Foto: Yvonne Ineichen

Spiegelbilder

Nichts ist selbstverständlich. Und doch vergessen wir das oft. Dass Kleinigkeiten, seien es nette Worte oder Gesten, Grosses bewirken. Bei uns und beim Gegenüber.

 

Special Effects zieren den Himmel. Unzählige Wolken in facettenreichen Grautönen lassen es regnen. Der Wind rauscht durch die Blätter und die Grashalme wiegen sich im Takt. Ein missmutiger Tag, der viele in ihren Wohnungen behält. Ein paar wenige nur, die ihm trotzig die Stirn bieten und sich aufmachen, die Natur trotzdem, oder gerade deswegen, zu geniessen. Ich selbst mag graue Tage. Weil sie dazugehören. Weil es auch den Regen braucht, dass die Natur gedeiht. Dass Blätter saftig grün strahlen, die Blumen in die Höhe schnellen.

Es ist der Wechsel von Grau und Blau, von Sonne und Regen. Das grosse Ganze. Unser Leben auch, nicht wahr? Natürlich wünschen wir uns permanenten Sonnenschein. Doch, würden wir dann, sonnengeblendet und irgendwann sonnenblind, die Sonne überhaupt noch sehen und wertschätzen? Oder wäre sie einfach selbstverständlich? So wie wir vieles für selbstverständlich erachten. Die Wohnung, das Lachen, die Lieben um uns, das Leben an und für sich. Die Tatsache, dass wir zu essen haben und uns frei bewegen dürfen. Wir leben in einem paradiesischen Land. Und sehen es oftmals nicht. Weil wir so damit beschäftigt sind, irgendetwas hinterher zu rennen. Höher, schneller, weiter, mehr und mehr. Und dann ists vielleicht irgendwann mal gut. Zumindest für den Moment. Bis dann das Nächste ansteht. Ich nehm mich da nicht aus. Es gibt Tage, da bin ich so mit Tun beschäftigt, dass ich Sein beinahe vergesse. Zum Glück ist mein Körper ein wunderbares Metronom. Er zeigt mir ganz schnell und deutlich an, wenn ich aus dem Takt gerate. Und das Leben hat mich gelernt, hinzuhören.

Einfach Danke sagen

Jetzt, an diesem wunderbaren Regentag bin ich voll bei mir. Erfreue mich am Grau des Himmels und am Grün der Bäume. Schon von Weitem sehe ich sie. Die zwei Gestalten, die im Regen wandern. Beide in leuchtende Farben gepackt. Er trägt einen riesengrossen knallroten Poncho. Sie eine orangene Jacke, den roten Schirm mit weissen Punkten in der Hand. Die weissen Punkte hüpfen bei jedem Schritt lustig auf und ab – sie tanzen mit den Regentropfen. Ein herrliches Bild. Was mein Herz aber wirklich zum Hüpfen bringt? Die zwei Wanderer, Mann und Frau, gehen Hand in Hand durch den Tag. Es scheint, dass sie sich angeregt unterhalten. Immer wieder sucht einer lachend den Blick des anderen. Sogar von weit entfernt kann ich spüren, wie viel Wertschätzung und Liebe in dieser kleinen Geste liegt. Da fläzt sich mein Herz in den Liegestuhl und geniesst die Szenerie voller Freude. So viel Licht an einem grauen Tag … Irgendwann bin ich auf gleicher Höhe, bleibe stehen, weil ich etwas loswerden muss: «Euer Anblick ist einfach herzerwärmend. Es ist so schön zu sehen, wie ihr gemeinsam durch den Regen wandert und Spass dabei habt.» Zwei Augenbrauenpaare schiessen in die Höhe. Der Ausdruck auf dem Gesicht erst erstaunt, dann erfreut. Begleitet von der Aussage: «Ach, lieben Dank. Das ist für uns so normal. Wir sind schon so lange gemeinsam unterwegs.» Wir versinken in eine angeregte Plauderei. Tauschen uns über das Leben, die Natur und … darüber aus, was Menschen am Ende des Tages wirklich verbindet. Verabschieden uns, als die nasse Kälte langsam in die Glieder kriecht und sie steif werden lässt. «Vielen Dank für das liebe Kompliment. Wir wissen eigentlich, dass wir reich beschenkt sind. Doch tut es grad gut, das auch wieder mal zu hören», sind ihre Abschiedsworte.

Du bist grossartig

Ist es nicht immer so? Das was für einen selbstverständlich (man betrachte die Wortkombination: selbst-verständlich) ist, betrachten andere als ein grosses Geschenk? Nichts ist selbstverständlich! Darum darf man auch kommunizieren, was einen erfreut. Den Blick aufs Handy oder den Boden gerichtet hetzen wir durch die Strassen. Wie oft sind wir so unterwegs? Anstatt den Menschen einfach wieder mal in die Augen zu sehen. Und ein Lachen zu schenken. Es ist faszinierend zu beobachten, was es mit dem Gegenüber macht. Erstaunen, Verwunderung, Verwirrung, Freude. Und es ist ebenso faszinierend zu realisieren, was es mit einem selbst anstellt. Wie einfach ist es, jemanden etwas Sonne in den Tag zu zaubern? Was kostet ein Kompliment? Nichts. Und warum sind wir dann so sparsam damit? Ganz ehrlich: Wann hast du zum letzten Mal zu jemandem gesagt: «Ich find dich grossartig. Danke, dass du Teil meines Lebens bist?» Das darf man übrigens auch, wenn man in den Spiegel blickt. An Regentagen genauso wie an Sonnentagen.

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