Chanukka
Foto: Ksenia Chernaya

Ohhh! Tannenbaum! Vom Erziehungsspagat einer deutsch-jüdischen Mutter 

Wie bringt man einem Kind bei, dass zu Hause Kartoffelpuffer statt Weihnachtskekse serviert werden und der Weihnachtsmann keinen Platz hat? Eine deutsch-jüdische Mutter erzählt vom Spagat zwischen Chanukka und Weihnachten – voller Zweifel, Herausforderungen und kleiner Momente, die zeigen, warum sich der Spagat lohnt.

Bevor unsere Tochter an einem sehr warmen Tag im Mai 2022 geboren wurde, dachte ich: Das bekomme ich hin. Nicht das Erziehen, das Lieben, das Stillen und Kümmern. Mit „das“ meinte ich in vielen Gesprächen mit meinem Mann und meiner Mutter „den Spagat zwischen deutscher Leitkultur und jüdischer Tradition“. Also das, was meine Eltern einst mit meinem Bruder und mir versucht und – das kann ich heute beurteilen – ziemlich erfolgreich geschafft haben: Aus uns sind kritisch denkende, bewusste Juden geworden, die – scheinbar – mühelos ihre respektiven Rollen an- und ablegen können. 

Weihnachten ist omnipräsent. Dekoration, Gesang, Geschenke. In der Schule, an jeder gottverdammten Bushaltestelle, im Kindergarten. Mein Bruder und ich gingen damals in Köln in den (einzigen) jüdischen Kindergarten und wurden dort kindgerecht entsprechend jüdischer Traditionen sozialisiert. Wir besangen nicht die Geburt eines Kindes in Betlehem, sondern erinnerten uns durch Melodien und Erzählungen an den Sieg der Makkabäer über die griechisch-syrische Fremdherrschaft im Jahre 164 vor Christus und die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels. Das sogenannte „Wunder von Chanukka“ besagt, dass die Makkabäer mit einem Kännchen Öl, das nur für einen Tag hätte reichen sollen, ganze acht Tage Licht erzeugen konnten, um den Tempel wieder einzuweihen. Heute zünden wir in Anlehnung an dieses Wunder über acht Tage jeden Tag eine Kerze der Chanukkia an und essen traditionell in Öl gebratene Speisen.  

Keine Weihnachtsbäume, dafür Kartoffelpuffer

Und jetzt erklär mal deinem Kind, wieso wir zu Hause keinen wundervoll dekorierten Baum stehen haben und es Kartoffelpuffer und Berliner gibt, anstatt Weihnachtsschokolade. Denn „das“ ist ein Aspekt des „das bekomme ich hin“. Unsere Tochter geht heute in einen säkularen Kindergarten, da die eine jüdische Kita zu weit weg und die andere uns schlichtweg zu religiös war. Ziemlich irdische Gründe für eine göttliche Herausforderung. Es liegt daher vor allem als jüdische Mutter an mir, unserer Tochter in diesen prägenden Jahren, an die sie sich später gar nicht bewusst erinnern wird, jüdische Traditionen zu vermitteln. Einfacher gesagt als getan, das weiß ich heute. 

„Aber wieso überhaupt das Dilemma?“, könnt ihr jetzt (berechtigterweise) fragen. Wieso können Weihnachten und Chanukka nicht koexistieren? Wieso muss man ein Kind vor die Wahl stellen? Wieso, wieso, wieso? Auf einige der Fragen habe ich klare Antworten, auf andere nicht. Da müsst ihr mit „weil es anders (für uns) nicht geht“ vorliebnehmen. Eventuell spreche ich sogar für viele andere Eltern mit intersektionalen und interreligiösen Lebensrealitäten, wenn ich sage: Assimilation führt nicht immer zu einer reibungslosen Integration von abend- und morgenländischer Kultur oder abrahamitischem Glauben und weltlicher Lebensweise. Jüdinnen und Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts glaubten, durch gezielte Assimilation dem grassierenden Antisemitismus zu entkommen, würden mir sicherlich zustimmen. 

