Im April 2023 erklärt Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Corona-Pandemie offiziell für beendet. Für die Menschen, die unter Long Covid leiden, ist sie jedoch immer noch allgegenwärtig. Welche Geschichten hinter Statistiken und bloßen Zahlen stecken können, beleuchtet die Reportage unserer Autorin Fiona Rohde.
Als meine an Long Covid erkrankte Freundin sagt, dass sie für einen Artikel zur Verfügung stehen wird, weiß ich oder erahne zumindest, was das für sie heißt. Für ein solches Treffen, eine Stunde vielleicht, weiß sie nie, welche Quittung sie bekommt. Ihre Energiereserven muss sie sich penibel einteilen. Diese Freundin steht stellvertretend für derzeit zwischen 140.000 und 310.000 Menschen in Deutschland. Menschen, die oft unter dem Radar laufen. Die allein für sich kämpfen. Gegen die bleierne Erschöpfung und fehlendes Wissen.
Begonnen hat alles im Februar 2023. Die Corona-Infektion verlief, wie man so schön sagt, mild. Wie eine Grippe. Am Tag nach ihrer Genesung wacht Nora (Name von der Redaktion geändert) morgens auf und denkt, sie befinde sich in einem fremden Kopf. „Ich habe direkt gemerkt, irgendwas stimmt hier nicht. Ich war so benebelt im Kopf, als hätte ich getrunken.“ Sie will aufstehen, muss sich auf dem Weg zum Bad an der Wand entlanghangeln. Erst viel später erfährt sie, dass das, was sie da erlebt, Brain Fog (deutsch: Gehirnnebel) ist.
Ein halbes Jahr auf Burnout behandelt
Der Hausarzt schreibt sie für eine Woche krank. Am Montag darauf steht sie wieder vor ihm. Sie fühlt sich immer noch komisch im Kopf, kann sich nicht konzentrieren und alles verschwimmt, als ob die Synapsen nicht richtig funktionieren. Der Arzt sagt ihr, sie habe einen Burnout und schickt sie zu einer Psychiaterin. Ein halbes Jahr lang wird sie daraufhin auf Burnout bzw. Depression behandelt.
„Ich habe immer gesagt, das hat was mit Corona zu tun, ich spüre das, aber die Psychiaterin hat zu mir gesagt: ‚Long Covid gibt es nicht‘. Dann habe ich Psychopharmaka bekommen und erst mal ein halbes Jahr lang versucht. gesund zu werden.“ Die Psychopharmaka verträgt sie nicht. Ständig muss sie die Medikamente wechseln. Nach einem halben Jahr zieht sie die Reißleine und bricht die Behandlung ab.
Nach paar Monaten kommen weitere Symptome dazu: Kribbeln in den Fingern und in der linken Gesichtshälfte. Arme und Beine fühlen sich kraftlos an. Sie kann nicht mehr längere Zeit stehen, hat immer das Gefühl, die Erde ziehe sie an. Sie leidet unter extremen Muskelzuckungen. Nachts liegt sie stundenlang wach. Zu diesem Zeitpunkt setzt sie die Psychopharmaka ab.
Sie erinnert sich an ihre Psychotherapeutin, die ihr gesagt hat, dass sie vermute, dass er hier um mehr als um Burnout gehe. „Wenn Sie depressiv wären, hätten Sie keinen Antrieb.“ Nora verspürt enorm viel Antrieb, ihr fehlt jedoch jegliche Kraft. Wenig später ist es eine Neurologin, die diese These bestätigt: „Das ist nicht psychisch. Das müssen wir jetzt weiter abklären. Aber es klingt für mich schwer nach Long Covid.“
Long Covid ist eine Ausschlussdiagnose
Das war im August 2023, also ziemlich genau ein halbes Jahr später. Sie veranlasst weitere Untersuchungen. Das Problem, so erklärt Nora mir: Long Covid ist eine Ausschlussdiagnose. Man muss alles andere ausschließen, um dann zu dem Ergebnis Long Covid kommen zu können. Sie ist bei einem Kardiologen. Es folgen MRT (Magnetresonanztomographie) und EEG (Elektroenzephalogramm). Man misst die Nervengeschwindigkeit, entnimmt per Lumbalpunktion Nervenwasser. „Ich war einerseits immer fast ein bisschen enttäuscht, wenn nichts gefunden wurde, weil ich endlich irgendwas haben wollte, was man behandeln kann. Auf der anderen Seite hat es mich der Diagnose immer ein Stück nähergebracht.“
Wann war für sie selbst klar, dass es Long Covid ist, frage ich und sie antwortet: „Von Anfang an.“
Es gab diesen Moment, in dem ich beschlossen habe, ich nehme das jetzt selbst in die Hand.
