt auf gar keinen Fall nehmen lassen wollen. Die werden richtig aggressiv, wenn jemand sie darauf hinweist, dass nicht alles so eiapopeia ist, wie sie meinen. Oder wie sie die Welt gern hätten. Und nur weil man den Finger in die Wunde legt, ist man dann die Böse. “Hang the messenger”, sozusagen.

Im Unternehmen läuft’s genauso: Leg den Finger in die Wunde, sprich Tabus an und stelle kritische Fragen, wenn Du Dich in der Chefetage unbeliebt machen und Dir Deine Karriere verbauen willst. Trotzdem: Wenn man etwas zum
Besseren verändern möchte, ist doch der erste Schritt, es zu benennen.

Ich kenne Menschen, die psychische Grausamkeit auf der Arbeit erleben –
jeden Tag. Es gibt auch einfach bekloppte Phänomene in unserem Berufsleben und vieles, das überflüssig ist und sich längst überlebt hat. Auch deshalb schreibe ich mein Blog, um für mehr Bewusstsein zu sorgen. Damit niemand auf die Idee kommt, das wäre normal und OK so.

Wahrscheinlich kann ich einfach nicht anders. Ich hab dieses Auge, das immer die Sachen sieht, die viele andere nicht sehen. Und dann muss ich es aussprechen. Vielleicht könnte ich mir das fürstlich bezahlen lassen.
Also: Möchte jemand die schonungslose Wahrheit um die Ohren gehauen
bekommen? Nur zu. (Vorkasse, übrigens.) 😛

Auch wenn’s manchmal weh tut: Der Dreck unterm Teppich, die andere Seite der Medaille, the dark side of the moon gehören zum Leben dazu. Und die Welt ist vollständiger, runder, wenn all das seinen Platz hat und sein darf. Auch
die Armut und der Müll. Wenn man alles Negative auf der Welt separiert, verdrängt und unterdrückt, wird es nur noch schlimmer.

“Heidiland ist abgebrannt?” Nein, Heidiland gab es nie.

Dieser Post erschien zuerst auf Lydias Blog Büronymus – die menschliche Seite der Arbeit.

*Myanmar wird entgegen der offiziellen Landesbezeichnung in den meisten westlichen Medien beharrlich “Burma” genannt. Dabei gibt es
einen ehrenwerten Hintergrund, warum die Burmesen ihr Land umbenannt haben: Es wird von 135 verschiedenen Ethnien bewohnt und “Burma” leitet sich von der Bezeichnung des Hauptvolkes der Birmanen (Bamar, 60% Bevölkerungsanteil) ab. Aus Respekt vor den anderen Volksgruppen und als Zeichen, dass die Kolonialzeit überwunden ist, benannte sich das
Land 1989 in Myanmar (“fest zusammenhaltend, stark”) um.
** Für irgendwas müssen doch die Puffs und Swingerclubs im Prenzlauer Berg gut sein, oder? (Und Heidi so: “Wie, es gibt Swingerclubs? Bei uns?!”)
Titelfoto: Lydia Krüger

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