Ein Hakenkreuz in einer Bibel: ein herzliches Willkommen der neuen deutschen Austauschschülerin in Texas! Alarm… wo war ich da gelandet? Was hatte ich gemacht, dass mir an meinem ersten Sonntag in der Kirche, die meine Gasteltern besuchten, dieses erschütternde Symbol in eine Bibel gekritzelt von Gleichaltrigen entgegen gestreckt wurde. Ich war DEUTSCHE, ganz einfach. Die schöne einfache Welt der Klischees. Bedauernswert, denn wenn man sich mal die Mühe macht und Vorurteile wegschiebt, lernt man Menschen und ihre Geschichte kennen. Das ist auch der Grund, warum ich mich im Arbeitskreis für Flüchtlinge engagiere. Die Lebensgeschichte eines jeden Einzelnen ist erzählens- und hörenswert. Die letzten zwei Monate haben mein Leben ungemein bereichert und davon möchte ich berichten.
Alles fing genau vor einem Jahr an. Die große Flüchtlingswelle rollte über
Deutschland. Ich arbeitete zu der Zeit in Dänemark. Meine Mutter entschied sich für den Weg nach vorne, Engagement zeigen und die syrischen Jungs kennenlernen, die im Nachbarort untergebracht worden waren. So kam es, dass ich bei meinem weihnachtlichen Heimatbesuch die ersten Berührungspunkte mit ihnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ihr deutsch noch sehr rudimentär. Hier war Kreativität oder besser die Fähigkeit sich zum Affen machen zu können gefragt. Wie erklärt man den Weihnachtsmann? Und wie bitte schön die Inhaltsstoffe eines Glühweins? Eins war sicher, es wurde viel gelacht.
So stand es dann auch außer Frage, dass ich mich nach meiner Rückkehr nach
Deutschland, ebenfalls im Arbeitskreis engagieren wollte. Zurzeit zählen noch acht junge Männer und ein älterer Herr zu der Gruppe, die von fünf Ehrenamtlichen unterstützt wird. Eine Frage, die mir häufig von Freunden und Bekannten gestellt wird ist, was macht ihr da eigentlich? Können die das nicht allein? Wer selbst schon mal den Gang zum Arbeitsamt hinter sich gebracht hat, weiß welcher Papierdschungel auf einen wartet. Selbst als Muttersprachler und mit einer guten Bildung bräuchte es hier zuweilen fast ein Jurastudium, um dieses Paragraphendeutsch zu verstehen. Genau diese Briefe, weitere Behördengänge und alltägliche Sorgen sind Thema in den wöchentlichen Treffen am Mittwochabend. Freundlich wird uns jedes Mal die Tür geöffnet und hier stehen sie alle bereit. Höflich werden Hände geschüttelt und trotz der bescheidenen Lebensverhältnisse bekommen wir immer etwas zu trinken und meistens sogar noch selbst gebackenes Süßes angeboten. Diese unverschämt gut schmeckenden Kalorienbomben brechen jeden eisernen Willen nach gesunder Ernährung. Aber bevor ich weiter von meinen Erfahrungen berichte, ein kurzer Überblick, um wen es hier eigentlich geht.
Wer, wie, wo, was, warum?
Die acht jungen Männer sind: Abdulnasser, George, Khalil, Maen, Michael, Milad,
Mohammad, und Morti. Der etwas ältere Herr ist Mohammad Achmad. Der jüngste Schützling ist 19, der älteste unter den Jüngeren ist 28. Vom orthodoxen
Christen, Katholiken bis hin zum Moslem sind alle Glaubensrichtungen vertreten. Ihre Heimat liegt rund um/in Aleppo. Der Grund für die Flucht: keiner wollte zum Kampf von irgendeiner Kriegspartei gezwungen werden. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, um damit andere Menschen zu töten, stand außer Frage. Um die kostspielige Flucht zu finanzieren wurden Ersparnisse aufgelöst oder Familienbesitz verkauft. Und dann kam der Tag des Abschieds auf ungewisse Zeit. Die Geschichten eines jeden Einzelnen berühren mich jedes Mal aufs Neue. Wie muss es sich anfühlen mit Anfang 20, in einem Schlauchboot mit Motor auf dem Mittelmeer zu schippern und nicht schwimmen zu können? Dann kommt auch noch die griechische Polizei, montiert den Motor ab und überlässt das Schlauchboot den Wellen. Mir persönlich dreht sich hier der Magen, ich hätte Todesangst! Nach ein paar Stunden kommt dann doch ein größeres Polizeischiff, dass das Schlauchboot an Bord nimmt. Mich macht es jedes Mal sprachlos. Dachte ich doch, dass ich ein super mutiges Mädel bin. Schließlich hatte ich den Sprung dieses Jahr nach Südamerika gewagt. Alleinreisend, 3 Monate! Wurde mir da nicht auch schon so manche Horrorstory von den Großstädten: Rio de Janeiro, Sao Paulo oder La Paz prophezeit? Aber im Gegensatz zu den syrischen Jungs, war ich ausgestattet mit zwei Kreditkarten, (Papa’s goldener Master Card als Ersatz), wichtige Dokumente in diversen Papierformen und digital verstaut und immer mit dem Wissen, dass eine deutsche Botschaft oder Konsulat mich jeder Zeit aus der „Sch… rettet!“ Da bleibt für mich nur größter Respekt, Achtung und Mitgefühl diesen jungen Männern gegenüber.
