Foto: Unsplash

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold - nicht immer

Ein Hoch auf verbalen Müll. Wieso ich mich lieber um Kopf und Kragen rede.

 

Im Volksmund heißt es seit jäher Zeit: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Wer wenig bis gar nichts sagt, soll auf seine Mitmenschen angeblich sogar interessanter wirken. Schließlich lasse der bewusste Einsatz von Wörtern jedes einzelne davon wertvoller erscheinen und die Aufmerksamkeit des Gegenübers erhöhen. Wer nicht das richtige Wort zur richtigen Zeit parat hat, sollte also lieber still sein. Zudem ist unnötiges Gerede für viele nicht nur nervig, sondern schlicht und ergreifend verschwendete Zeit und somit Geld. Typisch Leistungsgesellschaft.

Wenn ich genauer darüber nachdenke, scheint der Volksmund zumindest insoweit Recht zu haben, dass mich mein Gequassel schon viel zu oft in die Bredouille gebracht hat. So bin ich in selbstverschuldeten Fettnäpfchen regelrecht baden gegangen oder habe mir nach einem dummen Spruch oder einem unüberlegten Kommentar auf die Lippe gebissen und gedacht: „Hättest du lieber mal den Mund gehalten.“ Unzählige Male habe ich mich schon um Kopf und Kragen geschrieben, geredet, und in postpubertären Wutausbrüchen sogar geschrien.

Mund halten, still sein

Wahrscheinlich wäre Schweigen als Alternative zu dem verbalen Müll, den wir permanent verzapfen, in vielen Fällen die bessere Lösung. Sollten wir also zu unserem eigenen Wohl aufhören, ständig zu reden? Nur wer schweigt, lügt nicht und kann auch nichts Falsches sagen. Verbale Abstinenz als Mittel, um uns Stress und Streit zu ersparen. Nicht umsonst plädiert Autorin Cornelia Topf in ihrem Buch „Einfach mal die Klappe halten: Warum Schweigen besser ist als Reden“ dafür, lieber sparsam mit Worten umzugehen und ihnen dadurch mehr Gewicht zu verleihen.

Auch wenn Schweigen oft als das goldene Nonplusultra gesehen wird, bin ich davon überzeugt, dass uns der Spruch „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ nicht in allen Lebenslagen weiterhelfen kann. Diese Einstellung liegt nicht etwa darin begründet, dass ich es liebe zu reden und es mich viel zu viel Überwindung kosten würde, meine Meinung nicht kund zu tun. Es liegt daran, dass ich die Abgründe des Schweigens kennengelernt habe und es daher selbst gegenüber dem unnötigsten verbalen „Diarrhö“ für das größere Übel halte. Denn wer redet, wird ab und an auch Unsinn von sich geben oder Beleidigungen aussprechen – und sie in den meisten Fällen sofort bereuen. Doch wer schweigt, hat Macht und kann mit ihr viel tiefer ins Innere der Seele eindringen und dort viel größeren Schaden anrichten. Weil und wenn Schweigen als Waffe eingesetzt wird, ist es schlimmer als Reden, schlimmer als Schreien, schlimmer als alles andere.

Schweigen als Waffe

Wie schlimm Schweigen wirklich sein kann, erlebte ich bereits in meiner Kindheit. Da Kinder deutlich mehr von dem verstehen, was um sie herum geschieht, spürte auch ich trotz kindlicher Naivität und meiner Seifenblase aus heiler Welt und Friede, Freude, Eierkuchen, wie sehr meine Mutter darunter litt, dass mein Vater nicht mit ihr redete. Anstatt zu sagen, was ihn störte, strafte er sie mit Schweigen. Tagelanges Ignorieren ohne jeglichen Austausch von Worten oder Blicken. Rücksichtslos spielte er seine schweigsame Macht aus. Als wäre sie gar nicht da. Nervenaufreibende Stille. Ich verstand zwar nicht, was vor sich ging, doch merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Was er letztendlich damit erreichen wollte, weiß ich bis heute nicht. Als Souvenir hinterließ er eine tiefe Wunde in Herz und Seele und einen immerwährenden Schmerz, den meine Mutter bis heute nicht überwunden hat.

