Foto: pixabay.com

Wie die Komplexität unserer Welt uns krank macht

Oder: Warum ich mich nicht besonders für Julia Engelmann begeistern kann…

 

Neben der Begeisterung für Julia Engelmann hat es auch viele Kritiker gegeben. Kritiker, die sich gefragt haben: „Ist das euer Ernst? Die findet ihr so toll? Warum? Sie kaut doch nur wieder, was wir sowieso alle jeden Tag denken!“ Und ich kann sie verstehen. Julia Engelmanns Ansatz gefällt mir nicht. Er ist profan, er ist Mainstream, übermodern und angepasst. Oder nicht? Sie suggeriert uns das, was uns sowieso jeden Tag suggeriert wird – von den Medien, von der Konkurrenz untereinander, den Postings unserer zahlreichen Facebook-Freunde, allgemein von unserer stetig nach Fortschritt heischenden, schnellen, komplexen, schwindelig machenden, grenzenlosen neuen Welt. Ist es nicht krank machend, wenn ich mir überlege, dass tatsächlich von mir erwartet wird, JEDE der zahlreichen tausend Möglichkeiten auf diesem Planeten zu nutzen – oder auch nur zu überdenken, in Betracht zu ziehen, mich mit ihr auseinanderzusetzen? Ist es nicht gerade das, was unsere Welt krank macht? Das Gefühl, IMMER irgend etwas zur Zeit NICHT machen zu können, eine Option auszuschließen? IMMER wählen zu müssen zwischen tausenden Möglichkeiten und zu allen einen Bezug zu haben, eine Meinung? Stets rechtfertigen können zu müssen, warum wir gerade dies und nicht jenes wollen? Warum wir dieses oder jenes noch nicht ausprobiert haben? Nicht mehr… Sport machen? „Aber dann hätten wir weniger Zeit für unsere Kinder.“ – „Ja aber, da könnte man doch…!“

Es ist anstrengend.

Anstrengend, wenn beispielsweise aus der neuen Möglichkeit, um die Welt zu reisen, uns fremde Länder anzusehen, Auslandsaufenthalte zu einem Teil unseres Lebenslaufs zu machen, ein Zwang wird. Der Fast-alle-haben-es-gemacht -nur-du-nicht- Zwang. Der Zwang, nicht eine Möglichkeit zu nutzen, sondern ein Must-Do zu erfüllen. Ein Langweiler, „out“, „retro“ oder zu ängstlich zu sein. Nicht abenteuerlustig und unabhängig genug, zu sehr an seinem Zuhause zu hängen. Es ist anstrengend, wenn ich ständig die Ansprüche erfüllen muss, welche uns die Unzahl der heute offen stehenden Optionen aufoktroyieren. Wenn ich den ganzen Tag, das ganze Leben nur damit beschäftigt bin, drüber nachzudenken, zu reflektieren, welche hier die beste Entscheidung sei. Und wie es hätte laufen können, wenn ich eine andere getroffen hätte. Was ich verpasst habe und ob es auch wirklich richtig war, die eine Möglichkeit zu ergreifen und dafür auf die andere zu verzichten.

Und das ist genau das Problem, das unsere Gesellschaft hat. Es ist gar nicht MÖGLICH, alle Möglichkeiten zu nutzen, und es ist auch nicht erstrebenswert, dies möglich zu MACHEN. Julia Engelmanns Idee, dass wir alle Ideen und Optionen in die Tat umsetzen sollten; dass es ein Problem ist, dass wir dies nicht tun, ist ein völlig falscher Ansatz. Denn im Grunde ist es genau umgekehrt: Woran wir alle wirklich kranken, ist die Tatsache, dass wir nie nie nie zufrieden sind.

Anzeige