Erzähl doch mal…
Leider kommt der Einzelne bei den wöchentlichen Treffen am Mittwochabend zu kurz. Deswegen entschied ich mich, jedem von ihnen Zeit zu schenken und eine Interviewreihe aufzusetzen. Ganz klar: wir führen die Gespräche auf Deutsch, hier kommen dann neben Googletranslate, Hände, Füße und ein Schreibblock mit Stiften zum Einsatz. So habe ich bisher mit vier von den acht Jungs einen ganzen Nachmittag verbracht. Ungeteilte Aufmerksamkeit, jeder hat Zeit für seine eigene Geschichte. Wie war das Leben vor der Flucht? Was ist ihr größter Wunsch? Was sind ihre schönsten Erlebnisse bisher hier in Deutschland? Was finden sie „komisch“ an Deutschland? Hier dürfen sie stolz auf ihr Land sein, mir Reiseempfehlungen aussprechen und mir Syrien zeigen, wie es vor dem Bürgerkrieg war.
Und was musste ich feststellen? Ihr Leben war gar nicht so viel anders, als das
meine hier. Die einen haben studiert und nebenbei gejobbt, während die anderen direkt im Berufsleben als Fotograf oder in der Bank angekommen waren. Fast wie erwartet, haben alle Fußball, Tischtennis oder irgendeine andere Sportart ausgeübt. Verliebt sein und für Mädchen schwärmen gehörte natürlich auch zum Alltag. Umso schlimmer jetzt sehen zu müssen, dass ein anderer Mann ihren Platz bei der Freundin eingenommen hat. Träumten sie nicht alle von einer eigenen Wohnung, einem Auto und einer Familie mit Kindern? Was alle wohl am meisten vermissen sind ihre Familien und Freunde. Hat doch in Syrien die Familie noch einen ganz anderen Stellenwert; gemeinsame Mahlzeiten und das Zusammenleben unter einem Dach endet nicht mit dem Schulabschluss. Altenheime sind für sie somit auch eine komische Erfindung, die Altenpflege ist doch ganz klar Aufgabe der Familie. Genauso gewöhnungsbedürftig für sie ist, dass wir Deutsche für alles einen Termin machen. In Syrien ist kein Vorabanruf oder WhatsApp Nachricht von Nöten. Spontanbesuche stehen hier an der Tagesordnung und jeder Gast wird mit Tee und leckerem Kaffee versorgt. Als Randnotiz hierzu: guter Kaffee ist in Deutschland ganz klar Mangelware. Viel merkwürdiger ist jedoch, dass wir Trinkwasser aus dem Hahn geliefert bekommen und dann Wasser kaufen. Ich finde es einfach irre spannend durch die Augen von Fremden einen Spiegel unserer Gesellschaft vorgehalten zu bekommen. Da ist man doch immer wieder verblüfft, was wir als selbstverständlich nehmen und andere als gewöhnungsbedürftig betrachten.
Integration wir kommen…
Durch das Engagement der Ehrenamtlichen ist es gelungen, dass alle bis auf den schulpflichtigen Morti ein Praktikum machen konnten. Mit Stolz erfüllt es mich, dass Mohammad durch dieses Praktikum eine Chance erhält eine Ausbildung zum Hotelfachmann in einem Vier-Sterne-Hotel zu machen. Genauso glücklich saß ich im Publikum bei den Bad Hersfelder Festspielen, wo Michael eine nicht zu unterschätzende Sprechrolle bei dem Theaterstück „Krabat“ ergattert hat. Khalil, der schwere körperliche Arbeit im Malereihandwerk während des Ramadans hinter sich bringt. George, der eigentlich in Syrien mit seiner Bankkaufmannausbildung weit vom Handwerk entfernt war, hilft bei einem Baggerunternehmen Gräber schaufeln. Abdulnasser, der Gartenarbeit auf dem
Golfplatz verrichtet und Milad, der beim Bundesforst, bei Waldarbeiten hilft.
