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Willkommen in einem Leben mit ADHS

ADHS, das ist doch diese Kinderkrankheit, die nur Jungen haben – das und zahlreiche andere Sätze hören ADHSler ständig. Wie lebt man damit und wie geht man damit um – mit der Diagnose, mit den anderen, mit sich selber?

 

Ein Jahr nach der Diagnose: ADHS

ADHS – ein Jahr ist es jetzt her, dass jemand, der mir seitdem gefühlt unendlich oft das Leben gerettet hat, gesagt hat: „Das alles, diese ganzen Abgründe, Krisen und Probleme, das alles hat einen Namen und wir können etwas dafür tun, dass es besser wird.“ Seitdem ist viel passiert, ein Jahr Kampf und Lösungen, Scheitern und noch mal von vorne.

In diesem Jahr habe ich jedes verfügbare deutschsprachige Buch zum Thema ADHS gelesen, hunderte Artikel, Studien, Facharbeiten. Ich habe versucht, zu verstehen, wie jemand, der ich ist, denkt und fühlt. Wie die ganzen Enden, Impulse, Probleme zusammenpassen. Und wie ich damit leben kann. Nicht bloß überleben, sondern leben.

Was ich auch erfahren und hundertfach gelesen habe, sind all die Vorurteile und Unterstellungen, die mit der Diagnose einhergehen. Und nicht nur mit ihr, sondern auch mit der Medikation. Es ist mir deshalb ein Bedürfnis aufzuschreiben, wie es ist, ADHS zu haben. Für all jene, die gerade ihre Diagnose bekommen haben, für jene, die noch damit hadern, für die, die sich auch jeden Tag Vorurteilen und Ressentiments gegenübersehen, für alle und für mich.

Das alles ist eine sehr persönliche Sache für mich, aber dieser Artikel ist trotzdem mit größtmöglicher Sorgfalt erstellt und die Quellen, Zitate und Links mit bestem Wissen ausgewählt. Bitte lies auch unbedingt die Anmerkungen dazu, warum ich im Text nicht zwischen ADHS und ADS unterscheide, die du am Ende des Textes findest, bevor du einen Kommentar verfasst, eine wütende Mail schreibst oder Fragen hast. Danke. Ich freue mich über deine Erfahrungen, Ergänzungen oder Hinweise übrigens sehr – entweder als Kommentar unter dem Artikel, via Mail oder Brief, Tweet oder Messenger. Infos dazu findest du ebenfalls in den Anmerkungen am Ende. Aber jetzt erst einmal: Willkommen zur Kirmes im Kopf!


(Bild: Guillaume | unsplash)

10 Dinge, die du erleben oder hören wirst, wenn du ADHS hast – und wie du damit umgehen kannst

Diese Dinge erleben Menschen wie ich jeden Tag. Sie werden auch dir begnen, wenn du deine Diagnose bekommst und darüber sprichst. Vielleicht nur ein paar davon, im schlechtesten Fall alle. Ich habe all diese Dinge hier aufgeschrieben und was dahinter steckt und wie ein Mensch damit umgehen kann.

1. Menschen werden zu dir sagen, dass ADHS nicht existiert.

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ADHS ist so umstritten wie es ungezählte andere Diagnosen auch schon waren. Immer wieder machen Neurologen und Wissenschaftler von sich Reden, indem sie lauthals verkünden, dass ADHS nicht existieren würde. Zahlreiche Studien belegen das Gegenteil. Auch ist ADHS keine Modekrankheit, die Diagnose existiert seit Jahrzehnten.

Nur wenige Experten zweifeln daran, dass die ADHS eine psychische Erkrankung ist. 


(
ZEIT online)

Kritische Stimmen:

Es ist immer wichtig und richtig, zu zweifeln. Zweifel helfen uns, eine möglichst objektive Wahrheit zu finden und unsere eigene Wahrnehmung und unsere Überzeugungen immerfort zu überprüfen und falls nötig zu korrigieren. Aber so, wie es auch immer wieder Menschen geben wird, die sagen, dass psychische Krankheiten an sich nicht existieren, dass Depressionen nur ein Mangel an Fun im eigenen Leben sind, so werden auch bei ADHS immer wieder Kinderärzte, Neurologen, Psychiater und Therapeuten behaupten, die Erkrankung sei keine. Um auch ihnen eine Stimme zu geben, hier ein paar ausgewählte Links zu kritischen Stimmen und Berichten: 

Leon Eisenberg, der als „Erfinder“ der Erkrankung gilt, sagte angeblich auf seinem Sterbebett, dass es ADD/ADHD gar nicht geben würde. 

