Foto: © 2019 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH / Tom Trambow

Nora Tschirner: „Ich habe Dates schon gebeten, mich nicht zu googeln – gegen die Online-Version ist man chancenlos“

Nora Tschirner spielt in „Gut gegen Nordwind“ eine Frau, die sich einzig durch geschrieben Worte in einen fremden Mann verliebt. Wir haben uns mit der Schauspielerin über ihre Rolle im Film, Sprache, Gefühle und Intuition unterhalten. 

Die Verfilmung des Bestsellers „Gut gegen Nordwind“ nimmt die Zuschauer*innen mit auf die Reise zweier Menschen, deren virtuelle Wege sich einzig wegen eines Buchstabenverdrehers in einer Mailadresse kreuzen. Eigentlich möchte Emma (gespielt von Nora Tschirner) ein Abo kündigen, doch statt beim Kundenservice landet ihre Mail in Leos Postfach. Der Film lässt die Zuschauer*innen daran teilhaben, wie sich zwei fremde Menschen aus der Ferne die nächsten werden, große und kleine Momente ihres Alltags per Mail miteinander teilen und aus unverfänglicher Hin- und Herschreiberei große Gefühle entstehen.

Hätten sich die Protagonist*innen beim Online-Dating kennengelernt, läge ein Treffen im realen Leben nahe – in der Verfilmung von Daniel Glattauers Roman ist das nicht so einfach. Emma ist verheiratet und Mutter von zwei Bonuskindern, Leo gefangen in einer On-/Off-Beziehung. So fiebert man als Zuschauer*in auf den Moment hin, in dem sich Emma und Leo endlich im echten Leben begegnen und fragt sich, ob aus der Buchstabenliebe tatsächlich die große Liebe wird. Eine erfrischend andere, fast schon old-school anmutende Liebesgeschichte in Zeiten, in denen sich Menschen immer häufiger digital kennenlernen.

Im Interview mit Nora Tschirner haben wir uns über viel mehr als nur ihre Rolle als Emma und den Film unterhalten – entstanden ist ein intensives Gespräch über unser Online-Verhalten, Feminismus, Zwischenmenschliches und Intuition.

Emma sagt im Film: „Ich glaube, dass sich die Welt weiterdreht, auch wenn wir Dingen keinen Namen geben.“ Leo, der als Linguistikprofessor arbeitet, sieht das anders. Was meinst du, brauchen wir für alles eine Definition?

„Wir sind manchmal zu sehr aufs Sprachliche fixiert und sollten stattdessen mehr erleben und fühlen. Sprache ist wichtig und ich erfreue mich sehr an ihr, aber sie sollte nicht zu Verkopftheit führen, sondern beschreiben, was wir erleben. Sprache hilft dabei, selbst die komplexesten Sachverhalte zu erklären, doch wenn Leute sie nur nutzen, um verschwurbelt rumzulabern bis die Köpfe rauchen, langweilt mich das. Damit entziehen sich Menschen jeglicher Sinnlichkeit – und mit Sinnlichkeit meine ich nicht Sexualität, sondern die Begegnung mit der Welt um uns herum.“

Was wäre der Gewinn, wenn wir nicht alles definieren und stattdessen dem Fühlen und Erleben den Vorrang geben?

„Naja, es wäre insgesamt ein großer Gewinn, wenn wir uns wieder mehr auf unsere Intuition verlassen und danach handeln würden. Ich glaube, dass es dadurch sehr viel weniger Feindlichkeit gäbe – wir würden anderen mehr Vertrauen schenken. Wenn man Menschen einfach wahrnimmt, wie sie um einem herum sind, sich auf seine Intuition verlässt und nicht zu sehr in die eigene Verkopftheit rutscht, gibt es auch weniger Streit. Zeit miteinander zu verbringen, ohne viel zu reden, kann sehr aufschlussreich sein. Wenn man gemeinsam etwas erlebt, ist das verbindender, als wenn man die ganze Zeit rumdiskutiert und dennoch jede*r in seiner eigenen Gedankenblase verharrt.“

Emma und Leo hingegen haben durch ihren E-Mail-Austausch nur die Sprache als verbindendes Element.

„Ja, aber die beiden rutschen nicht in diese Verkopftheit rein, weil es keine Definition für das zwischen ihnen gibt. Und genau das macht den Reiz aus. Ob die beiden auch im realen Leben miteinander klarkommen, kann weder das Buch noch der Film abschließend beantworten.“

Heute ist es ziemlich einfach, vor dem persönlichen Kennenlernen viel über den*die andere*n in Erfahrung zu bringen. Den Namen auf Google eintippen, die sozialen Medien nach der Person durchforsten und schon hat man ein Bild, nicht nur wie die Person aussieht, sondern auch wer sie ist oder zumindest wer sie gern für andere sein würde. Emma und Leo entscheiden bewusst, nicht im Netz nach der*dem anderen zu suchen. Wie stehst du dazu?