So wurde mir in jungen Jahren klar, wie sehr die sonst so hoch gelobte Schweigsamkeit Menschen zerreißen, ja sogar zerstören kann. Schon als Kind lernte ich, dass nicht hinter jedem Schweigen Gold versteckt ist und der volksmündliche Spruch bei zwischenmenschlichen Beziehungen keineswegs Anwendung finden sollte – zumindest nicht, wenn man sie nicht zugrunde richten will. Von meiner Mutter erfuhr ich später, dass sie damals alles dafür getan hätte, um den Grund für das Verhalten meines Vaters herauszufinden. Sie stellte Fragen, redete auf ihn ein, gab es letztendlich auf und schwieg. Gleichzeitig wünschte sie sich, von ihm zur Abwechslung mal angeschrien zu werden. Wie paradox es ist, wenn Schweigen zu einem derartigen Martyrium wird, dass man sich sogar einen Streit herbeiwünscht, nur um irgendeine Interaktion hervorzurufen. Dass sogar Schreie und Gebrüll erträglicher sind als zermürbende Stille.

Vielleicht hat mich diese Kindheitserfahrung zu der eloquenten Quasselstrippe gemacht, die ich heute bin. Selbst wenn viele das als überflüssig, besserwisserisch oder nervtötend bezeichnen würden, sollten wir uns fragen, was das größere Übel ist: Als Labertasche mal zu viel zu reden oder jeglicher Interaktion und Konfrontation aus dem Weg zu gehen? Oder noch viel schlimmer: Schweigen und seine ignorante, egoistische Stille als Mittel einzusetzen, um den eigenen Willen durchzusetzen?

Eine moderne Geistergeschichte

In diesem Zusammenhang wird neuerdings auch von „Ghosting“ gesprochen. Es handelt sich um eine Verhaltensweise, bei der ein Mensch ohne jegliche Erklärung wie ein Geist aus dem Leben eines anderen verschwindet. Laut Psychologin Miriam Junge meidet der sogenannte „Ghost“ die direkte Konfrontation und verlässt seinen Partner ohne ein einziges Wort, da es der Weg des geringsten Widerstandes ist. Widersprüchlicherweise glaubt der „Ghost“, dadurch die Gefühle des anderen zu schützen, macht es für den Verlassenen letztendlich aber nur schlimmer, weil dieser mit vielen Fragezeichen vor einem Scherbenhaufen zurückbleibt.

Als ich das erste Mal von „Ghosting“ hörte, machte ich mich zunächst darüber lustig. So etwas gäbe es doch gar nicht und wieso die Wissenschaft Menschen neuerdings mit Geistern vergleiche. Dieses Lachen verging mir jedoch recht schnell, als ich genau diese Verhaltensweise in meinem eigenen Freundeskreis miterlebte. Anfangs sah es nach einer klassischen Trennung aus: Mann und Frau beenden ihre Beziehung, reden einige Zeit danach nochmal darüber, raufen sich entweder zusammen oder eben nicht. Allerdings entwickelte sich der vermeintliche Klassiker in eine dieser Geistergeschichten, denn am Tag der Trennung sahen sie sich zum letzten Mal. Danach war er wie vom Erdboden verschluckt. Auf ihre Emails und Bitten, es nochmal zu versuchen und ihre späteren, resignierten Nachfragen, wann er seine restlichen Sachen abholen würde, kam keinerlei Reaktion – Überforderung, Vermeidung, Flucht – als hätte sie nie gefragt. Bis heute bringt er ihren Kontaktversuchen lediglich Schweigen entgegen. Dass dies unerträglicher und unverständlicher für sie ist, als wenn er einfach seine Sachen holen und damit einen letzten, klaren Schlussstrich ziehen würde, ist jedem halbwegs emphatischen Menschen klar. Dem überforderten, feigen Geist jedoch nicht. Für ihn scheint jeder Weg leichter als die Konfrontation. Das Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ kommt hier gerade recht. 

Selbst wenn Schweigen als Kommunikationsmittel – richtig angewendet – ein wirkungsvolles Statement sein kann, zeigen diese beiden Beispiele, seine dunkle Seite und was man damit anrichten kann. Wenn Schweigen missbraucht wird, ist es alles andere als gülden. Daher bin ich dankbar für jedes noch so unüberlegte Geplapper, für den verbalen Müll, den wir tag täglich von uns geben, für das um “Kopf und Kragen”-Gerede und für jedes noch so tiefe Fettnäpfchen. Im falschen Moment zu reden oder das Falsche zu sagen ist immer noch besser, als im falschen Moment zu schweigen.

Wenn das Sprichwort stimmen und Schweigen wirklich Gold sein soll, bin ich lieber Silber.

______

[Zuerst veröffentlicht auf medium.com]

Anzeige