Jeden Montag schreibt Christiane Brandes-Visbeck über Digital Leadership. Heute darüber, wie der Servant-Leadership-Style auf die Debatte über Zuwanderung in Deutschland angewendet werden kann.
Genau hinschauen
Als digitalaffiner Mensch lese ich gern auf Twitter, was in der Welt so los ist. Im Moment macht es mir wenig Spaß, denn vieles von dem, was ich lese, sind oberflächliche Antworten auf komplizierte Fragen. Wer innovativ und disruptiv sein möchte, um die Herausforderungen der digitalen Transformation zu meistern, sollte die Gegebenheiten in der Welt möglichst sachlich und vorurteilsfrei analysieren.
Wenn ich in die Welt schaue, bekomme ich Bauschmerzen. Nehmen wir beispielsweise die Frage der Geflüchteten, die Deutschland gefühlt zu zerreißen droht. Warum? Weil kaum einer genau hinschaut. Weil es so viel leichter ist, zu pöbeln, zu verhöhnen, sich lustig zu machen oder sich intellektuell überlegen zu fühlen oder in der Masse zu verstecken. Ich meine das durchaus für jede Seite. Jeder schiebt der anderen Seite die Schuld an der Misere zu. Die Menschen, die keine Geflüchteten in Deutschland wollen, schimpfen auf Angela Merkel, die Lügenpresse und die Political Correctness, die es allen verbietet, die „Wahrheit“ zu sagen.
Die Menschen, die sich der Mitmenschlichkeit verpflichtet fühlen, klagen über die hartherzigen Rassisten, die tumben Braunen und über das ostdeutsche Pack. Und die Tonart wird von Tag zu Tag schärfer. Eifrige Kolumnisten verhöhnen Andersdenkende. Hasserfüllte Menschen bedrohen Fremdaussehende. Sogar mit den Mitteln der Polizeigewalt. Alles eskaliert. Russische Politiker freuen sich. Europa-Gegner feixen. Und all jene, die hoffen, im drohenden Chaos mehr Macht und Einfluss zu gewinnen, warten auf ihre große Stunde. Was nützen uns da die wenigen reflektierenden Stimmen, könnte man meinen, die wie Anja Reschke, Journalistin des Jahres, sinngemäß öffentlich sagen: Ich weiß nicht, wo die Wahrheit liegt. Ich kann nur zuhören, hinschauen und über das berichten, was sich mir zeigt. Der Kontext, in den ich alles einordne, ist meiner. Ich bin subjektiv, andere Menschen sind subjektiv. Erst in der Vielfalt unserer Beobachtungen zeigt sich – vielleicht – das, was ist.
Kennst du den Servant-Leadership-Style?
Und wenn ich jetzt weiter denke und diese Situation auf die Unternehmensführung übertrage, dann spüre ich, wie immens die Verantwortung ist, die auf uns allen, besonders aber den Führungskräften, lastet. Wie offensichtlich vermessen mein Anspruch ist, euch mit dieser Kolumne davon zu überzeugen zu wollen, als echter Digital Leader mutig und entschlossen in die ungewisse Zukunft zu gehen. Eure Truppen mit eurer sozialen Kompetenz auf Spur zu bringen, mit nichts als der Vision von einer wirtschaftlich profitablen und menschlich besseren Welt. Ganz ehrlich? Ich hatte schon überlegt, dieses Projekt aufzugeben. Denn wer bin ich, dass ich es mir anmaße, euch zu erzählen, wie Erfolg im digitalen Wandel funktioniert? Was verstehe ich schon von eurem Business? Was weiß ich über eure Kunden und Mitarbeiter, von dem feinen Netz der fragilen Befindlichkeiten, das euch umgibt?
Doch dann war ich Gast bei dieser Abendgesellschaft. Ein intimes Dinner in ausgewählter Runde. Man redete über dies und das, das Domizil auf „der Insel“ (Sylt), die katastrophale Verkehrsführung in Hamburg, die architektonisch misslungene Hafencity. Und auf einmal kam das Gespräch auf die Lange Nacht der ZEIT. Über diese bemerkenswerte Veranstaltung steht auf der Website zeit.de unter Leserservice Folgendes zu lesen:
Die Lange Nacht der ZEIT
Hamburg • 20. Februar 2016 • #zeitnacht • #70jahrezeit
Die ZEIT wird 70 Jahre alt und wir möchten dieses Ereignis mit Ihnen feiern! Kommen Sie am 20. Februar zur dritten Langen Nacht der ZEIT! Mit rund 30 kostenlosen Veranstaltungen an 15 besonderen Hamburger Orten wollen wir mit Ihnen gemeinsam den 70. Geburtstag unserer Wochenzeitung feiern.
So facettenreich wie DIE ZEIT selbst sind auch die angebotenen Veranstaltungen und geladenen Gäste. ZEIT-Autoren treffen auf große Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft – und auf Sie! Verfolgen Sie die Lange Nacht der ZEIT auch auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/veranstaltungen-live
Einer der Gäste, offensichtlich einst in führender Position in jenem Verlag beschäftigt, beklagte sich bitterlich über diese Art und Weise, wie das Jubiläum in diesem Jahr gefeiert werde. Vor zwanzig Jahren habe man die Mitarbeiter noch ins Hotel Atlantic eingeladen, das hatte Stil. Heute dürfe man zum Dank an einem dieser vielen Standorte arbeiten, um diese Leser-Events zu ermöglichen, und hinterher in der Verlagskantine feiern. Das ist doch nur was für junge Leute, so der Tenor seiner Äußerungen.