„Ich finde diese Entscheidung, einander nicht im Internet nachzuschauen, sehr interessant. Insbesondere in einer Zeit, in der genau das ein Leichtes ist. Ehrlich gesagt glaube ich, dass das zum Trend wird. Wahrscheinlich nimmt das einen ähnlichen Verlauf wie bei der Generation, bei der das Fernsehen aufkam und plötzlich dauernd verfügbar war – die wurden alle fernsehsüchtig. Man kennt doch diese Omas und Opas, bei denen die ganze Zeit der Fernseher läuft – junge Menschen finden das ganz fürchterlich. Nur weil der Fernseher zur Verfügung steht, muss man ihn nicht dauernd nutzen. Dieser Akt des ,Internet-Stalkens‘ wird denselben Verlauf nehmen wie das Fernsehen. Viele Menschen werden verstehen, was man sich mit dem Nachschauen vergibt und dann wird es zu einer Art Kodex, dass man sagt: Hey, Online-Recherche lassen wir natürlich, ne? Als bekannter Mensch kann ich sehr gut verstehen, dass man darum bittet, einander persönlich kennenzulernen. Ich habe Dates tatsächlich schon darum gebeten, mich nicht zu googeln. Gegen diese Online-Version hat man keine Chance, das ist doch verwirrend – so ein komischer Filter, den man nur schwer wieder rauskriegt. Emmi und Leo machen sich ein Geschenk, indem sie aufs Googeln der*des anderen verzichten.“

Foto: © 2018 Tom Trambow für Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH

Mir kam es im Film so vor, als würde das zumindest zu Anfang den Reiz der*des jeweils anderen ausmachen. Irgendwie ein guter Gedanke, dass man die Online-Versionen der anderen Person außer Acht lässt und den ersten Eindruck der realen Version überlässt. Nur scheint das aktuell noch nicht zu passieren, wenn ich an Social Media oder auch Tinder & Co. denke.

„Ich beobachte diese Entwicklung bereits bei einigen wenigen Menschen. Natürlich gibt es viele Social-Media-Junkies, die man nicht vom Smartphone wegkriegt. Aber ich erlebe immer mehr Menschen, die Social Media viel besser in ihr Leben integrieren als die älteren Generationen. Jüngere Menschen finden sich schneller zurecht mit ihren Smartphones, aber haben oft einen natürlicheren, gesünderen Umgang. Sie haben kein Problem damit, das Telefon beim persönlichen Gespräch mit jemand anderem wegzulegen. Das ist zum Beispiel etwas, das in meiner Generation nicht so eindeutig ist. Bei den alten Generationen heißt es häufig: ,Na wenn’s klingelt geht man aber auch ran, ist doch klar.‘ Ich glaube, letztendlich schlägt die menschliche Verbindung durch und Höflichkeit, Freundlichkeit und Respekt gestalten sich wieder neu. Ein paar Honks gibt es natürlich immer. Die haben es auch vor 200 Jahren schon geschafft, dir das Gefühl zu geben, sie starren gerade auf ihr Handy, lange bevor es überhaupt Telefone gab (lacht).“

Du sagst, dass du als bekannte Person froh bist, wenn dich die Leute in deinem privaten Umfeld nicht googeln. Reizt es dich gar nicht, eine neue Person in deinem Leben zu googeln, bevor ihr euch verabredet?

„Doch total, ich bin auch so ein Honk (lacht). Ich sag das alles nicht, weil jene, die das tun, doof sind, sondern weil ich weiß, wie Menschen funktionieren. Natürlich ist das Nachschauen auch für mich reizvoll, ich bin der Star unter den Netz-Detektiv*innen. Wenn ich möchte, habe ich innerhalb einer Sekunde jeden Shit über eine Person gefunden – das kommt zum Glück nicht so oft vor. Und ich denk mir dann auch selber: Oh, das ging jetzt zu weit.“

„Feminismus bedeutet für mich Selbstbestimmung.“

Emmi und ihr Ehemann Bernhard wirken unglücklich in ihrer Ehe – und die Beziehung scheint geprägt von einer sehr traditionellen und isolierenden Rollenverteilung. Bernhard hat kaum Zeit für die Familie, scheint eher mit seinem Dirigenten-Job verheiratet, überlässt ihr die Kinder und den Haushalt und wenn er dann mal zuhause ist, sitzt er gemütlich am Küchentisch, während Emmi kocht und abwäscht. Wie siehst du diese Beziehung aus einer feministischen Perspektive?

