Foto: Winzki

„Mama, das Heft ist kaputt!“

Warum Kinder in der realen Welt spielen sollten

 

Zugegeben, wenn Mamas Smartphone Klein-Peter im Wartezimmer unterhält, ist das ein Segen für alle. So gibt das schniefende Rotznäschen immerhin Ruhe. Doch die Handyzeit fehlt, für echte, entwicklungsfördernde Erfahrungen.

„Spielen ist in jedem Alter wichtig“, weiß Maria Große Perdekamp von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Aus eigenem Antrieb lernen Kinder dabei die Welt, ihren Körper und sich selbst kennen. „Denken Sie an Bauklötze“, fordert die Erziehungsexpertin auf, „die ganz Kleinen erkunden die Würfel mit Mund und Hand. Sie lernen: Ich kann mich bewegen, ich kann greifen oder loslassen.“ Dreijährige hingegen spüren beim Turmbauen, dass sie erschaffen und zerstören können, während Grundschulkids die Klötze mit Figuren zu einem Zoo kombinieren und so Kreativität und Denkfähigkeit schulen. „Das sind Dinge, die Eltern ihren Kindern nicht beibringen können“, erklärt Große Perdekamp. Der Nachwuchs muss diese Erfahrungen selbst machen.

Lern-Apps machen nicht schlau

Doch anstatt im Sand zu buddeln und mit Freunden Verstecken zu spielen, „daddeln“ schon unter Dreijährige lieber auf Smartphone und Tablet. Spiel- und Lern-Apps versprechen optimale Förderung. Laut einer Studie des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte verbringen fast zwei Drittel der
Kinder im Krippen- und Kita-Alter mindestens 30 Minuten pro Tag an einem
mobilen Endgerät. Experten wie Große Perdekamp sehen diese Entwicklung
skeptisch. „Die Handy-Zeit fehlt für andere, tatsächlich entwicklungsfördernde Dinge – wie Malen, Brettspiele oder Bewegung im Freien.“ Die Folgen sind mitunter gravierend: „Mancher Zweitklässler kann weder Rückwärtslaufen noch eine Schleife binden“, berichtet die Erziehungswissenschaftlerin. Neben motorischen bleiben auch emotional-soziale Fähigkeiten auf der Strecke. Denn die App-Spiele funktionieren in der Regel ohne Freunde oder Eltern.

Grenzen zwischen Virtualität und Realität verschwimmen

Und noch ein Aspekt ist besorgniserregend. Babys und Kleinkinder bringen Realität und digitale Welt immer häufiger durcheinander. Auf YouTube grassieren Videos, in denen Kleinkinder versuchen Tiere im Zoo mittels Fingerbewegung heran zu zoomen oder Zeitschriften mit der typischen
Wisch-Geste umzublättern. Wie sich die verschwimmenden Grenzen auf das Gehirn der Babys auswirken, ist bisher nicht erforscht. Feststeht: Die Sinneseindrücke, die ein Touchscreen bietet, sind karg.

Softwareentwickler und Familienvater Rainer Brang kennt die magische Anziehungskraft, die mobile Medien auf den Nachwuchs haben. Kids gänzlich von iPad und Co. fernzuhalten, hält der 42-Jährige trotzdem für keine gute Idee. „Alles was ich verbiete, wird noch reizvoller“, findet Brang. Stattdessen reguliert der Geschäftsführer der Firma Winzki tägliche Nutzungszeiten und plant mit seinen Söhnen Fabian und Martin bewusst medienfreie Tage ein.

Quality Time ohne Internet

Die verbringt das Dreier-Gespann nicht selten in der Werkstatt. „Als die Jungs noch kleiner waren, haben wir Nagelbretter gebastelt – das schaffen sogar Dreijährige“, erinnert sich Brang. Stunden fliegen dahin. Vater und Sohn sind glücklich und verbunden. Sogar eine Geschäftsidee entsprang einer solchen Session. Den Hörbert, einen stabilen Holz-Musikspieler für Kinder produziert der Hobbywerker mit seiner Firma Winzki seit sechs Jahren in Serie. Inzwischen
hat das 19-köpfige Team um den Erfinder 10.000 Stück verkauft. Um Eltern-Kinder-Gespanne zum kreativen Miteinander anzuregen, gibt’s die Klangkiste auch als Bausatz zu kaufen. 

„Gemeinsam etwas zu erschaffen macht glücklich und fördert die Kids in besonderem Maße“, weiß auch Erziehungsfachfrau Große Perdekamp. Dabei ist es egal, ob die Kleinen mit Mama Sandburgen bauen, mit Papa eine Höhle kreieren oder mit Freunden einen Kuchen backen. Beim gemeinsamen Wirken
lernen die Sprösslinge sich an soziale Regeln zu halten, mit Frust umzugehen
und sich in andere hineinzuversetzen. Daneben vergrößern sie durch die
Ansprache ihren Wortschatz. Aus anfangs dünnen Nervenbahnen formen sich so mehrspurige Straßen mit Kreuzungen und Abzweigungen. Je komplexer diese Netze, desto bunter die Palette, mit der Mädels und Jungs später Probleme lösen können.

Alltagsgegenstände machen Spaß

 „Lernen findet im Leben nicht am Computer statt. Nur wenn es auf echten Erfahrungen basiert, ist Wissen nachhaltig“, meint Brang. Große Perdekamp pflichtet ihm bei: „Digitale Erlebnisse sind nicht mit realen gleichzusetzen.“ Allerdings müsse nicht zwangsläufig teures Lernspielzeug involviert sein. Gerade einfache Utensilien fördern Kreativität und Vorstellungskraft. Große Perdekamp: „Alte Töpfe, Holz- oder Stoffreste begeistern oft nachhaltiger als sprechende Puppen.“ Eine Beobachtung, die auch Familienvater Brang gemacht hat. Je vielseitiger einsetzbar, umso besser. Tauchen die Kinder tief ins Spiel ab, werden Perlen schnell zu Hundefutter und der leere Karton schippert als Boot über den imaginären See. Vor allem aber sollten Eltern beim heutigen Förderwahn eines im Hinterkopf behalten, so der Hörbert-Hersteller: „Spielen soll in erster Linie Spaß machen. Das mit dem Lernen klappt dann von ganz alleine.“

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