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Ghosting: Wenn der Herzensmensch ganz plötzlich verschwindet

Schluss machen ohne Schluss zu machen, genau das beschreibt „Ghosting“. Ein psychologisches Phänomen, bei dem einer den anderen ratlos und verletzt zurücklässt. Was es damit auf sich hat und welche Mechanismen dahinterstecken, erklärt Psychologin Miriam Junge.

 

Ghosting: Ein modernes Dilemma?

Es
scheint ein modernes Dilemma zu sein: „Schatz, ich bin kurz Zigaretten holen“,
sprach es und ward nie wieder gesehen.

Was
klingt wie ein Satz aus einem Film oder eine urbane Legende, ist ein psychologisches Phänomen:
Ghosting.

Eine Person bricht plötzlich den Kontakt mit jemandem
ab, ohne Erklärung – beendet eine Beziehung, indem er oder sie einfach
verschwindet. Die Person wird nicht mehr erreichbar sein, sich verleugnen
lassen und weder auf Nachrichten und Anrufe, noch auf Briefe reagieren.

Die Ghosts hoffen, dass ihre Botschaft auch ohne Worte ankommt

Der sogenannte „Ghost“ meint damit, die Gefühle des anderen zu schützen,
aber erreicht genau das Gegenteil und beweist, dass er mehr an sich selbst, als
an den anderen denkt. Ghosts hoffen, dass die Botschaft beim „Ghostee“ ankommt
– ohne verletzende Dinge sagen zu müssen, wie „Ich liebe dich nicht“ oder „Ich
möchte keine Beziehung“.

Der Ghost verfährt nach dem Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“.

Aber was sollte einen Menschen dazu bringen einfach
aus einer Beziehung zu verschwinden – ohne klärende Worte?

Heute scheint es umso leichter Menschen zu verlassen.
Genauso leicht, wie man Menschen kennenlernen kann. Mit einem Tinder-Wisch nach
links oder rechts entscheiden wir, was gefällt oder nicht. Der oder die nächste
wartet schon beim nächsten Online-Portal.

Gespräche wie „Es-liegt-nicht-an-dir-es-liegt-an-mir-aber-war-schön-gewesen“
werden überflüssig. Der Mensch gegenüber wird lediglich als Profil
wahrgenommen, weniger als Mensch. Und wenn alles nur einen Wisch kostet, braucht es wenig menschliches
Engagement, um ein Kennenlernen oder eine Beziehung zu beenden.

Ist Ghosting das Ergebnis unserer digitalen Gesellschaft?

Aber ist dieses Phänomen wirklich nur mit der Schnelllebigkeit unserer
digitalen Gesellschaft zu erklären? 


Fest steht: Das Problem liegt beim Ghost. Nicht beim Zurückgelassenen!

Der Ghost ist ein Mensch, der allen Konfrontationen und den damit
verbundenen Konsequenzen aus dem Weg geht. Ihm
fehlt die Fähigkeit Empathie zu empfinden. Er meint, indem er ein echtes,
verbales Schluss-machen vermeidet, die Gefühle des anderen zu schützen.

Dabei
übersieht er aber, dass er damit in Wirklichkeit nur Ungewissheit, Verwirrung
und am Ende eine noch viel größere Enttäuschung stiftet.

Überforderung, Vermeidung, Flucht

Wenn
jemand ohne ein Wort verschwindet, geht er den Weg des geringsten Widerstands.
Für das Gegenüber aber ist es das Schlimmste, keine Antworten zu bekommen.
Wenn Menschen sich selbst löschen, Handynummer oder gar Kontoverbindung ändern,
dann hat das schon etwas von einem persönlich auferlegten Zeugenschutzprogramm.

Der Aufwand, auf diese Weise aus einer Beziehung zu verschwinden, ist zwar um
ein vielfaches höher, erscheint dem Ghost aber die einzige Möglichkeit und
resultiert aus der fehlenden Bereitwilligkeit sich auseinander zu setzen.
Aus einer Überforderung, aus Vermeidung von Kommunikation wird schließlich
Flucht. Denn alles scheint leichter, als Konfrontation.

Unterdessen
fragt sich der Zurückgelassene, was passiert ist.

Viel
Arbeit, Krankheit, ein Unfall?
Und als nächstes: Was hab ich falsch gemacht? Warum so plötzlich, ohne Anzeichen?
Vielleicht neigte der Ghost zu Schwarz-Weiss-Denken, hat schon immer unter der
Devise „Ganz oder gar nicht“ gehandelt. Aber einfach verschwinden?

Der Verlust fühlt sich an wie ein Todesfall

Es ist für den, der sitzengelassen wird, vergleichbar mit dem Verlust durch
einen Todesfall. Ein Mensch ist gelöscht, nicht mehr verfügbar, nie wieder. Es
gibt also keine Antworten mehr auf die Fragen. Man projiziert ins Leere,
Kommunikation ist unmöglich. Beim Tod eines Menschen ist das ganz natürlich.
Nur wenn sich jemand aus dem Staub macht, ist es unerklärlich für den
Zurückgelassenen.

Man
schwankt zwischen Schockstarre, nicht wahrhaben wollen, Zweifel,
Trauer und Wut
, bis man schließlich eine eigene Art von Akzeptanz für sich
findet und damit auch die nötige Distanz zu der Person herstellen kann.

Doch
was, wenn das „sich Fragenstellen“ auch nach einem längeren Zeitraum nicht
aufhört, weil man einfach keine Antworten bekommt?
Man sollte sich nicht scheuen professionelle Hilfe zu holen. Denn schließlich
ist es ein großer Verlust, wenn ein geliebter Mensch auf einmal nicht mehr da
ist – egal aus welchen Gründen!

Irgendwann muss man sich vom Drang, krampfhaft zu analysieren lösen

Das
Durchleben von verschieden Phasen der Loslösung, des Abschieds – die in
gewisser Weise die selben Phasen sind, wie beim Tod eines nahe stehenden
Menschen – sind zwingend notwendig. Nur so kann dieser komplette
Kontrollverlust und das Gefühl des Fremdbestimmtseins verarbeitet werden.
Das braucht mal mehr, mal weniger Zeit. Am Ende dieses Prozesses sollten
Akzeptanz und Selbstvertrauen stehen. 

Die
Akzeptanz kann hier bedeuten, das für einen selbst Unerklärliche nicht mehr krampfhaft
analysieren zu müssen.

Wir erkennen: Jedes Individuum hat verschiedene Mechanismen mit Konflikten
umzugehen.

Das
Pferd flieht.

Das
Raubtier greift an.

Das
Chamäleon tarnt sich.

Das Reh erstarrt im Scheinwerferlicht.

Der
Mensch hat die Möglichkeit selbstbestimmt zu wählen.

Entscheidet er sich nun aber gegen Kommunikation –
für den sprichwörtlichen Gang zum Zigarettenautomaten, hätte man stattdessen wohl
doch lieber eine Schluss-mach-Floskel gehört.


„Es liegt nicht an dir.“


Und das tut es in diesem Fall nun wirklich nicht.
 

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