Zwölf Menschen mit Behinderung sind bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz ums Leben gekommen. Das ist kein tragisches Einzelereignis – wir müssen uns endlich mit den Folgen des Klimawandels für behinderte Menschen beschäftigen.
Der Regen hat aufgehört, die Aufräumarbeiten sind im Gange. Ganz Deutschland beschäftigt sich weiterhin mit der Flutkatastrophe und ihren Auswirkungen. Es mehren sich kritische Fragen, ob die Bevölkerung in den Regionen mit Extremunwetter früher hätte gewarnt werden können – insbesondere die Bewohner*innen mit Behinderung des Behindertenheims in Sinzig bei Ahrweiler.
Donnerstagnacht ertranken in dem Heim zwölf Menschen mit Lernschwierigkeiten, weil sie nicht vorher evakuiert wurden. Auch in Wuppertal, das in der gleichen Nacht wegen einer drohenden Flutwelle plötzlich evakuiert wurde, gab es keine barrierefreien Warnsysteme. Informationen waren ausschließlich über Social Media, Warnsirenen und den Regionalradiosender verfügbar – aber nicht in Leichter Sprache oder Gebärdensprache. Die Verunsicherung war deshalb groß.
Ein Menschenrecht wird ignoriert
Während der Flutkatastrophe zeigte sich in Deutschland drastisch, wie stark Menschen mit Behinderung von den Folgen des Klimawandels betroffen sind – und dass weder die Politik noch die Gesellschaft Fragen rund um Klimagerechtigkeit für behinderte Menschen wahrnehmen. Die Vereinten Nationen haben bereits vor zwei Jahren in einer Resolution dazu aufgerufen, die Bedrohung durch die Folgen des Klimawandels für Menschen mit Behinderung als Menschenrechtsfrage ernst zu nehmen. Vergangenes Jahr im April veröffentlichten die Vereinten Nationen dazu eine Studie, darin steht:
„Menschen mit Behinderung – geschätzt eine Milliarde Menschen weltweit – erfahren die Folgen des Klimawandels anders und viel stärker als andere. Beispielsweise sind behinderte Menschen in Gefahrensituation stärker benachteiligt. Das zeigt sich überproportional in einer höheren Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit. Sie sind auch diejenigen mit dem schlechtesten Zugang zu Notfall-Unterstützung.“
Als Rollstuhlfahrerin ein Kollateralschaden
Vor einigen Tagen schrieb mir eine junge Rollstuhlfahrerin, dass ihre Schule sich für die Planung von Brandschutzübungen erkundigte, was sie mit ihr machen sollen. Die Stadt habe daraufhin geantwortet, dass sie ein „Kollateralschaden“ sei, kurz: im Falle eines Brandes bei der Rettung keine große Rolle spielt. Das erinnerte mich an Brandschutzübungen während meiner Schulzeit. Als Elfjährige erlebte ich sogar einen echten Alarm und wurde geschimpft, als ich völlig überfordert mit einer Mitschülerin, die mich ebenso ratlos begleitete, den Aufzug nutzen wollte. Geholfen hat uns niemand.
Struktureller Ableismus in der Umweltpolitik
Behindertenrechtsaktivist*innen wiesen in den vergangenen Tagen mehrfach auf strukturellen Ableismus in Bezug auf den Tod der zwölf Bewohner*innen der Behinderteneinrichtung Sinzig hin. Zahlreiche Medien betonten erstmal die Traumatisierung der Mitarbeiter*innen der Einrichtung und stellten nicht die Frage, warum die Menschen trotz Warnungen von offiziellen Stellen vor einer Flutwelle nicht frühzeitig evakuiert wurden und nachts nur eine Person zur Betreuung der Menschen da war.
Die Stimmen von behinderten Menschen oder Behindertenrechtsaktivist*innen werden nicht gehört. Das dänische Fernsehen hingegen stellte die Frage, warum die Behinderteneinrichtung nicht früher evakuiert wurde. Auch ich stelle mir diese Frage. Meine größte Sorge war, dass gerade Einzelpersonen mit Behinderung in ihrer Wohnung überrascht werden und niemand ihre Gefährdung wahrnimmt und ihnen hilft. Wie kann es sein, dass eine von Träger*innen der Wohlfahrt finanzierte öffentliche Einrichtung nicht mit besonders hoher Priorität evakuiert?
Vor der Studie der Vereinten Nationen über die Gefahren des Klimawandels für behinderte Menschen gab es bereits 2017 eine UN-Studie. Darin fordern die Autor*innen einen inklusiven Katastrophenschutz und empfehlen, Behindertenrechtsvertreter*innen in die Diskussionen rund um Notfallpläne einzubeziehen. Deutschland gab für die Studie nicht einmal Daten an.
Es ist Zeit, in der Gesellschaft und Politik über strukturellen Ableismus in der Umweltpolitik zu diskutieren. Struktureller Ableismus zeigt sich, indem die Lebenswelten behinderter Menschen nicht beachtet und nicht in die Planung einbezogen werden. Die Norm in Notfallplänen sind Menschen, die keine Behinderung haben. In den USA führte der Hurrikan Katrina 2005 zu Diskussionen über die Frage, wie behinderte Menschen in Zukunft in Notfallplänen besser „mitgedacht“ werden können. Dieser Schritt wäre in Deutschland jetzt auch dringend notwendig. Barrierefreiheit und Inklusion müssen ein unverzichtbarerer Bestandteil von Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen sein.
