13 reasons why: Wie es sich anfühlt, wenn eine gute Freundin plötzlich nicht mehr leben will

In der Serie „13 reasons why” hinterlässt Schülerin Hanna nach ihrem Tod Kassetten, auf denen sie die 13 Gründe beschreibt, weshalb sie sich das Leben nahm. Als meine gute Freundin starb, blieb nichts außer die Frage: „Warum?”

Hinweis: In diesem Text wird beschrieben, wie sich eine Freundin der Autorin umgebracht hat.

Die Gründe hinter einem Selbstmord 

Gerade habe ich die letzte Folge der neuen Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ (im Englischen: „13 reasons why“) zu Ende gesehen. Dreh- und Angelpunkt der Serie ist die Schülerin Hanna Baker, die sich – für ihr Umfeld völlig unvorbereitet und überraschend – das Leben nimmt. Alles was sie hinterlässt, sind selbst aufgenommene Kassetten, auf denen sie 13 Gründe beschreibt, die zu ihrem Suizid geführt haben. Die Kassetten stürzen vor allem Clay, der heimlich in Hanna verliebt war, in tiefe Verzweiflung. „Klassisches US-Teenie-Drama“, mögen manche sagen. Für mich behandelt die Serie aber ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt: Vor drei Jahren, an meinem 19. Geburtstag, nahm sich eine gute Freundin das Leben. 

Ich erinnere mich noch gestochen scharf an den Moment, in dem ich von ihrem Tod erfuhr. Es war ein überraschend sonniger Tag im Frühjahr, meine Familie war anlässlich meines Geburtstages zu Besuch und ich trug ein rotes Sommerkleid mit Blumenmuster, das seitdem unberührt in meinem Kleiderschrank hängt. Es gab leckeren Kuchen, wir haben viel gelacht und die ersten Sonnenstrahlen des Jahres genossen – bis plötzlich das Telefon klingelte. Im ersten Moment habe ich nicht realisiert was der Anruf bedeutete. Ich hörte nur das Schluchzen und Weinen einer Freundin am anderen Ende der Leitung und wusste, dass irgendetwas passiert war und sie meine Hilfe brauchte. Ich dachte, sie hätte mal wieder Beziehungsstress mit ihrem Freund. Ihre tatsächlichen Worte kamen gar nicht bei mir an. Erst als ich aufstand, merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte und mir unheimlich schlecht wurde. Ich griff erneut zum Hörer und rief sie zurück: „Was hast du gerade gesagt?“

Warum wolltest du nicht mehr leben?

An das was danach passierte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern. „Ein natürlicher Schutzprozess deines Gehirns“, erklärte mir mal eine Psychologin. Ähnlich wie bei Hanna in der Serie, kam auch der Tod meiner Freundin für ihr Umfeld völlig unvorbereitet. Anders als bei Hanna, haben wir jedoch niemals Abschiedsbriefe, Indizien für ihren Selbstmord, geschweige denn Kassetten, gefunden. Die Frage nach dem „Warum?“ wurde mein ständiger Begleiter. „Warum hast du dir das angetan? Warum wolltest du nicht mehr leben?” Die logische Erklärung, die ich mir zurechtlegte, um irgendwie mit der Situation umgehen zu können, war, dass sie krank gewesen sein musste. Depressionen. Anders konnte ich mir ihre Entscheidung nicht erklären. Dass es noch sehr viele andere Beweggründe für einen Suizid geben kann, hat mir unter anderem die anfangs beschriebene Serie gezeigt. Beim Zuschauen war ich sogar zeitweise neidisch auf die Charaktere, die Hannas Kassetten hören „durften“. Schließlich wussten sie jetzt ganz genau, weshalb Hanna nicht mehr leben wollte. Die bohrende Frage nach dem „Warum?“ schien endlich beantwortet.

Warum konnte ich dir nicht helfen?

