Franziska Böhler

Wenn Aktivismus krank macht: Krankenschwester Franziska Böhler im Interview

2020 wird Krankenschwester Franziska Böhler „ins kalte Wasser“ der Öffentlichkeit geworfen. Ihr erstes Buch „I’m a Nurse“, in dem sie über Missstände im Gesundheitssystem aufklärt, macht sie quasi über Nacht zum Gesicht einer ganzen Berufsgruppe – und das während der aufkommenden Corona-Pandemie.

In der Folgezeit wird sie sowohl für die Medien, als auch für die breite Öffentlichkeit zu einer zentralen Anlaufstelle, um Fragen zu klären und Einblicke ins Gesundheitssystem zu erhalten. Doch mit der Zeit entwickelt sich eine Erwartungshaltung, der Franzi trotz größter Mühe nicht mehr gewachsen ist. Auch der Hass gegen sie als Person nimmt irgendwann drastische Ausmaße an. Sie erhält Morddrohungen, wird angespuckt und sogar in ihrem Zuhause terrorisiert.

In der 45. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ spricht Franzi mit Host Tino Amaral schonungslos offen über diese traumatische Zeit. Sie schildert, was der Einsatz für die Pflege mit ihr gemacht hat, wie sie selbst fast daran zerbrochen ist, krank wurde und erst langsam wieder heilen konnte und sie spricht über den Frust, dass sich an den katastrophalen Bedingungen in der Pflege nichts ändert. Reinhören lohnt sich!

Liebe Franzi, allein auf Instagram hast du mittlerweile über 240.000 Abonnent*innen. Wie ist es dazu gekommen? War es dein Ziel, eine Reichweite aufzubauen?

„Nee, gar nicht. Ich habe 2017 auf Instagram ein Foto mit einer Freundin in unserem Pathoaufzug nach einem Spätdienst in Dienstkleidung hochgeladen. Unter dem Foto habe ich den damaligen Dienst beschrieben – ohne mir irgendwas dabei zu denken. Damals hatte ich 300 Follower und habe generell mehr geguckt als gemacht.

Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und das Bild hatte unglaublich viele Kommentare und Likes. Ganz viele Menschen wollten sich austauschen. Und das waren nicht nur Kolleg*innen aus dem Beruf, sondern auch Menschen, die einfach so ihre Berührungspunkte mit dem Gesundheitssystem hatten oder sich dafür interessierten.“

„Ich hatte wirklich nur im Kopf: ,Ich muss das jetzt machen. Die zählen auf mich. Ich kann vielleicht irgendwas verändern.’“

Franziska Böhler

Wie bist du mit dieser plötzlichen Aufmerksamkeit umgegangen?

„Das kam ja nicht über Nacht. Das hat sich über die Jahre so ergeben. Richtig los ging es aber 2020, als mein erstes Buch ,I’m a Nurse: Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe – trotz allem’ rauskam. Da bin ich wirklich ins kalte Wasser geworfen worden. Ich hatte keine Berührungspunkte mit Öffentlichkeit, mit TV, mit Redaktionen – und vor allem mit der Wirkung, die das Thema auf andere Menschen hat.“

Du wurdest für viele Menschen zu einer Art Anlaufstelle, um medizinische Fragen zu klären, oder?

„Zu Pandemiezeiten war das ganz krass. Man muss sich vorstellen: Mein Buch kam raus – und dann kam Corona. Irgendwie hatte ich den Zeitpunkt, wenn man das so sagen kann, perfekt erwischt. Zu der Zeit haben sich einfach viele für die Thematik interessiert. Pflege war das zentrale Thema.

Damals habe ich auch vier Wochen lang auf der Covid-Intensiv gearbeitet. Alle waren verunsichert, alle wussten nicht, was auf uns zukommt. Alle hatten Angst – uns Pflegekräfte inklusive. ,Wird das jetzt wie in Bergamo? Mit was müssen wir rechnen?’ Wir wussten nur, dass wir gut vorbereitet sind.“

Teilweise hast du bis zu 3000 Nachrichten am Tag beantwortet?

„Ich weiß nicht, ob ich 3.000 geschafft habe – aber zu dieser Zeit kamen definitiv 3.000 Nachrichten täglich rein. Ich habe das nebenher gemacht. Beim Kochen, beim Hausaufgabenmachen, beim Putzen, beim Telefonieren: Ich habe ständig versucht, allem gerecht zu werden.

Durch meine Position, die sich da entwickelt hat, war ich so ein vermeintliches Sprachrohr oder jemand, der jetzt die Möglichkeit hatte, politisch irgendwas zu bewegen. Es ist eine Erwartungshaltung entstanden, die ich erfüllen wollte. Ich war damals nicht so weit, dass ich mir bewusst war, dass ich auch nur ein Mensch bin und dass ich auch noch ein Privatleben habe.

