Unternehmen müssten sich aktiv – und stärker als bisher – für Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen. Ärztin und Betriebswirtin Dr. Natalie Lotzmann, Leitung des Gesundheitsmanagements bei SAP, erklärt, warum das beiden Seiten nützt.
„Obstkorb und Gesundheitskurs genügen nicht“
Nicht nur Führungskräfte stehen heute mehr denn je unter Druck. Denn in Unternehmen wird allen mehr abgefordert: Firmen sollen innovativ und wettbewerbsfähigsein, nachhaltig wirtschaften und dennoch profitabel sein. Und das alles unter den Rahmenbedingungen des globalen Wettbewerbs und unter lokalen Gegebenheiten wie des Fachkräftemangels oder gesetzlicher Regulation.
Was außerdem viel für Menschen in der Wirtschaft verändert: die Digitalisierung. Sie gehört zu den wichtigsten globalen Treibern eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels, der die Arbeitswelt revolutioniert: Sie ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle, zerstört aber auch alte, langjährig erfolgreiche Denkweisen. Sie schenkt Unternehmern wie Beschäftigten neue Freiheiten, birgt aber ebenso neue Risiken: So komfortabel es erscheinen mag, Berufliches von unterwegs oder von der heimischen Couch aus zu erledigen, so belastend kann es sein, immer und überall erreichbar zu sein und nie wirklich „offiziell“ Feierabend zu haben. Die neuen Möglichkeiten und Freiheiten,die die Digitalisierung uns schenkt, können sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn wir nicht selbst Grenzen setzen.
Die Strecke zwischen Freiheit und Selbstausbeutung, zwischen dem sinnvollen Nutzen von Optionen und Nicht-mehr-Abschalten können ist kurz. So erstaunt es nicht, dass psychische Belastungen, und mit ihnen psychische Erkrankungen in den letzten Jahren stark zugenommen haben – laut einer Statistik der AOK zwischen 2003 und 2014 um 44 Prozent. Die volks- und betriebswirtschaftliche Bedeutung liegt auf der Hand. So ist laut Statistischem Bundesamt dieZahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen bereits auf über 50 Millionen gestiegen und die direkten Krankheitskosten belaufen sich auf über 30 Milliarden Euro proJahr.
Dabei wird deutlich: Das Thema Gesundheit hat nicht nur eine individuelle Dimension. Es reicht nicht aus, Stressbewältigungskurse anzubieten, Lauftreffs zu organisieren, einen Obstkorb im Besprechungsraum aufzustellen oder Massagen zu ermöglichen. Wenn wir wissen,dass ein Großteil der Rückenbeschwerden auf vermehrte muskuläre Anspannung infolge von Belastung zurückzuführen ist, wie nachhaltig ist dann eine„Rückenschule“? Der herkömmliche Ansatz, Gesundheit individuell zu fördern, greift betriebswirtschaftlich entschieden zu kurz.
Wohlbefinden, Gesundheit, Produktivität
Um den Zusammenhang zur Produktivität herzustellen, muss der Begriff der Gesundheit um eine organisationale Komponente erweitert werden. Während die Verantwortung für die eigene Gesundheit immer bei jedem Einzelnen verbleibt, trägt ein Unternehmen Verantwortung für die Rahmenbedingungen, die es dem Einzelnen ermöglichen, diese Eigenverantwortung wahrzunehmen – oder eben auch nicht.
Zu diesen Rahmenbedingungen zählen nicht nur ergonomische Arbeitsplätze oder die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften, der Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen und Gesundheitskursen, sondern auch personalwirtschaftliche Angebote wie flexible Arbeitszeiten,moderne Schichtsysteme, lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle, oder auch die Bereitstellung moderner Kommunikationstechnik.