Obwohl mein Vater nichtjüdisch ist, war bereits für meine Eltern klar, dass in unseren vier Wänden kein „Weihnukka“ stattfindet. Viele von euch kennen den Begriff „Chrismukkah“ aus der Serie „O. C. California“, das der Sympathieträger Seth Cohen, gespielt von Adam Brody, der heute bei Netflix einen niedlichen Rabbiner spielt, geprägt hat. Dabei, das habe ich bei der Recherche für diese Kolumne erfahren, entstand das Kofferwort „Weihnukka“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Es ist, wie man auf Neudeutsch sagt, „a thing“.  

Bei uns zu Hause ließ das Aufrechterhalten jüdischer Traditionen, die über Jahrtausende geprägt und weitergegeben wurden, keinen Raum für Verwässerung. Das, was hier sehr technisch klingen mag, ist für mich heute als Mutter ein absolutes Herzensthema. Meine gesamte jüdische Identität ist von Gerüchen, Gerichten und Geschichten geprägt, die am Esstisch meiner Eltern und Großeltern buchstäblich aufgetischt wurden. Mein Mann, der wie mein Vater auch nichtjüdisch ist, und ich möchten das auch für unsere Tochter. Und das in einer Zeit, in der man doch alles andere als jüdisch sein möchte. Also kein Weihnukka. 

Zwischen Chanukka-Malbüchern und Adventskalendern

Jedenfalls finde ich mich in diesen Tagen auf Amazon wieder, wie ich Chanukka-Malbücher für Dreijährige bestelle und auf Google suche, wie man eine Chanukkia aus Klopapierrollen bastelt. Weil das Kind diese Bespaßung nun mal nicht im Kindergarten erlebt. Zuhause laufen Chanukkalieder rauf und runter, die unsere Kleine langsam aber sicher genauso lieben lernt wie ich. Im Kindergarten gibt es Adventskalender, zu Hause lesen wir über mutige Makkabäer. Es geht, es schmerzt jedoch in den „Adduktoren“ – den Muskeln an der Innenseite der Oberschenkel. Der Spagat ist real, für jeden Weihnachtsmann, den unsere Tochter sieht, gibt es zu Hause einen Kartoffelpuffer. Expert*innen unter euch kenne diese unter dem Namen „Latkes“.  

Vor einigen Tagen standen das Kind und ich an der Ampel. Sie im Kinderwagen, ich dahinter. Es regnete, der Verkehr rauschte an uns vorbei. „Mama, sing Ner Li, Ner li“ (ein Lied über das Licht der Chanukkakerzen), hörte ich kaum wahrnehmbar aus dem Plastikverdeck des Buggys heraus. Ich schrie zurück, dass es jetzt nicht gehe. Und sie schrie wiederum, dass ich das Lied sofort singen solle. So stand ich also an der Kreuzung, ohne Regenschirm, mit nassen Haaren, und brüllte ein liebliches Chanukkalied in den Berliner Morgen. Ein Vater, dem ich ein paar Mal auf dem Spielplatz begegnet bin und von dem ich wusste, dass er Israeli war, lief natürlich genau in diesem Moment an uns vorbei. Sein Blick sprach Bände, ich schrie etwas über tanzende Kerzen. „Das bekomme ich hin“, flüsterte ich mir zu, als wir weitergingen. „Das bekomme ich hin!“.  

Heute weiß ich nicht, wie unsere Tochter morgen mit ihrer jüdischen Identität umgehen wird. Wie so viele Mütter zweifle ich, mache mir auch Vorwürfe darüber, dass ich ihr diese Herkunft überhaupt zumute. In letzter Zeit liege ich nachts oft wach und frage mich, ob sich dieser ewige Spagat jemals auszahlen wird.  

Gestern Abend telefonierten wir über Video-Call mit meinem Großvater in Wien. Er ist 92 Jahre alt und strahlt, wenn seine Ur-Enkelin in die Kamera schaut und lustige Dinge erzählt. „Opa Karl“, sagte sie plötzlich, „Mama und ich singen Chanukka-Lieder“ – und ihm lief vor Rührung eine Träne über die Wange. Ihm, den ich in meinem Leben vielleicht zweimal habe weinen sehen. Ihm, der als Zehnjähriger vor den Nazis mit seinen Eltern nach Bolivien floh. Ihm, der auch nur das fortgeführt und weitergegeben hat, was er von seinen Großeltern überliefert bekam. Und dann fiel mir wieder ein, wieso sich dieser ganze Spagat lohnt. 

Ich wünsche uns allen viel Licht in diesen dunklen Tagen. 

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