Umwelt-Aktionismus vermeiden
Eine inklusive Umweltpolitik muss auch Aktionismus, der als vermeintliche Nachhaltigkeit verkauft wird, vermeiden. Dieser schließt nämlich in der Regel behinderte Menschen aus. Ein wichtiges Beispiel ist hier die Debatte um das EU-weite Verbot von Plastikstrohhalmen. Seit Jahren weisen behinderte Menschen, die solche Strohhalme zum Trinken benötigen, auf das Problem hin. Sämtliche Alternativen aus Glas oder Metall funktionieren für sie nicht, eine barrierefreie Alternative wird nicht entwickelt. Das Verbot bedeutet daher für viele Menschen mit Körperbehinderung erneute bürokratische Hindernisse, nur um einen Kaffee trinken zu können. All das kostet viel Zeit und Nerven, die dann auch fehlen, um sich in Debatten um Klimagerechtigkeit außerhalb der alltäglichen Hürden einzusetzen.
Indirekte Folgen des Klimawandels: Bedrohung für behinderte Menschen
Aus meinem Social-Media-Feed sind die Schreckensbilder der vergangenen Tage fast vollständig verschwunden. Im Fernsehen sehe ich die Bilder noch. Ich gehe jedoch davon aus, dass schon bald niemand mehr an die zwölf Menschen mit Behinderung denken wird, die in ihrem Zuhause ertrunken sind, weil sie niemand rechtzeitig in Sicherheit brachte. Viele Folgen des Klimawandels zeigen sich erst gar nicht in spektakulären Bildern, sind schleichend, aber ebenso tödlich. Die vergangenen Jahre beherrschten Hitzewellen ganz Europa. Im sogenannten Jahrhundertsommer 2003 starben alleine in Deutschland 7300 Menschen an den Folgen der Hitzewelle.
Behinderte Menschen aus Nordamerika schreiben über die aktuelle Rekordhitzewelle, dass sie keine Möglichkeit haben, sich eine Klimaanlage zu kaufen, und wegen den hohen Temperaturen ihren Elektro-Rollstuhl nicht aufladen können, weil die Batterie überhitzen könnte. Andere können ihre Körpertemperatur wegen ihrer Behinderung nicht regulieren oder aus denselben Gründen ihre Medikamente nicht nehmen.
Die Flutkatastrophe in Europa findet gerade auch während einer weiteren globalen Katastrophe statt: Der Coronavirus-Pandemie. Derzeit herrscht in den Hochwassergebieten in Rheinland-Pfalz große Angst, dass sich auch hier Krankheitserreger verbreiten. Die Erderhitzung fördert das zusätzlich. Die Zerstörung von Naturräumen fördert, dass Tierkrankheiten auch auf den Menschen „überspringen“.
Die vergangenen Monate zeigten bereits, wie schlecht der Zugang zum Gesundheitssystem für behinderte Menschen ist. Im schlimmsten Fall durch Triage in Altenheimen oder Krankenhäusern. Dabei müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Versorgung verbessern, bevor die Krise passiert.
Lebenssituationen von behinderten Menschen mitdenken
Der Einfluss verschiedener Lebensfaktoren behinderter Menschen in der Klimakrise ist noch zu wenig erforscht. Eine große Rolle spielen die folgenden Fragen: Welchen Zugang zu Bildung habe ich? Wie sieht meine finanzielle Situation aus? Und wo auf der Welt lebe ich als Mensch mit Behinderung?
Die meisten Informationen über Klimagerechtigkeit sind derzeit nur auf Englisch und erst recht nicht in Leichter Sprache vorhanden. Menschen mit Lernschwierigkeiten kommen in Debatten zum Klimawandel gar nicht zu Wort und haben den schlechtesten Zugang zu Bildung. Daher sind sie auch besonders davon bedroht, in Armut zu leben. So wie die Bewohner*innen der Behinderteneinrichtung in Sinzig bei Ahrweiler.
Neben den vielen Videos von den Fluten in Deutschland fand ich im Netz auch ein Video von einem Klimaaktivisten aus Uganda. Auch dort gibt es gerade auch Hochwasser und der Jugendliche fragt zurecht: Warum wird in der internationalen Presse nicht darüber berichtet? Die Vereinten Nationen wiesen längst darauf hin, dass überdurchschnittlich viele Menschen mit Behinderung in den ärmsten Ländern der Welt leben und am meisten bedroht sind. In Madagaskar herrscht beispielsweise eine Jahrhundertdürre und -hungersnot. Industriestaaten wie Deutschland haben finanzielle Möglichkeiten, Rettungssysteme anzupassen, die ärmsten Länder der Welt nicht. Daher muss Klimagerechtigkeit für behinderte Menschen ebenso die internationale Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen. Die Klimakrise hat Deutschland mit sehr eindrücklichen Bildern erreicht. Ihre Auswirkungen spüren Menschen aber überall auf der Welt.