Entscheidender als das „was“ ist dabei das „wie“. Der Ton, die Haltung, die Unternehmenskultur – insbesondere die Führungskultur, aus der heraus „die Haltung“ gegenüber dem einzelnen Menschendeutlich wird. Diese Haltung – von fürsorglich über gleichgültig bis abwertend –wird von den Beschäftigten wahrgenommen und ist entscheidend für das Ausmaß von Wohlbefinden, Identifikation und Engagement.
Die gesunde Organisation- eine Frage der Führung
Wie sieht die gesunde Haltung aus,die eine gesunde Kultur prägt, wer trägt die Verantwortung und wie ist sie messbar?
Eine gesunde Haltung wird konkret erlebbar durch das Verhalten der Führungskräfte. Erlebte Anerkennung, Wertschätzung, Fairness, angemessene Beteiligung an Entscheidungen, Handlungsspielräume, persönliche Unterstützung – das sind wichtige Kennzeichen einer gesunden Führungskultur. Sie greift mit den betrieblichen Rahmenbedingungen ineinander und ermöglicht den Angestellten sowohl gesund zu bleiben als auch sie dazu zu ermutigen, ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen.
Damit spielt die Führungskultur eine ganz zentrale Rolle innerhalb der Unternehmenskultur: als Hinderer oder Förderer individueller Gesundheit und Leistungsfähigkeit ebenso,wie als Hinderer oder Förderer der organisationalen Gesundheit und damit des Engagements und der Produktivität der Belegschaft
Wenn Unternehmen es als Teil ihres Personalmanagements betrachten, ihren Angestellten ein gesundes Leben zu ermöglichen, sollten sie dieses Bemühen auch messen können.
Da das Erlebender Unternehmenskultur ebenso subjektiv wie relevant ist, führt kein Weg daran vorbei, die Mitarbeiter direkt zu befragen, wenn man effektiv steuern will. Mitarbeiterbefragungen sind der zentrale Schlüssel für Personalmanagement.
Gesundheit zahlt sich aus – für alle
Wer in die psychische und physische Widerstandsfähigkeit seiner Mitarbeiter investiert, hat einen wichtigen Aspekt erkannt, der ein Unternehmen nachhaltig erfolgreich macht. Und wie in anderen Strategiebereichen auch müssen Erfolge gemessen werden können.
Ein Beispiel aus meiner Praxis: mein Unternehmen hat bereits 2009 den Business Health Culture Index geschaffen und den Einfluss auf das Unternehmensergebnis untersucht. Der Index beschreibt die wahrgenommenen Rahmenbedingungen, die es dem einzelnen ermöglichen gesund zu bleiben und wird jedes Jahr im integrierten Geschäftsbericht veröffentlicht. Jedes Prozent, um das sich der BHCI verbessert, bringt der Firma etwa 65 bis 70 Millionen Euro mehr Gewinn. Damit sind Investitionen in eine Gesundheitskultur im Unternehmen kein Nice-to-have, sondern ganz klar ein ökonomisches Gebot.
Ein Unternehmen, das sein betriebliches Gesundheitsmanagement in die Personalstrategie integriert und systematisch in seine Kultur investiert, hat neben der erhöhten Produktivität auch bessere Voraussetzungen, um Mitarbeiter für sich zu gewinnen und zu halten. Arbeit macht in einem solchen Umfeld einfach mehr Spaß – und daher lohnt es sich für jedes Unternehmen in die Gesundheitskultur zu investieren. Beratung zu diesen Themen gibt es unter anderem über das Programm unternehmensWert:Mensch, das Firmen dabei begleitet, ihre Personalpolitik mehr auf die Bedürfnisse von Mitarbeitern auszurichten.
Auch Mitarbeiter können selbst etwas tun. Das Programm psyGA (psychische Gesundheit am Arbeitsplatz) bietet nicht nur viele konkrete Tipps für Führungskräfte, sondern auch ein kostenloses eLearning-Tool, das Angestellten zeigt, wie sie selbst ihre Arbeit weniger belastend gestalten können.
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