Als hochsensibler Mensch neigt unsere Community-Autorin dazu, die Gefühle anderer zu ihren eigenen zu machen – und das überfordert sie oft. Sie fragt sich: Wie lerne ich, mich zu distanzieren, ohne meine Empathie zu verlieren?
Hochsensibel: Dein Wutanfall ist auch mein Wutanfall
Heute morgen wurde ich sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen. Um sechs Uhr saß ich plötzlich senkrecht im Bett, als meine Nachbarin in ihrer Wohnung über mir heftig die Tür knallte und schrie: „Verdammt noch mal, ich hab langsam echt die Schnauze voll davon.” Wahrscheinlich wären viele Menschen von dem Knall aufgewacht, ganz normal soweit. Bei mir kommt aber noch etwas dazu: die Hochsensibilität. Für mich ist es nicht nur ein Knall und ein lauter Schrei, eine reine Geräuschbelästigung, sondern auch Emotionen, die ich deutlich spüre.
Ich spüre die Wut meiner Nachbarin, ich spüre die Spannung in der Wohnung über mir, ich spüre den Schreck des Angeschrienen. Ich spüre es, als wär das alles hier und mit mir geschehen. Dann gesellen sich zu den Emotionen auch noch Gedanken. Mein Kopf möchte gerne verstehen, warum hier emotional die Hölle los ist: Was ist wohl vorgefallen? Hoffentlich vertragen sie sich wieder. Hat sie jetzt im Schlafanzug die Wohnung verlassen? Wie sieht der wohl aus? …
Besonders in angespannten Konfliktsituationen springen die Stimmungen und Schwingungen in Sekundenschnelle auf mich über. Das mag daran liegen, dass hochsensible Menschen in der Regel um Harmonie bemüht sind. Wut, Aggression, Trauer und Enttäuschung lösen einfach viel mehr in uns aus.
Hochsensible Menschen sind sehr emphatisch
Eine außerordentliche Empathiefähigkeit ist eines der tollsten Features der Hochsensibilität, finde ich. Sich wirklich in jemanden und seine Situation hinein versetzen zu können, statt es sich nur gedanklich vorzustellen, kann sehr verbindende Momente entstehen lassen und so viel Nähe und Verständnis in Beziehungen schaffen.
Empathie ist also etwas Gutes – aber nur, wenn wir sie unter Kontrolle haben und bewusst einsetzen. Uns bewusst öffnen und hingeben. Und genau das ist es ja, was den Umgang mit der eigenen Hochsensibilität so herausfordernd macht. Zu Lernen, sich abzugrenzen, ohne sich dabei auszugrenzen. Zu lernen, die damit verbundenen Fähigkeiten zu nutzen und sich nicht von ihnen und ihren Auswirkungen überrollen zu lassen. Denn Situationen, in denen das ohne Vorwarnung und Schutz passiert, wie mir heute morgen, gibt es ständig.
Und das Kopfkino beginnt
Wenn wir zum Beispiel irgendwo in einer Schlange stehen und hinter uns zwei Menschen ein Streitgespräch führen, könnten wir uns eigentlich gleich umdrehen und mitmachen, denn wir fühlen uns ja sowieso schon, als wären wir involviert. Allerdings würden wir dann ja auch noch die Augen einschalten. In Sekundenschnelle das äußere Erscheinungsbild beider gescannt: Aha, noch ein Krümel am Mundwinkel … mhh … ich denke mal Duplo, wahrscheinlich vom Vormittagsschokogelüst … ha süß, die eine Haarsträhne da hinten, die sich selbstständig macht … oh, etwas Wimperntusche verlaufen … oh nein, streiten sie vielleicht schon den ganzen Tag und es sind schon Tränen geflossen … ob sie wohl mit dem Auto beim Supermarkt sind und vorhin auf dem Parkplatz schon gestritten haben … was fahren sie wohl für ein Auto … oder vielleicht lief auch ein trauriger Song im Radio … kauft tatsächlich noch jemand Hühnerfrikassee …
Der Vorteil hier ist aber: mit etwas Übung können wir bewusst in der Situation sein. Das heißt auch, bewusst wahrnehmen, dass das, was wir fühlen, nicht unsere Emotionen sind, sondern die, des streitenden Paares hinter uns. Ich muss da öfter an Dirty Dancing denken: Das ist mein Tanzbereich, das ist dein Tanzbereich. Ich komm nicht in deinen, du kommst nicht in meinen.
Fühlen lernen
Je öfter wir die Situationen bewusst erfassen, in denen wir uns befinden, desto größer ist unsere Chance, die Stimmungen und Schwingungen zwar wahrzunehmen – denn wir bleiben sensibel, ein Glück – aber sie auch einordnen zu können. Und auch zu lernen, Emotionen, die vom Nachbartisch auf uns übergeschwappt sind, schneller wieder, als nicht zu uns gehörend, loszulassen.
Ich fühle mich oft, als hätte ich keine Haut, keine Knochen, keine Muskeln. Nur Seele. Nur Gefühle. Nur Gedanken. Das macht mir manchmal Angst, manchmal ist es wunderschön. Manchmal kann ich meine Außenwelt wunderbar aushalten, weil ich mir vorstelle, wie ich in einem geschützten Häuschen sitze und den Schneesturm durchs Fenster anschaue, manchmal stehe ich im Schneesturm. Und manchmal bin ich der Sturm.
Ist das meine Emotion? Nein.
Mir hilft es, in diesen Situationen, mir kurz einen Moment Zeit zu geben, inne zu halten, quasi zu meditieren, um wirklich zu spüren, was gerade in mir vorgeht. Welche Emotion sich zeigt und sie in die Situation einzuordnen, in der ich mich gerade befinde. Ist das meine Emotion? Nein? Dann lasse ich sie los. Mit Leichtigkeit und tatsächlich auch ein bisschen Humor: „Hey Kumpel, schön, dass du vorbei geschaut hast. Du bist großartig. Aber du darfst wieder eine Pause einlegen, war ein Fehlalarm.”
Eine andere Möglichkeit für mich ist es, in meinen Körper zu kommen, mich bewusst zu spüren; meine Muskeln, meine Knochen, meine Haut. Denn das ist ja alles da. Ich klopfe meine Beine und Arme ab oder spanne ein paar Mal alle Muskeln bewusst an, wenn möglich, gehe ich ein paar kraftvolle Schritte. Situationen mit dem Verstand einzuordnen, bei mir zu bleiben, bewusst wahrzunehmen, was gerade geschieht – all das hilft, meine Hochsensibilität zu umarmen und nicht zu verfluchen.
Ich liebe es, so viel und intensiv zu spüren und zu fühlen. Es fordert mich auch immer wieder heraus. Das gehört zur Hochsensibilität dazu. Das habe ich akzeptiert. Und mit jedem Mal, habe ich wieder die Chance, zu lernen und zu wachsen und mich noch besser zu fühlen.
Dieser Artikel ist bereits auf Marlenes Blog feinFÜHLEN erschienen. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlicht.
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