„Pling“, machte es in meinem Kopf. Das ist ein super Beispiel für den Servant Leadership Style, einer Variante des Transformational-Leadership-Styles, die gern dann gelebt wird, wenn man Mitarbeiter, Kunden oder andere Stakeholder besonders wertschätzen möchte. Man dient ihnen als Dank für ihren Einsatz und ihre Treue. Das ZEIT-Management hat dies offensichtlich erkannt und deshalb alle Menschen eingeladen, mit ihnen zu feiern. Nicht nur die Vertriebspartner, Großkunden und Edelfedern, sondern JEDERMANN durfte dabei sein, der eine Karte ergattern konnte. Ich finde das groß.
Und jetzt, ihr lieben Chef_innen kommt der Clou. Als Führungskraft ist es eure Aufgabe, eure Mitarbeiter von der Idee zu überzeugen, dass sich ihr Einsatz lohnt. Dass es Spaß macht, beispielweise Leser zu treffen und sie in die Welt der Zeit einzuführen. Dass es inspirierend ist zu hören, wie die Zeit und ihre Spin-Offs beim Leser/Nutzer ankommen. Dass man Feedback bekommt, das möglicherweise Ideen birgt für neue Projekte und Produkt-Optimierungen. Und dass es ein ganz tolles Gefühl sein kann, an einem ganz besonderen Tag anderen Menschen zu „dienen“ und mit ihnen zu feiern in ehrlicher Dankbarkeit.
Viele zeitgemäße Chefs wissen das. Sie bereiten einmal im Monat das Frühstück für ihr Team zu. Sie schenken jedem Mitarbeiter Kaffee ein und erkundigen sich nach seinem/ihrem Befinden. Wer dient, übernimmt Verantwortung. Wer dient, kann zuhören und Menschen, die anders denken als man selbst, eher zum Umdenken anregen als jemand, der in seiner Filterblase bleibt und von oben herab auf Andersdenkende schimpft.
Rechtzeitig miteinander reden – auch und gerade als Chef
Zurück zur Gesellschaft und meiner Fassungslosigkeit ob der harten, spöttischen, menschenverachtenden und unwürdigen Äußerungen, den zumindest auf der einen Seite zunehmend entsprechende Taten folgen. Wenn wir Menschen, die anders denken, nicht dienen wollen oder können, dann sollten wir ihnen wenigstens zuhören. Zumindest solange sie uns noch ein wenig gewogen und gesprächsbereit sind. Wenn wir uns aber über sie erheben und – im übertragenen Sinne – lieber im Atlantic Hotel feiern, dann kann es zu spät sein. Vielleicht kommen wir dann in die zweite Phase, die Selbstdistanzierung.
Kurz bevor ich das Thema „Dienen“ für die heutige Kolumne identifiziert habe, begegnete mir auf Twitter dieser Gedanke:
„Mein Lieblingsmotiv bleibt die Selbstdistanzierung. Nazis die Menschlichkeit abzusprechen bedeutet, sich freimachen von Verantwortung.“
— Moog (@nichtschubsen) 21. Februar 2016
Selbstdistanzierung (danke @nichtschubsen, für diesen Begriff, den ich noch nicht kannte) als Entlastung und Flucht aus der Verantwortung. Dieses Phänomen könnte man auch mit Schuld verschieben oder nicht zuständig sein übersetzen. Es kommt immer auf das Gleiche hinaus: Wir wollen mit einer problematischen Sache, die und umgibt, nichts zu tun haben. Wir waschen unsere Hände in Unschuld und geben schnell den Schwarzen Peter weiter.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die digitale Transformation und unsere gesellschaftspolitischen Schwierigkeiten nur dann meistern werden, wenn wir hinschauen, hinhören und uns mit denjenigen, die anders denken als wir, schon sehr, sehr früh auseinandersetzen. Lieber zuhören statt zu werten. Umdenken durch Vorbild und Freundlichkeit anregen, bevor sich die Fronten verhärten und alles zu spät ist. Im Unternehmen könnten wir Menschen entlassen oder in den Ruhestand verabschieden, wenn wir mit ihnen nicht einer Meinung sind. Als Gesellschaft können wir das nicht. Und als Vorgesetze sollten wir das nicht.
Für solche Gedanken schreibe ich diese Kolumne weiter. Was sagt ihr dazu?
Habt eine vielstimmige Woche. Bis zum nächsten Montag, wenn es wieder heißt „Thank God, it’s Digital Leadership Monday!“
Christiane Brandes-Visbeck ist Journalistin, Führungskräfte-Coach und Digital Strategin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf „Digital Leadership“. Ferner engagiert sie sich als Quartiersleiterin Hamburg für die Digital Media Women und im Beirat unterschiedlicher Digital-Initiativen.
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