Dass das nicht ganz richtig ist, ist mir heute bewusst geworden. Viel drückender als die Frage nach den Beweggründen für ihren Selbstmord, war für mich immer die Tatsache, dass ich ihr nicht geholfen habe beziehungsweise ihr nicht helfen konnte: Warum habe ich nichts gemerkt? Die Schuld-und Versagensgefühle, die Vorwürfe und Wut waren überwältigend. Erst nachdem ich langsam anfing zu begreifen, dass sie nicht mehr bei uns war und nachdem der erste Schock langsam nachließ, googelte ich: „Anzeichen für einen Suizid.“ Ich stieß auf die Website des Vereines „Freunde fürs Leben e.V.“, ein Verein, der sich deutschlandweit für die Aufklärung über die Themen Suizid und seelische Gesundheit einsetzt. Dort fand ich eine Liste an möglichen Warnsignalen für einen Selbstmord. Hatte meine Freundin sich äußerlich verändert? Ja, sie trennte sich einige Wochen vor ihrem Tod von ihrem langen Haar (ebenso wie Hanna in der Serie). Hatte sie ihre Schlaf-und Essgewohnheiten verändert? Schon, sie hatte deutlich abgenommen und war nachmittags oft auffällig lange nicht zu erreichen, weil sie ihren geliebten Mittagsschlaf hielt. Aber hatte ich das als Warnsignale für einen Selbstmord wahrgenommen? Natürlich nicht, schließlich gingen alle meine Freundinnen und auch ich selbst regelmäßig zum Friseur und probierten neue Haarfarben und -schnitte aus. Und auch über die neue Instagram-Fitness-Diät hatten wir vor Kurzem noch gemeinsam gesprochen. Hatte sie jemals geäußert, dass sie sich das Leben nehmen wollte? Nein – zumindest nicht, dass ich wüsste. Erschien sie hoffnungslos, selbst hassend, rastlos? Sie wirkte auf mich wie immer: fröhlich, gut gelaunt und abenteuerlustig. 

Dann stolperte ich über den Punkt „Wenn sich eine depressive oder selbstmordgefährdete Person plötzlich besser fühlt (die Entscheidung für einen Suizid führt oft zu einem Stimmungshoch).“ Wie jetzt? Ihre gute Laune kann also eventuell sogar ein Indiz für ihre Entscheidung gewesen sein, sich das Leben zu nehmen? Habe ich ihr vielleicht nie richtig zugehört? Sie nie richtig gefragt? Was hätte ich tun können? Ich war verwirrt und merkte, dass ich über das Thema Suizid überraschend wenig wusste.

Warum wir mehr darüber sprechen sollten

Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 10.000 Menschen durch Suizid, so Freunde fürs Leben. Etwa alle 53 Minuten nimmt sich in Deutschland jemand das Leben, circa alle vier Minuten versucht es jemand. Also auch gerade jetzt, während ich diesen Text schreibe. Durch Suizid sterben mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Drogen und Aids zusammen und es ist die zweithäufigste Todesursache bei den unter 25-Jährigen in unserem Land. Diese Zahlen sind erschreckend, aber zeigen mir, dass ich mit meiner Trauer, meinem Verlust und meinen Ängsten nicht alleine bin. Und sie zeigen mir auch, dass Suizid leider auch heute noch ein Tabu-Thema ist, über das viel zu wenig gesprochen wird. Wer weiß: wenn wir offener damit umgehen, vielleicht trauen sich dann mehr Betroffene ihre Gefühle und Gedanken auszusprechen? Vielleicht können einige Selbstmorde so verhindert werden? Vielleicht wäre meine Freundin heute noch am Leben, wäre das Thema Selbstmord damals schon präsenter in unserem Umfeld gewesen? In meinem Freundeskreis sprechen wir heute viel über Suizide, sei es in Bezug auf unsere konkrete Geschichte, auf die neuesten Medienberichte oder weil es uns gerade auf dem Herzen liegt. Es tut zwar weh, aber wir sind sensibler geworden und können offener miteinander über das Thema sprechen. Und eins habe ich gelernt: Es ist so wichtig, zuzuhören. Sich die Zeit zu nehmen und darüber zu sprechen, was einen bewegt – scheint es auch noch so klein und unbedeutend – und zu zeigen, dass man für den anderen da ist.

Heute ist der Tod meiner Freundin nicht mehr so omnipräsent und erdrückend wie vor drei Jahren. Manchmal liege ich abends im Bett und weine, weil ich sie sehr vermisse. Doch – und das hätte ich damals niemals geglaubt – das Leben geht tatsächlich weiter. Trotzdem, das merke ich immer wieder, ist sie immer noch bei uns: in jedem „Pass auf dich auf“ beim Abschied, in jedem Telefongespräch nachts um halb drei, weil „gerade so viel in meinem Kopf los ist und ich einfach nicht schlafen kann“, in jeder Umarmung. Und auch in meinem roten Blümchenkleid, das immer noch im Schrank hängt. Vielleicht ziehe ich es heute mal wieder an, für sie.

Hinweis der Redaktion

Wenn du dich in einer schweren Krise befindest, ist es wichtig, dass du dir professionelle Hilfe suchst. Eine erste Anlaufstelle kann zum Beispiel deine Hausärztin sein oder der Krisendienst. Eine Liste mit Anlaufstellen gibt es unter anderem bei der Deutschen Depressionshilfe.

Unter der bundesweit einheitlichen Rufnummer 116 117 erreichst du den ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen. In Notfällen wende dich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112. Eine Übersicht über die sozialpsychiatrischen Dienste nach Postleitzahl geordnet findest du bei der Deutschen Depressionshilfe. Auch die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenlos erreichbar unter der Nummer 0800/1110111. 


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