Ich hatte wirklich nur im Kopf: ,Ich muss das jetzt machen. Die zählen auf mich. Ich kann vielleicht irgendwas verändern.’ Im Endeffekt war das natürlich völlig größenwahnsinnig, dass eine Einzelperson im Internet einen Systemwechsel hervorrufen oder den Stein anstoßen kann, damit sich das Gesundheitssystem ändert. Aber während dieser euphorischen Aufmerksamkeitswelle hatte ich das genauso auf dem Schirm.“

„Ich hätte zu einem ganz frühen Zeitpunkt schon eine Pause gebraucht oder hätte mich abgrenzen müssen, das habe ich aber nicht gemacht.“

Franziska Böhler

Wie bist du mit Hassnachrichten umgegangen?

„Am Anfang habe ich es mir schöngeredet. Ganz schlimm wurde es dann allerdings während Pandemiezeiten, als es um so etwas wie die Impfung ging.

In dem Moment wusste ich innerlich, dass ich das nicht mehr lange aushalte und dass das etwas mit mir macht. Nach außen hin habe ich es aber weiterhin abgetan. Ich hätte zu einem ganz frühen Zeitpunkt schon eine Pause gebraucht oder hätte mich abgrenzen müssen, das habe ich aber nicht gemacht.“

Irgendwann ist es tatsächlich dazu gekommen, dass sich Menschen zusammengeschlossen haben, um dich fertig zu machen?!

„Ja. Auf Telegram hat sich eine ,Querdenker‘-Gruppe zusammengerottet – da waren 300 Leute drin. Da wurde dann ganz offensiv dazu aufgerufen, mich fertig zu machen. Ich glaube, mir wurde damals unterstellt, dass ich eine generelle Impfpflicht fordere, was ich nie getan habe.

Daraus resultierten dann Dinge, wie: Ich bin einkaufen gegangen – und dann hat man mir vor die Füße gespuckt. Morgens vor der Klinik, wenn ich zur Arbeit gegangen bin, haben sich Gestalten rumgetrieben und mir zugezischt, ich solle vorsichtig sein. Der absolute Tiefpunkt war dann, als mein Auto im Carport zerkratzt wurde. Jemand wusste, wo ich wohne. Auf der Heckscheibe stand mit Lippenstift geschmiert: ,Impfhure‘ oder ,Pharmahure‘. In meinem Garten hatte jemand drei meiner fünf Meerschweinchen mit Blaukorn vergiftet.

Ich habe das natürlich angezeigt, aber man kann sich ja denken: Wenn da nachts irgendeiner kommt und du weißt nicht wer, hat man überhaupt keinen Anhaltspunkt und es kommt nicht viel bei rum. Am nächsten Morgen habe ich einfach nur gedacht: ,Verdammt. Wenn meine Kinder jetzt in die Schule laufen, woher weiß ich, dass da jetzt niemand hinterm Baum steht und sie abpasst? Wie weit geht so jemand?‘“

Wie hat dein Körper darauf reagiert, deine Psyche?

„Ich habe auf einmal existenzbedrohende Angst bekommen. Ich könnte dir noch nicht mal sagen, vor was. Ich habe geschwitzt, ich hatte Herzrasen. Zeitweise habe ich gedacht: ,Jetzt sterbe ich.’ Irgendwann konnte ich auch nicht mehr geschlafen. Ich lag abends im Bett und hatte das Gedankenkarussell meines Lebens. Es war wie 24 Stunden unter Starkstrom stehen.“

Was hat dir geholfen, um zu heilen?

„Ich habe angefangen, mir Pausen zu nehmen und professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Bis heute mache ich eine Therapie. Ich bin der Meinung, dass das jedem Menschen hilft, sein Leben mal zu reflektieren und über gewisse Dinge nachzudenken.

Es hat lange gedauert, bis ich eingesehen habe, dass ich meine Prioritäten falsch gesetzt habe. Ich habe gedacht, ich enttäusche die ganze Welt, wenn ich jetzt dieses Insta-Ding sein lasse und mich zurückziehe. Es war ein wichtiger Schritt, dass ich das losgelassen habe und erkannt habe, dass die Verantwortung und die Last der ganzen Welt bezüglich dieses Gesundheitssystems und des Aktivismus nicht auf meinen Schultern lastet.

Seitdem dieser Druck weg ist und ich den ersten Satz in meinem neuen Buch ,I still care: Wie mich der Einsatz für eine bessere Pflege krank gemacht hat – und warum ich trotzdem Krankenschwester bleibe’ geschrieben habe, fühlt es sich so an, als wäre ein Felsbrocken von meinem Herz gerollt. Ich fühle mich frei.“

„Wir haben als Pflegende politisch keinen Fuß in der Tür.“

Franziska Böhler

In deinem ersten Buch hast du vor allem darüber aufgeklärt, was sich im Gesundheitssystem unbedingt ändern muss. Würdest du sagen seit der Veröffentlichung 2020 sich da etwas verbessert?

