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Was, wenn wir alt sind?

Frau Krämer lebt in einer Seniorenresidenz. Die alte Dame erzählt von ihrem Leben in unserer schnellen Welt.

 

Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Krämer. Margarete Krämer. Mit
meinen siebenundachtzig Jahren darf ich, trotz verheerender Kriegszeit, Flucht,
Zeiten des Hungers und der Armut, auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Es war
nicht immer einfach für mich, oft auch unerträglich. Darauf möchte ich aber
nicht näher eingehen. Was hätte es für einen Sinn? Die Vergangenheit ist
Geschichte, die Wunden sind geleckt, Trauer, Angst und Armut überwunden.

Viel schlimmer ist für mich, dass mein Egon vor fast zehn Jahren von uns
gegangen ist. Geliebter Vater meiner Söhne und über fünfundfünfzig Jahre mein
treuer Ehemann. Es blühten nicht immer die roten Rosen in unserem Eheleben. Wie
soll das auch gelingen? Wir mussten viel kämpfen, haben gestritten, geweint und
uns oft gegenseitig zum Teufel gejagt. Dennoch, wir haben unsere Kinder
großgezogen, sind stolze Großeltern geworden und hatten eine glückliche Zeit.

Seit Egon Tod
ist, ist es still geworden. Nicht dass wir immer viel zu sagen hatten. Er war
da und ich war da. Wir waren da. Jetzt ist er fort und das Wir ist mit ihm
gegangen. Er fehlt mir! Seine Grübchen beim Lachen, sein grimmiges Gesicht,
sein lautes Schnarchen, wie er seinen Kaffee geschlürft hat und all die
Kleinigkeiten die Gewohnheit waren, die erst auffallen, wenn sie nicht mehr da
sind – ja die fehlen mir sehr.

Gelegentlich
unterhalte ich mich mit meinem Egon. Ich erzähle ihm von unserem Söhnen,
unseren Schwiegertöchtern, Enkeln und Urenkeln. Manchmal frage ich ihn im
Supermarkt, ob ich an alles gedacht habe oder ihm noch etwas einfällt, was ich
einkaufen sollte. Natürlich bemerke ich die mitleidigen Blicke der hektischen,
jungen Damen, die mit Ihren neumodischen Handys in der einen Hand und  ihren aufgeweckten Kindern an der anderen
durch die Gänge hetzen. Ich bin ja nur alt, nicht blöd. Mich stört das nicht.
So, wie heutzutage alles abläuft, ist es mir sowieso zu schnell und viel zu
anstrengend. Ob an der Supermarktkasse, auf der Straße oder in der Bahn. Die
jungen Leute sind so beschäftigt, so in Eile, ich kann da nicht mehr mithalten.
Da unterhalte ich mich doch lieber mit meinem Egon, der Gute hat Zeit und
Geduld mit mir.

Seit Anfang
des Jahres lebe ich in einer Seniorenresidenz. Mein Zuhause gibt es nicht mehr.
Ich möchte nicht jammern. Ich durfte mein Zimmer in der Residenz mit eigenen
Bildern schmücken und sogar meine Lieblingskommode mitnehmen. Ja nun sitz ich
hier, zwischen all den Grauen und Alten. Lese viele Bücher und warte oft
stundenlang am Fenster, bis Besuch von meinen Lieben kommt. Die Vorfreude
darauf trägt mich durch Tage und Stunden. Meine grauen Mitbewohner sind recht
nett, wir versüßen uns mit kleinen Spaziergängen oder gemeinsamen
Kaffeekränzchen, in dem kahlen Aufenthaltsraum die Zeit. Immer wieder stirbt
einer von uns. Der Tod ist regelmäßiger zu Besuch als die Verwandtschaft.

Manchmal bin
ich deshalb sehr traurig. Ich setzte mich dann alleine in mein Zimmer, nehme
die alten Fotoalben aus meiner Kommode und schlage sie auf. Die schwarz-weißen
Bilder darin sind vergilbt. Das macht nichts. Es ist immer wieder schön, meinen
Egon als jungen Kerl zu sehen. Gut sah er aus. Auch ich war wirklich ein
hübsches Ding. Mit meinen dunklen, langen Haaren und schlanker Figur habe ich
so einigen Männern den Kopf verdreht. Von Seite zur Seite, von Bild zu Bild
vergesse ich die Traurigkeit und schwelge in Erinnerung an eine Zeit, die mir
wie gestern vorkommt, aber schon Jahrzehnte zurück liegt.

Wenn die
Lichter in der Residenz ausgehen und ich in meinem Bett liege, höre ich
oft Rufe und Wimmern von manch anderen Alten, deren Verstand schon müde
geworden ist. Ich ziehe mir meine Decke über den Kopf und versuche mit meinen
Gedanken auf Reisen zu gehen. Manchmal denke ich an die jungen Frauen aus dem
Supermarkt. Mit ihren langen Haaren und der schlanken Figur. Wie eilig sie es
doch haben. Wie gerne würde ich ihnen sagen, dass es sich nicht lohnt, sich zu
beeilen. Sie sollten sich Zeit lassen, schnell genug ist alles vorbei. Müde
schlafe ich ein und warte ab, ob ich am nächsten Morgen wieder die Augen öffne.



veröffentlicht am 12.10.2015 auf shortysbyluise.

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