Foto: A.K. Ibeling

Wenn’s (mal wieder) nicht passt – ein offener Brief an den Einzelhandel

Das Onlinegeschäft boomt und viele Akteure des lokalen Einzelhandels in den Städten bleiben dabei auf der Strecke. Allerdings haben diejenigen, die sich abseits des durchschnittlichen Größenspektrums bewegen, auch oftmals keine andere Wahl als den schnellen Klick einem gemütlichen Einkaufsbummel vorzuziehen. Ein häufiges Dilemma, erklärt in einem offenen Kundenbrief.

 

Lieber Einzelhandel,

man hört überall, es ginge dir schlecht. Das Onlinegeschäft macht dir zu schaffen und du hast Angst, im Konkurrenzkampf gegen immer billigere Webshops nicht zu bestehen. Immer wieder müssen Läden geschlossen werden, seien es Filialen internationaler Ketten, die es in jeder größeren Stadt gibt, oder kleine Second-Hand-Boutiquen mit Vintage-Flair. Manche pessimistischen Experten sprechen gar von einem „schleichenden Tod der Innenstädte“. Und Arbeitsplätze kostet es auch noch – zusätzlich zum Verlust eines Stückchens Menschlichkeit, das man bekommt, wenn man eine Verkäuferin persönlich nach einem bestimmten Teil in der eigenen Größe fragen kann. Oder einfach so ein paar Worte wechselt. Nein, du hast es in der derzeitigen Wirtschaftsentwicklung wirklich nicht leicht.

Ich würde ja gerne …

Was mich angeht, finde ich das sehr schade. Denn ich mag dich eigentlich sehr gerne, lieber Einzelhandel, genieße es, einfach durch kleinere Geschäfte zu bummeln und „live“ zu sehen, was momentan „in“ ist und was vielleicht zu meinem bisherigen Outfitrepertoire passen könnte. Auch höre ich gerne eine ehrliche, freundlich geäußerte Meinung, wie mir die Jeans und das Oberteil stehen – insofern ich vorher darum gebeten habe. Kurzum, ich würde dich gerne mehr unterstützen. Aber irgendwie machst du es mir schwer damit. Zumindest, wenn es um manche Warengruppen geht, die jede Frau wirklich dringend in ihrem Leben braucht. Lass mich das Dilemma, das ich beim Shopping erlebe, kurz erklären. Ich habe ein paar Konfektionsgrößen, die etwas „mehr“ sind als das, was du normalerweise auf Lager hast. In Schuhen trage ich eine „stolze“ 43 oder 44 und lebe noch dazu auf breitem Fuß. Seit meiner kürzlich beendeten Schwangerschaft und jetzt in der Stillzeit bewege ich mich weiterhin in Sachen Büstenhalter in einer Größenordnung, die über die standardmäßig angebotenen 85 C-D hinausgeht.

„Bestellen Sie doch online!“

Eigentlich war mit Freundinnen zusammen shoppen gehen seit „Sex and the City“ für mich immer positiv besetzt – bis ich in manchen Bereichen begann, von der „Standardnorm“, die viele deiner Geschäfte eint, abzuweichen. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich einen trägerlosen BH für mein hellblaues Hochzeitskleid im Fachgeschäft kaufen wollte. In einem, das ansonsten gute und günstige Modelle bietet (die typischen Handelsketten hatte ich schon vorher abgeklappert). Damals war ich noch nicht einmal schwanger und im Prinzip gar nicht so weit weg von der Norm. Die Verkäuferin, eine sehr nette Person übrigens, der ich jederzeit etwas abkaufen würde, schaute in alle Wäschefächer und sagte nur bedauernd: „Tut mir leid, aber trägerlos in der Größe ist wirklich schwierig.“ Das günstigste Modell, das sie mir anbieten konnte (und das zumindest halbwegs passte, mit etwas Zuppeln und Ziehen) kostete schon satte 90 Euro. 90 Euro für einen BH, das finde ich als Berufsanfängerin schon ziemlich viel. Ähnliche Situationen erlebe ich ständig, wenn ich schicke, feminine Schuhe suche, die weder aus der Herrenabteilung stammen noch danach aussehen. Eigentlich gibt es drei mögliche Szenarien. Option Nummer Eins: Die Auswahl ist so klein, dass die Hälfte davon nicht passt und mir unmöglich aus der anderen Hälfte etwas zusagen kann. Option Nummer Zwei: Es gibt den Schuh, den ich gut finde, auch in meiner „Übergröße“ – allerdings nur in einer Filiale 30 Kilometer entfernt. Option Nummer Drei: Der Schuh ist im Geschäft aus Prinzip nur bis Größe 41 erhältlich Alles andere gibt es nur online beim Hersteller. „Bestellen Sie es doch online“, belehrt mich höflich eine Verkäuferin. Was soll ich sagen, diesen guten Ratschlag bekomme ich ständig. Und befolge ihn auch fleißig, auch wenn mir die Sinnhaftigkeit meiner Onlinebestellung für den Einzelhandel jedes Mal schleierhaft ist.