„Ich könnte dieses Buch heute genauso nochmal schreiben. Wort für Wort. Und das ist super bezeichnend. Wir hätten während der Pandemie historische Chancen gehabt, etwas zu bewirken. Aber es wird schlimmer. Das muss man so deutlich sagen.

Dafür gibt es unzählige Gründe. Wir sind als Pflegende zum Beispiel eine total inhomogene Berufsgruppe und leider sehr schlecht organisiert. Wir haben auch politisch keinen Fuß in der Tür. Da ist es dann natürlich auch schwierig, miteinbezogen zu werden. Denn eins steht fest: Die Pflege, und dass es das Hauptproblem, wird gesundheitspolitisch völlig außen vor gelassen.

Es gäbe so viele Möglichkeiten, das mit einzubeziehen, um auch gewisse Lücken zu kompensieren. Aber es tut sich nichts. Das sind so laue Reförmchen, die systemisch für die, die am Bett stehen und für die, die in den Betten liegen, nichts tun.“

Was hätte in der Politik denn schon längst passieren müssen?

„Das ist eine schwierige Frage, auf die es keine richtige Antwort gibt, weil es einfach unglaublich viele multifaktorielle Einflüsse sind, die unser System über Jahre so krank gemacht haben. Ich meine, den Pflegenotstand haben wir seit 20 Jahren. Das ist nichts, was ich vor sechs Jahren erfunden habe.

Jetzt im Moment erleben wir zum Beispiel viele Krankenhausschließungen. Klar, die Krankenhäuser rentieren sich nicht mehr, aber da müsste man dann halt auch mal über ein Finanzierungsmodell nachdenken. Man müsste nachdenken, ob es sinnig ist, dass irgendwelche Hedgefonds aus Kanada Kliniken aufkaufen und damit Geld verdienen. Denn gleichzeitig müssen kommunale Krankenhäuser zumachen und die Leute haben keine Anlaufstelle mehr. Wo sollen sie denn hingehen? Also es läuft ja wirklich in eine völlig falsche Richtung. Es ist wirklich profitorientiert.“

Wie könnte man dieses Problem auffangen?

„Es gibt sowas wie Community Health Nurses zum Beispiel. Das sind akademisierte Kolleg*innen, die früher oft als ,Dorfschwester’ bekannt waren und die diese geriatrischen Patienten abfangen können. Die haben die Befähigung dazu, und auch die Ausbildung und die Kompetenz.

Sowas müsste man ausbauen und etablieren, und zwar schneller als schnell. Weil so schnell kannst du ja nicht gucken, wie Kliniken, Geburtsstationen, Entbindungsstationen oder Geburtshäuser schließen. Es ist einfach nur gruselig. Zugemacht ist schnell, aber aufgefangen halt nicht.“

Das klingt alles sehr frustrierend. Macht es überhaupt noch Spaß, Aktivismus zu machen, wenn er nichts bewirkt?

„Zu sagen, Aktivismus würde nichts bewegen, wäre falsch. Aber ich habe mir die Frage auch gestellt: ,War das jetzt alles umsonst?’ Es fühlte sich so an, als hättes ich sechs Jahre verplempert und mich selbst kaputt gemacht – für nichts. Aber so ist es nicht.

Im Endeffekt hat das alles sehr, sehr viel Zuspruch bekommen. Ich glaube, es hat vielen Menschen Mut gemacht und viele konnten sich identifizieren. Durch mein Engagement an den allgemeinbildenden Schulen konnte ich schon vielen vermitteln, warum dieser Beruf so schön ist. Aber die Rahmenbedingungen sind es, die dich einfach so begrenzen.

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch die mediale Berichterstattung. Du kannst auch als Steuerberater unglücklich sein oder im Rathaus oder als Ingenieur – nur darüber zerreißt sich die Presse halt nicht das Maul, weil da ist kein Clickbaiting zu ergattern. Wir haben halt dieses düstere Image, das uns im Nacken sitzt.

Natürlich muss sich das immer die Balance halten zwischen Aktivismus, Berichterstattung und den Problemen, die man benennt. Aber es würde mir nie einfallen, jemandem davon abzuraten, diesen Beruf zu ergreifen. Niemals. Meinen eigenen Kindern auch nicht. Man muss es probieren.“

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Noch mehr Einblicke gibt uns Franziska Böhler in der 45. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Zusammen mit Host Tino Amaral beantwortet sie unter anderem die Frage, worauf Menschen achten müssen, die in einem Pflegeberuf arbeiten möchten, um sich selbst zu schützen. Die Folge findet ihr über diesem Absatz, mit einem Klick in den Header und überall dort, wo es Podcasts gibt.

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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt wichtige Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!

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