„Feminismus bedeutet für mich Selbstbestimmung – und die Möglichkeit und Freiheit zu Selbstbestimmung. Wenn jemand freiwillig beschließt, dem Mann die Socken hinterher zu räumen, weil sie*ihn das glücklich macht, finde ich das vollkommen in Ordnung – darüber hat niemand zu urteilen. Wenn das jemand macht, weil sie*er sich vergaloppiert hat, jedoch frei ist, dies jederzeit zu ändern, ist auch das absolut ihre*seine Eigenverantwortung. Die Person muss schon selber draufkommen, dass sie doch nicht so Bock darauf hat, Socken zu sortieren. Wenn diese Aufgaben- und Rollenverteilung jedoch in einem Land passiert, wo im Gesetz steht, Frauen sind die doofen Hühner, die die Socken der Männer wegräumen sollen, dann habe ich ein Problem damit. Und dann bin ich der Meinung, dass man eingreifen und sich engagieren muss, dass sich das Gesetz ändert. Selbstverständlich Hand in Hand mit den Menschen, die dort leben und auf keinen Fall kolonialherrenmäßig, sondern nach dem Rhythmus dieses Landes.“

Aber zufrieden macht Emmi und Bernhard diese Konstellation offensichtlich nicht …

„Emmi und Bernhard haben beide ein zu hohes Verantwortungsbewusstsein und sich deshalb in ihren Rollen verrannt. Auch Bernhard hat das Gefühl, er müsse seinen Dirigentenjob super machen und verpasst dadurch seine Familie. Eigentlich sitzen beide im selben traurigen Boot. Dass sich dieses Ehepaar verrannt hat, ist ein gemeinsamer Schmerz und dass sie die Kurve nicht kriegen auch. Was zwischen Emmi und Bernhard geschieht, ist die traurige Geschichte zweier Menschen, die sich in einem leistungsorientierten System, in dem kein Platz mehr für sie als Paar ist, verrannt haben und den Ausgang nicht mehr finden. Aber ob Emmi abwäscht und sich um die Kinder kümmert, ist ihre Sache. Also ich liebe Abwaschen und Kinder (lacht). Aber ich kann mich frei dazu entscheiden, diese Aufgaben zu übernehmen. Sobald mir jemand anderes vorgibt, dies zu tun, wird es zum Problem. Ansonsten möchte ich bitte nicht beim Abwaschen und mich um die Kinder kümmern bewertet oder belabert werden, sondern gerne ,Fips der Mausebär‘ singen, ohne dass mir jemand auf den Sack geht (lacht).“

„Ich denke, dass man sehr wegbereitend für das eigene Glück sein kann.“

Emmi ist zwar unglücklich in ihrer Ehe, doch die Affäre mit Leo fällt ihr fast schon in den Schoß, sie sucht nicht aktiv danach. Ist diese Begegnung mit Leo Zufall oder Schicksal?

„Hmm… schwer zu sagen. Ich glaube eine Mischung aus Zufall und Fügung. Ich denke, dass man sehr wegbereitend für das eigene Glück sein kann. Ich habe so ein Bild im Kopf, dass das Leben einem Bälle zuwirft und es darauf ankommt, wie man darauf reagiert. Man kann sich sozusagen in Dialog mit dem Leben begeben. Tatsächlich passiert es mir oft, dass Sachen passieren, wo ich denke: ,Ey, das war jetzt so klar, ist ja krass.‘ Ich glaube allerdings, dass diese Dinge naturwissenschaftlich zu erklären sind.“

Wie meinst du das?

„Ich zähle mich zu der Fraktion Mensch, die glauben, dass es Dinge gibt, die wir uns heute noch nicht erklären können, aber naturwissenschaftlich möglich sind – Dinge wie Telepathie. Damit meine ich die Art von Telepathie, die man bereits beobachten konnte und nicht die Art, vor der sich die Aluhutträger fürchten. Vielmehr solche Phänomene wie bei den Aborigines, die an telepathische, also übersinnliche Fähigkeiten glauben. Die spüren, wenn sich jemand aus ihrer Gruppe in fünf Kilometern Entfernung verletzt. Diese geschärften Sinne kennt man auch aus dem Tierreich. Und ich glaube, dass wir Menschen da viel mehr können, als wir ahnen und nutzen.“

„Ich finde es anmaßend zu behaupten, wir seien die Generation, die alle Level wissenschaftlich durchgespielt hat und alles weiß.“