Fehlende Integrationsbemühungen weit gefehlt.
Zu den schönsten Erlebnissen hier in Deutschland gehören ganz einfache Dinge. Milad Augen fangen an zu glänzen als er von dem Kanuausflug mit der Kirchengemeinde erzählt. Auch findet er es klasse, dass er hier Fahrrad fahren kann, „das war in Aleppo viel zu gefährlich bei dem Verkehrschaos“, sagt er lachend. George und Morti schätzen die Selbstständigkeit, die sie jetzt hier in Deutschland lernen. Aber für alle haben die Mittwochabende, die Treffen mit ihren „Ersatzeltern und Geschwistern“ einen hohen Stellenwert. Ein Gefühl von Familie und Menschen, die für sie da sind. Und ganz wichtig: beide Seiten haben die Möglichkeit Fragen zu stellen und Verhaltensweisen zu erklären. Besonders
lustig waren der Grillabend und ein Kochabend, der gemeinsam organisiert
wurde. Meine Schwester und ich waren uns nach dem gemeinsamen Kochen einig: soviel Spaß hatten wir schon lange nicht mehr.
Die Geschichte vom Salat…
Von George habe ich gelernt, dass er sich wünscht, dass wir die Gruppe der
Flüchtlinge wie einen bunten Salatmix sehen. In einem guten Salat findet man so
allerhand Beiwerk. Manches davon ist super lecker, anderes gewöhnungsbedürftig und manches ist nicht genießbar. Diesen Wunsch kann ich einfach nur gut nachvollziehen und es ist inzwischen auch mein Wunsch an jeden Deutschen geworden: keine schnellen Vorurteile, sondern eigene Meinungsbildung. Die Hand ausstrecken und sehen was zurückkommt. Meinungen von anderen zu übernehmen ist gefährlich, weiß man doch wirklich nie, was die Meinungsmacher bei einem bewirken möchten. Also raus aus der Komfortzone und interessante Erfahrungen machen.
Der Kampf um die Würde…
Wie heißt es doch in unserem Grundgesetz Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Diese jungen Männer beeindrucken mich. Sie kämpfen um ihre Würde. Hatten sie nicht in Syrien ein gutes Leben? Waren sie dort nicht in ihrer
sozialen Schicht anerkannt? Konnten Sie dort nicht auch Wert auf ihr Äußeres
legen und durch ordentliche, schöne Kleidung dazu gehören? Wie muss es sich
anfühlen, wenn alle Statussymbole wegfallen und man nicht mehr besitzt als
einen Rucksack. Was bleibt dann wirklich übrig von einem selbst? Diese Frage
habe ich mir oft gestellt, was bleibt dann von mir… dann bleiben wohl nur die
Sachen wie Erinnerungen, Wünsche, Träume und die eigenen Charaktereigenschaften.
Und da bin ich verdammt stolz zu sehen, wie reif diese acht Jungs sind. Sie kämpfen um ihre Würde, wollen schnell deutsch lernen, das Abitur nachholen, eine Lehre anfangen, Studieren und eine Arbeit finden. Sie wollen kein Mitleid, sondern eine faire Chance. Schwierig ist es hierbei ihnen auch immer eine Chance zu geben, dass sie sich für die Hilfe revanchieren können. Es darf kein Gefühl der Abhängigkeit oder der Untergebenheit entstehen. Das hat für mich auch etwas mit Würde zu tun.
Wer mag, kann mir jetzt vorwerfen, dass ich hier nur die positiven, integrationswilligen Flüchtlinge beschreibe. Und da haben wir wieder den SALAT! Ich habe die Hand ausgestreckt und bisher nur gute Bekanntschaften gemacht, von anderen Dingen kann ich nicht berichten.
Ein Wunsch für die ganze Welt…
Ich könnte jetzt noch Stunden weitererzählen, aber so langsam sollte ich zum Ende kommen. Also möchte ich mit einem Wunsch von Morti schließen, der mich sehr beeindruckt hat: Morti wünscht sich erst Frieden für Syrien, was ja naheliegend ist. Dann verbessert er sich sofort: „Nein, Rebecca, ich wünsche mir Frieden auf der ganzen Welt nicht nur in Syrien. Krieg ist nicht gut für niemanden“. Hier den Blick auf die ganze Welt zu richten, wenn die eigene Familie in Syrien um das Überleben kämpft, hat etwas mit Größe zu tun. Und für mich steht fest, ich werde dieses Land bereisen, sobald dies wieder möglich ist. Um potenzielle, deutschsprachige Reiseführer brauche ich mir wohl keine Sorgen machen.