Kunden zweiter Klasse

Lieber Einzelhandel, du kannst dir vorstellen, dass mich und so viele andere Kundinnen und Kunden (auch Männer jenseits der Größennorm sitzen mit im Boot) so viele Misserfolge frustrieren müssen. Sprich, inzwischen komme ich zum Shopping oft nur noch als Beraterin und Helferin für meine eher schlanken und durchschnittlich großen Freundinnen mit. Denn ich weiß, dass in den meisten Läden die Oberteile zu kurz für jemanden mit einem großen Busen und 1,80 Metern Körperhöhe und die Jeans im Skinny-Style in Größe L einfach nicht passen werden. Allerdings: Zu schlanke und zierliche Personen haben auch wieder schlechte Karten – ich habe eine Freundin mit Schuhgröße 35/36 und Kleidergröße XXS – XS. Sie hat es ironischerweise auch schwer, jenseits der Kinderabteilung Hosen und Schuhe zu finden. Nun könntest du argumentieren: „So ist es eben mit Angebot und Nachfrage. Der Durchschnitt bestimmt den Markt, wenn einem das nicht passt, muss man sich eben anpassen – oder woanders suchen.“ Da gibt’s nur zwei Haken. Natürlich könnte ich mich körperlich verändern, um auch im Mainstream-Geschäft schöne Kleidung zu finden. Sport, Ernährung … Ja, das ist mir alles ein Begriff. Aber sich die Füße kürzen und kleinere Brüste bekommen, wenn mehrmals am Tag abwechselnd ein Kind daran hängt oder eine Milchpumpe? Witz komm raus, du bist umzingelt. Außerdem: Es gab einmal Zeiten, da galt der Einzelhandel noch als Dienstleistungsbranche. Und soweit ich weiß, tut er das auch heute noch. Es gibt nichts Schädigenderes für einen Dienstleister, als manche Kunden geradezu zu hofieren und ihnen Unmengen an Möglichkeiten zu bieten und andere dafür komplett links liegen zu lassen – also sie wie Kunden zweiter Klasse zu behandeln. Ich weiß, du kannst nicht immer etwas dafür. Manchmal liegt das Missverständnis, was „Dienstleistung“ eigentlich bedeutet, bereits beim Hersteller und in den Fabriken irgendwo im Fernen Osten.

Ich möchte dir abschließend einen guten Rat geben, lieber Einzelhandel: Es würde allen Beteiligten nützen und die Umsätze steigern, wenn du es dir zur Gewohnheit machst, über den Tellerrand es Mainstreams hinauszuschauen und wirklich guten Willen zeigst, alle Kundengruppen auch zu bedienen. Egal, welche Hosenlänge, welchen Cup oder welche Schuhgröße sie zufällig mitbringen. Bis dahin befolge ich die Empfehlung einer deiner Botschafterinnen im Shop: „Bestellen Sie es doch online!“. Das macht zwar nicht so viel Spaß, wie seine Schuhe vor Ort anzuprobieren, erspart mir aber jede Menge Frust und Zeit. Und ich bin sicher, Tausenden anderer Kunden geht es genauso. Ich würde dir gerne helfen – doch dazu musst du mir erst einmal Angebote machen, die ich nicht ablehnen kann und Vielfalt als Chance erkennen.

Viele Grüße,

eine Kundin

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