Unsere Community-Autorin wurde Opfer sexualisierter Gewalt. Was sie erlebt hat, als sie endlich den Mut hatte, den Täter anzuzeigen, war für sie wie ein zweites Mal zum Opfer zu werden. Sie fordert einen Wandel im Justizsystem.
Es hat lange gedauert, bis ich den Mut hatte, Anzeige zu erstatten
„Hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich den Fall nicht zur Anzeige gebracht“ – dieser Gedanke ist mir in den letzten Jahren immer wieder durch den Kopf geschossen. „Dann hätte ich mir einen anderen Weg gesucht, um mit dem was ich erlebt habe abzuschließen und meinen inneren Frieden zu finden. Dann hätte ich vermutlich in Kauf genommen, dass der Täter weiterhin unbescholten leben kann und nie zur Rechenschaft gezogen wird für das, was er mir angetan hat.“
Allein die Tatsache, dass ich solche Gedanken habe, macht mich jedoch wütend. Wütend auf mich selbst, auf den Täter und vor allen Dingen auf das deutsche Justizsystem, in dem die Mühlen so langsam mahlen und so wenig für den Opferschutz getan wird.
Ich, das ist eine 25 Jahre alte Frau, mit beiden Beinen im Leben stehend,
selbstbewusst und auf den ersten Blick unauffällig, jedoch gezeichnet von einer dunklen Vergangenheit. Als ich etwa sieben Jahre alt war, wurde ich von einem Nachbarn und guten Bekannten der Familie mehrfach sexuell missbraucht. Es hat lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, was dort passiert war und noch länger, bis ich darüber sprechen konnte. Gemeinsam mit einer weiteren Betroffenen traf ich dann den Entschluss, den Fall zur Anzeige zu bringen. In
direkter Nachbarschaft des Täters leben heute wieder einige Kinder und der Gedanke, was er mit ihnen tun könnte, löste bei uns beiden Panik sowie das Bedürfnis diese schützen zu wollen aus. Das, sowie der Wunsch, endlich nicht mehr Opfer sein zu müssen, endlich aktiv werden zu können, dem Täter zu zeigen, dass er keine Macht mehr über uns hat und die Hoffnung, dadurch das Kapitel abschließen zu können haben uns zur Anzeige bewegt.
Eine Anzeige bestraft oft das Opfer, nicht den Täter
Heute, drei Jahre später, kann ich über diese Naivität nur müde lächeln. Am 09.08.2013 machte ich meine Aussage bei der Polizei, die erste von zweien. Es folgten Zeugenvernehmungen, einige von ihnen wurden ebenfalls mehrfach einbestellt. Der Täter wurde informiert und sein Computer beschlagnahmt und untersucht: Ergebnislos und bis heute das einzige Mal, dass sich der Täter selbst mit der Polizei auseinandersetzen musste. Im Frühjahr 2015 dann die Nachricht, dass die Ermittlungen aufgrund mangelnder Beweise wohl eingestellt werden würden, sollten wir uns nicht zum Erstellen eines „Aussage-psychologischen-Gutachtens” bereit erklären.
An diesem Punkt hatte uns das lange Warten, die permanente Ungewissheit und die Erkenntnis, dass der Täter weiterhin sein Leben ohne Einschränkungen führen konnte (was unter anderem das Ausüben einer Tätigkeit als Trainer für Jugendliche in einem Sportverein beinhaltet), so mürbe gemacht, dass die zweite Betroffene an dieser Stelle ausschied. Allein die Tatsache, dass es so weit kommen konnte, empfinde ich persönlich als zutiefst erschreckend und ein Armutszeugnis für den Opferschutz. Mein Gutachten, in welchem die Glaubwürdigkeit meiner Aussage bestätigt wird, wurde schließlich im Herbst 2016 fertig und nun warten wir darauf zu sehen, welche Konsequenzen dies für das weitere Verfahren haben wird.
Wie belastend diese Jahre des Wartens waren, und nach wie vor sind, kann man sich wohl nur vorstellen, wenn man selbst bereits eine ähnliche Situation erlebt hat. Es hat etwas vom Warten auf den letzten Zug, für den nach und nach immer mehr Verspätung angezeigt wird, während es auf dem Bahnsteig immer dunkler und kälter und die Wahrscheinlichkeit nach Hause zu kommen immer ungreifbarer wird. Es ist zermürbend, es ist frustrierend und das Schlimmste ist: Es hält einen in der Ist-Situation gefangen, unfähig einen echten Schlussstrich zu ziehen, loszulassen und zu entspannen, da man jederzeit damit rechnen muss, dass es neue Entwicklungen gibt. Entwicklungen, die einen wieder an das erinnern was war, die einen in der Verarbeitung um Jahre zurückwerfen können und die wieder mal nur bedeuten, dass man selbst noch mehr geben, noch mehr offenbaren muss, ohne dass es Konsequenzen für den Täter hat.
Ich schreibe diese Zeilen nicht als Anklage oder Vorwurf. Mir ist bewusst, dass insbesondere in diesem Bereich ein gravierender Personalmangel herrscht und Polizei wie Gerichte chronisch überlastet sind. Vielmehr schreibe ich dies, um all jenen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, eine Stimme zu geben. Um unser Leid in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken und darauf hinzuweisen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Niemand, abgesehen von anderen Betroffenen, kann sich vorstellen, was Missbrauch in einem Menschen auslöst. Und kein Polizeibeamte oder Gericht kann wohl nachempfinden, wie retraumatisierend ein solches, sich in die Länge ziehendes Verfahren für die Geschädigten ist.
Nur wenn es gelingt, ihnen das begreiflich zu machen, besteht die Chance, dass sich etwas ändert. Also sollten wir unser Schweigen brechen. Wir sollten unsere Geschichten erzählen und hoffen, dass unsere Worte Gehör finden. Es darf nicht sein, dass irgendwann Täter von Anzeigen verschont bleiben, nur weil die Geschädigten lange Verfahren fürchten müssen. Wir sollten für uns und unsere Rechte aufstehen, unsere Bedürfnisse zum Ausdruck bringen und uns nicht wieder zu einem Opfer machen lassen, das hilflos einer anderen Autorität ausgeliefert ist.
Denn wir sind so viel mehr als das. Wir sind keine Opfer, wir sind Überlebende eines Kampfes, den wir wohl ein Leben lang führen müssen, der aber mit der Zeit leichter werden und schließlich nur noch ein Nebenschauplatz sein wird.Vorausgesetzt, wir erhalten die Möglichkeit zur Aufarbeitung, jeder auf seine Weise.
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