Nora
Auch wenn ihr Hausarzt sie nicht versteht, ist sie froh, dass er sie weiter krankschreibt. Weil, so erklärt sie: Man sieht mir die Krankheit ja nicht an. Und sie weiß von vielen Betroffenen, die absolut kämpfen müssen, um überhaupt krankgeschrieben zu werden.
Doch mehr als krankschreiben passiert nicht. Ihr Hausarzt sagt ihr immer: „Man kann sowieso nichts machen“. Auch die Neurologin kennt sich kaum aus. Also habe sie angefangen selbst zu recherchieren. Eine offizielle Diagnose hat sie zu dem Zeitpunkt immer noch nicht, aber sie macht alle Tests zu Post Covid und CFS-Syndrom, die sie finden kann.
Weil sie neurologische Auffälligkeiten hat, sagt man ihr in der Klinik: Bevor wir jetzt endgültig sagen, dass es eine Folge von Corona ist, machen wir erstmal weitere Ausschlussdiagnostik. In den Befundbericht schreiben die Ärzt*innen: „Müssen wir in zwei Monaten wiederholen.“ Wieder warten.
Bei der zweiten Lumbalpunktion in der Uniklinik kommt der Arzt rein, schließt die Tür hinter sich und sagt: „Jetzt, wo wir hier unter uns sind: Sie machen bald eine stationäre Reha, richtig?“ Sie sagt: „Ja.“ „Das ist eine psychosomatische, richtig?“ „Nein“, sagt sie, „eine neurologische.“ Daraufhin sagt ihr der junge Arzt: „Dieses ME/CFS gibt es gar nicht. Das haben sich irgendwelche Leute, die wichtig sein wollten, nur ausgedacht. Machen Sie einfach mal Sport bis zum Erbrechen. Gehen Sie arbeiten. Hören Sie auf, dagegen anzukämpfen und Sie werden sehen, dann ist alles ganz schnell vergessen.“ „Ich bin ja eigentlich nicht auf den Mund gefallen,“ sagt meine Freundin, „aber in dem Moment konnte ich nichts sagen.“ Es folgen noch viele Begegnungen dieser Art.
Und dann ist er irgendwann da, der Tag. Sie ist auf die Empfehlung einer anderen Betroffenen nach München in eine Klinik gefahren. Hier sagt man ihr: Ja, es ist ME/CFS infolge von Corona. Zu diesem Zeitpunkt hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Corona-Pandemie bereits seit elf Monaten offiziell für beendet erklärt.
ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome und „ist eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die meist infolge eines viralen Infekts auftritt. Betroffene leiden meist unter einer extrem beeinträchtigten Leistungsfähigkeit, die von schwerer körperlicher wie geistiger Fatigue begleitet wird und mindestens sechs Monate andauert.
Grundgefühl Zukunftsangst
Auf ihrer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung steht weiterhin als erstes irgendeine Form von Depression und erst später Post Covid. Sie bittet darum, dass das angepasst wird. Die Sprechstundenhilfe ist genervt. Das müsse immer händisch im Computer korrigiert werden. Daraufhin sagt meine Freundin: „‚Bitte sehen Sie es mir nach, aber keiner weiß, wer mir helfen kann. Ich weiß nicht, wie mein Leben weitergeht, ich habe totale Zukunftsangst. Ich versuche mich möglichst gut darauf vorzubereiten, um eventuell eine Rente zu beantragen, weil ich mir nicht anders zu helfen weiß. Dann will ich nicht auch noch Probleme haben, weil hier die falsche Diagnose steht. Deshalb muss ich so pingelig sein.‘ Ich hatte Tränen in den Augen“, sagt sie, „und dann ist die Dame um den Tresen rumgekommen und hat gesagt: ‚Darf ich sie in den Arm nehmen?‘“
Wieder folgen Untersuchungen. „Die Ärzte stellten fest, dass die roten Blutkörperchen sich nicht mehr so verformen können, dass sie überall hinkommen. Die Folge: Das Gehirn ist nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt und die Muskeln auch nicht“, erklärt Nora. Was dagegen helfen soll, ist Bewegung, Sport. Vielen Erkrankten ist genau das jedoch nicht möglich aufgrund der Belastungsintoleranz. „Wenn man sich nur ein bisschen zu sehr überlastet, führt das zu einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes, die überhaupt nicht im Verhältnis steht zur vorherigen Anstrengung.“
Das automome Nervensystem ist zudem ständig im „Fight or Flight Modus“, also in Alarmbereitschaft. Deshalb kommen die Betroffenen nicht mehr in den Entspannungsmodus, in dem die unbewussten, lebenswichtigen Funktionen im Körper gesteuert werden, wie z.B. Atmung, Verdauung, Schlaf etc.