Woher kommt der Glaube an diese Dinge? Das klingt esoterisch …

„Weil ich das einfach logisch finde. Wir sehen, wie bestimmte Tierarten miteinander kommunizieren, ohne genau zu verstehen wie. Gleichzeitig zweifeln wir an uns noch nicht bekannten Formen der Kommunikation. Man kann solche Gedanken als Glaube an Magie und Hokuspokus abtun. Aber wenn man den Menschen vor 200 Jahren gesagt hätte, irgendwann könnt ihr aus Kilometern Entfernung durch einen Apparat miteinander sprechen, wäre die Antwort darauf auch gewesen, ne das wäre dann ja Zauberei und die gibt es nicht. Ich glaube eher, dass wir viel noch nicht erforscht haben, als dass etwas unmöglich ist. Die Menschen haben früher auch gesagt, es sei unmöglich, dass die Erde rund ist. Mit solch absoluten Aussagen sollte man vorsichtig sein, ich finde es anmaßend zu behaupten, dass wir genau sagen können, was möglich ist und was nicht. Das halte ich für unwahrscheinlich und unbescheiden. Und deswegen glaube ich, dass sich Sachen manchmal einfach fügen, ohne dass ich jetzt ein riesengroßes esoterisches Ding dahinter vermute – obwohl das ein*e Esoteriker*in wahrscheinlich auch sagen würde (lacht).“

Ich muss bei deinen Erzählungen immer wieder an den Refrain aus einem Song von Marteria denken, der bis heute als Social-Media-Zitat seine Runden dreht: „Wir leben auf einem blauen Planet [sic], der sich um einen Feuerball dreht, mit ‘nem Mond der die Meere bewegt und du glaubst nicht an Wunder.“

„Genau das ist das Prinzip. Ich finde es auch immer total irre, wenn Mediziner*innen merkwürdig reagieren, wenn man ihnen erzählt, da und da hatte ich die Art von Stress, meine Symptome sind wohl psychosomatisch und die Ärzt*innen dann so tun, als glaube man an Einhörner. In der höchsten Form der Medizin hingegen, auf der Intensivstation, gilt der Kodex: Regen Sie die*den Patient*in nicht auf, Stress ist tödlich. Wenn jemand fast tot ist oder im Koma liegt, kann Stress das Zünglein an der Waage sein und einen Einfluss auf alles Physiologische haben, aber sobald man die Intensivstation verlässt, soll Stress kaum noch einen Einfluss auf die Gesundheit haben? Bei Mediziner*innen denke ich dann jeweils: Leute, ihr seid Wissenschaftler*innen, euch muss doch klar sein, dass dieses Sudoku nicht aufgeht. Ich glaube echt, dass wir sehr viele Sachen noch nicht wissen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, – und in Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte ich eine Eins im Abi (lacht) – dass wir viel mehr noch nicht wissen, als wir bereits erforscht haben.“

„Viele Leute tun Intuition, die wir auch häufig als Bauchgefühl bezeichnen, als Schnickschnack ab.“

Was bis heute nicht abschließend erforscht ist, ist unser Unterbewusstsein. Dabei wissen wir, dass das vielmehr steuert und begreift als unser Bewusstsein …

„Ja, und ich glaube, dass Menschen Sachen antizipieren können. Das ist wie bei eine*r guten Schachspieler*in. Die*der kann antizipieren, dass auf einen bestimmten Zug automatisch ein anderer, ganz bestimmter Zug folgen wird. Da stehen wir auch daneben und denken, dieser Mensch sei ein*e Zauberer*in, aber nein, der*die ist einfach sehr trainiert darin, Sachen zu antizipieren. Viele Leute tun Intuition, die wir auch häufig als Bauchgefühl bezeichnen, als Schnickschnack ab. Doch mir sagte mal ein Harvard-Professor, mit dem ich mich über dieses Thema unterhalten habe, dass Intuition eigentlich nichts anderes ist als extrem schnell abgerufene Erfahrungswerte. Das muss man sich vorstellen wie so einen Supercomputer. Ein schneller Rechner – bei dem kein Mensch mehr durchblickt – der ein Blatt ausspuckt, wo das draufsteht, was wir als Bauchgefühl oder Intuition bezeichnen. Das bedeutet, dass unser Bauchgefühl meistens stimmt, weil es eigentlich eine schnelle Form von Intelligenz ist – zusammengesetzt aus unseren Erfahrungswerten, Beobachtungen und eigener Forschung.“

Für alle, die neugierig auf den Film sind, hier der Trailer von „Gut gegen Nordwind“.

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