Julia Burmeister, die französische Expertin aus dem NIMIRUM-Netzwerk, hat eine eindrückliche Reportage aus dem elften Arrondissement – dem Herzen des wilden Paris – geschrieben, das vergangenen Freitag so furchtbar getroffen wurde.
Das „Elfte“ – hier leben Bobos und Studenten
Nach den Anschlägen von Freitag, dem 13. November 2015, hieß es, Paris sei „im Herzen“ getroffen. „Schon wieder das elfte Arrondissement!“, hört man die Bewohner sagen. Wie schon im Januar 2015 liegt das Epizentrum der terroristischen Anschläge in diesem Bezirk. Inwiefern schlägt dort das Pariser Herz? Begeben wir uns auf eine Spurensuche.
Das elfte Arrondissement liegt im Osten/Nordosten von Paris. Hier leben Künstler, Studenten, Angestellte, Freelancer und Obdachlose in friedlicher Koexistenz. Von einem Quartier Populaire, in dem das „einfache Volk“ wohnt, entwickelt sich das „Elfte“ immer mehr in ein so genanntes Bobo-Viertel. „Bobo“ ist die Abkürzung für „Bohémien Bourgeois“: Kulturinteressierte, die sich mit einem avantgardistischen Lebensstil brüsten, aber gesellschaftlich und ökonomisch längst im Mittelstand angekommen sind. Le onzième, das Elfte, ist vielleicht nicht der schönste Stadtteil von Paris, aber der lebendigste, mit lustigen Flohmärkten, Straßencafés und Imbissständen. Hier geht man nach der Arbeit in eines der zahlreichen Restaurants: Ob chinesisch, marokkanisch oder afghanisch, man wird ohne Probleme fündig. Hier betrinken sich am Wochenende Studenten und andere junge Partygänger auf der berühmten rue Oberkampf. Hier sitzen Hipster und Bobos und inzwischen auch immer mehr Touristen im Sommer am canal Saint Martin, trinken Dosenbier und spielen Gitarre. Hier geht man in einem der alternativen Clubs tanzen, in den Conseil Général oder ins Nouveau Casino zum Beispiel. Auf dem Weg von der rue Oberkampf zur place de la Bastille kommt man an einem bunten, einladenden Konzertsaal vorbei, dem Bataclan. Draußen auf der Terrasse kann man ein Glas Rotwein trinken, während man auf den Beginn der Show wartet. Manchmal sieht man Schlangen, wenn internationale Künstler auftreten. Das Publikum ist gemischt aus Parisern und Provinzlern, eher jung, man sieht mehr Rocker und Alternative als Anzugträger.
Leere im Meltingpot
Im Elften pulsiert das Leben. Hier ist Paris am lautesten, buntesten und wildesten – ein Meltingpot inmitten der „Stadt des Lichtes“, wie Paris auch genannt wird. In der Nacht des 13. November war von dem fröhlichen Trubel nicht mehr viel übrig, als Terroristen mit dem Bataclan und vier Restaurants und Cafés das Herz von Paris angriffen. „Ich fühle mich leer“, sagt mir eine Freundin und: „Wo sollen wir denn noch hingehen?“ Die Frage klingt angesichts der Attentate fast prätentiös. Man könnte meinen, dass das nicht die schlimmste aller Sorgen sei und dass die Feierlaune erst mal vergangen wäre. Aber sie bringt das Lebensgefühl der Bewohner desonzième auf den Punkt: Wer hier lebt, geht gern aus, ob in eine Bar, in einen Club oder zum Feierabendbier auf eine der zahlreichen Terrassen. Wer im elften wohnt, nimmt 15qm-Wohnungen zu Wucherpreisen in Kauf, denn das wahre Leben und Treiben findet auf der Straße statt.
Im elften Arrondissement befindet sich auch der Platz der Republik. Er ist das Symbol der Demokratie in Frankreich: Am 14. Juli 1883 wurde dort das Monument à la République eingeweiht, die Marianne als personifizierte französische Republik, stolz und kämpferisch. An der Place de la République finden Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerte statt. Seit den „Charlie Hebdo“-Anschlägen ist es auch ein Ort des Trauerns, an dem Blumen und Kerzen niedergelegt werden. Als am 11. Januar 2015 Hunderttausende Menschen dem Terrorismus zum Trotz auf den Platz der Republik zu einer Solidaritätskundgebung strömten, wurde der Ort weltweit zum Symbol für Freiheit und Demokratie – und für die Pariser Lebensart, die den Terroristen mit Mut und Entschlossenheit die Stirn bietet.
„Allez la France! Même pas peur“
Im Juni 2015 kehrt hier wieder Normalität ein. Auf dem Platz tanzen während der Fête de la musique und des Festivals Oui Fm ausgelassene Menschen. Es scheint, als ob sie sich von den Attentaten nicht haben beeindrucken lassen. Es scheint, als wären sie daraus gestärkt und noch lebensfroher herausgegangen – vereint für Demokratie und Pressefreiheit, gegen den Terrorismus.
Zehn Monate nach „Charlie Hebdo“ ist dieser Platz im Nordosten von Paris wieder in den Schlagzeilen – und wieder ist er ein Ort des Trauerns. Die Trauer ist eine andere als noch zu Jahresbeginn, sie ist stiller geworden. Nur wenige Menschen halten Plakate hoch: „Allez la France! Même pas peur“, um der Welt zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen und dass sie den Terroristen den Triumph nicht gönnen. Vielleicht auch um sich selbst zu ermutigen, den Kampf nicht aufzugeben.
Am 15. November 2015, gegen 18:30, knapp zwei Tage nach den blutigsten Terroranschlägen in der französischen Geschichte, ist im „Elften“ in der Nähe des Platzes der Republik ein lauter Knall zu hören: Panisch rennen Tausende Leute weg. Es war Fehlalarm, aber der Vorfall verdeutlicht die Angespanntheit vieler Pariser. „Ich bleibe heute Abend lieber zu Hause“, sagt meine Freundin. Hat die Angst doch gesiegt?
Stolze und kämpferische Bewohner
Eins ist sicher: Es wird einige Zeit dauern, bis der „elfte“ Bezirk und der Platz der Republik seine fröhliche Ausgelassenheit zurückgewinnen. Die Bewohner dieses außergewöhnlichen Viertels sind unabhängig von kultureller und religiöser Herkunft noch enger zusammengerückt; sie werden sich gegenseitig Trost spenden und aufmuntern und noch viele Blumen und Kerzen an den Orte des Schreckens niederlegen. Bald werden sich die Straßencafés wieder füllen, es wird wieder gelacht und getanzt werden. Die traurigen Schatten, die der Terrorismus geworfen hat, werden allmählich verblassen – le onzième wird lernen, mit diesem dunklen Kapitel seiner Geschichte umzugehen und mit Lebensfreude, Offenheit und Solidarität den Weg in die Normalität zurück zu finden. Die Bewohner des „elften“ sind wie die republikanische Marianne zu stolz und zu kämpferisch, um zu kapitulieren und sich dem Terrorismus geschlagen zu geben.
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