Seitdem ist sie auf der Suche nach irgendwas, was ihr hilft, das Nervensystem runterzufahren. Sie macht Meditation. Probiert verschiedene Atemübungen aus. Das alles stresst sie noch mehr. „Ich habe unfassbar viele Sachen ausprobiert und dann hat mir vor zwei Wochen jemand einen Tipp gegeben, mit dem es mir gelingt, mich sofort runterzubringen.“ Das ist: two inhales and one long exhale. Eine kleine Atemübung, die von der Stanford University erforscht wurde. „Und so simpel das vielleicht klingen mag: Ich habe endlich das Gefühl, ich habe Einfluss auf meinen Körper. Ich konnte anderthalb Jahre machen, was ich wollte, und es hat mir alles nicht geholfen. Und jetzt habe ich irgendwas in der Hand. Aber natürlich ist nicht gesagt, dass es immer hilft, da muss Jede*r für sich seinen Weg finden.“
Wenn sie sich übernimmt und die Übungen nicht helfen, kann es immer wieder zum sogenannten „Crash“ kommen. Darunter versteht man die Symptomverschlechterung nach nur geringer körperlicher oder geistiger Belastung, die Tage und Wochen andauern kann. Dann, so Nora, kann man einfach nichts mehr. „Aber ich denke, dass ich noch moderat betroffen bin, dass ich noch Glück habe, weil ich glaube, wenn in so einer Situation Feueralarm wäre, würde ich es trotzdem noch schaffen, aus dem Bett rauszuspringen und aus dem Haus zu rennen. Es gibt viele, die schaffen das nicht, die können gar nichts mehr.“
Aber die Zukunftssorgen bleiben. Zum Beispiel, weil das Krankengeld ausläuft. Nora muss sich arbeitslos melden, Unterlagen besorgen, Formulare ausfüllen. Aber was machen die Betroffenen, die das nicht schaffen, weil sie das Bett kaum verlassen können? Was machen die, die niemanden haben, der sie unterstützt? „Das sind vergessene Leute,“ erklärt Nora. „Um die kümmert sich niemand. Wieviel verzweifelte Posts ich immer wieder in der Long Covid-Selbsthilfegruppe auf Facebook gelesen habe, von Menschen, die sagen, sie können sich nicht mal mehr selbst versorgen.“
Erschöpfung und Überforderung – neue Konstanten im Alltag
Auch sie fühle sich oft überfordert, sagt Nora und erzählt, wie sie an einem Tag in einem ihr nicht vertrauten Supermarkt einkaufen will und wie sie eingefroren mit ihrem Einkaufswagen vor den Regalen steht und in Tränen ausbricht, weil sie plötzlich nicht mehr weiß, was sie dort wollte.
Oder wo sie beim Arbeitsamt anruft und in der Warteschleife hängt. Als schließlich jemand ans Telefon geht, kann sie nicht mehr sagen, was sie eigentlich will, und beginnt zu weinen. Zwei Momente von so vielen dieser Art, die jetzt Teil ihres Alltags sind. Sie weint oft. Aus Überforderung.
Nora weiß, dass sie das Privileg hat, sich nur um sich selbst kümmern zu müssen. Was jemand in ihrer Situation macht, der Kinder hat, mag sie sich kaum vorstellen. Auch mit ihrem Arbeitgeber hat sie Glück. „Ich habe gedacht, dass die mir irgendwann kündigen, weil ich nicht mehr tragbar bin. Aber mein Chef hat super reagiert.“
Verbittert ist sie nicht. „Ich war schon immer ein Stehaufmännchen“, sagt sie zum Schluss.
Tipps für Betroffene und ihre Angehörigen
-> Buchtipp: Dr. Claudia Ellert, Long Covid – Wege zu neuer Stärke: Symptome, Behandlungswege, Hilfe zur Selbsthilfe, ZS Verlag – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2022
-> Buchtipp: Jan Rothney, Breaking Free from Chronic Fatigue and Long Covid Symptoms: A Guide to Recovering from Chronic Fatigue Syndrome & Long Covid Symptoms, Arkbound, 2022
-> Viele Informationen, auch für Ärzt*innen, mit Tests etc. gibt es auf der Seite der Berliner Charité
-> Informationen speziell rund um ME/CFS bietet der Bundesverband ME/CFS – Fatigatio e.V.
-> Informationen sind auch über die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS erhältlich
-> Diagnose: Krankenhaus für Naturheilwesen in München
-> Selbsthilfegruppe: Long Covid Gruppe Deutschland auf Facebook
-> Covid Ambulanzen: finden Betroffene hier: https://longcoviddeutschland.org/ambulanzen/ (es ist mitunter schwierig hier einen Platz zu bekommen)