Richard Saul, ein Experte aus den USA, erklärt hier, warum er nicht an die Existenz der Aufmerksamkeitsstörung glaubt. (Augsburger Allgemeine)

x:enius setzt sich in dieser Reportage ebenfalls sehr kritisch mit der Diagnose auseinander, bleibt jedoch in vielem undetailliert und populistisch. 

Dem entgegen stehen Experten und Fachärzte, Studien und Untersuchungen, die das Gegenteil beweisen. Gerade in den diagnostischen Verfahren wird immer genauer und genauer getestet, auch die Kriterien zur Diagnosestellung werden fortlaufend und ständig überarbeitet

Zusammengefasst:

Am Ende ist es wohl wie mit „Burnout“ und allen anderen als „Modekrankheit“ verschrieenen Diagnosen und Erkrankungen: Es wird immer jene geben, die sich sehr, sehr sicher sind, dass das alles Quatsch ist. Und jene, die sich sehr, sehr sicher sind, dass das nicht so ist. Ein Rat hier: Lass dich nicht verunsichern davon – wenn dir die Medikamente und die Therapie / das Coaching helfen, bleib dabei und schau, ob es dir besser geht.

Wenn du das Gefühl hast, dass das alles so nicht stimmen kann, hol dir eine zweite Meinung. Aber lass dich nicht zermalmen zwischen Meinungen und schrillen Behauptungen. Am Ende zählt nicht der Name, keine Begrifflichkeit, kein Diagnose-Manual, am Ende zählt, wie es dir damit geht und ob dir etwas davon hilft. Denn darum geht es: Hilft es dir, unterstützt es dein Leben, deinen Alltag oder schadet es dir? Das ist eine Einschätzung, die du am Ende selber treffen musst und sehr (selbst-)bewusst damit umgehen solltest. Es geht hier schließlich um nichts weniger als deinen Kopf und dein Leben.

(Bild: pixabay)

2. Die gleichen Menschen sagen auch: „Ritalin & Co stellen Kinder und Erwachsene ja nur ruhig!1!!“

Das ist etwas, das ich immer wieder höre, lese, in Gesprächen mitbekomme. Ich bin jedes Mal erstaunt, wie viel Unwissenheit hinter dieser Aussage steckt. Zunächst die kurze Antwort darauf: Nein. Nun die etwas längere Erklärung: 

Medikamente:

„Ritalin“ ist erstens nur ein Handelsname eines Medikaments, dessen Wirkstoff Methylphenidat ist. Es gibt auch andere Präparate mit dem gleichen Wirkstoff, die anders heißen. Und es gibt noch mehr: Viele ADHSler (ich auch) nehmen kein Methylphenidat sondern eine Art „Amphetamin“ (auch „Amfetamin„). Zugelassen sind mehrere Psychostimulanzien zur Behandlung. Alle eint, dass sie nicht dämpfen, sondern aufputschen. Von einer „Ruhigstellung“ kann also ohnehin schwer die Rede sein.

Etwas, das viele Nicht-Betroffene nicht wissen – sie gehen nämlich davon aus, dass die Medikamente eine Art „Downer“ sind . Dabei sind sie im Grunde das Gegenteil. Aber warum und wie wirken aufputschende Mittel bei ADHS beruhigend (viele Betroffene berichten übrigens auch, dass wiederum „beruhigende Mittel“ bei ihnen paradox wirken)? Das wird hier ein bisschen erklärt und hier. Um zu verstehen, wie diese Medikamente wirken, müsste hier nun auch eine ausführliche Erklärung stehen, was ADHS im Gehirn überhaupt bedeutet und was da im Ungleichgewicht ist. Weil ich das niemals so anschaulich könnte, wie Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen oder Fach-Journalist*innen das bereits eh schon getan haben: hier und hier findest du recht einfache und verständliche Erklärungen.

Zurück zu den Medikamenten. Sehr, sehr einfach ausgedrückt bewirken die Folgendes:

Ziel der ADHS-Therapie ist es, die lokale Unterfunktion auszugleichen und die schlummernden Regionen zu aktivieren. Hier setzen Medikamente an: Die Wirkstoffe erhöhen die Konzentration von Dopamin oder Noradrenalin beziehungsweise verzögern deren Abbau.  


(
Dr. med. Johannes Pilcher, netdoktor.de)



Ich habe über das Jahr verteilt fast alle gängigen Medikamente ausprobiert. In hohen Dosierungen und in niedrigen. Ich habe manche kombiniert, manche musste ich absetzen, manche hatte ausschließlich unangenehme Wirkungen. Meiner Erfahrung nach gibt es für ADHS nicht das eine Medikament, das allen hilft. So, wie es auch kein Antidepressivum gibt, das jedem Depressiven gleich gut oder überhaupt hilft.

Ich habe wie viele ADHSler lange gebraucht, um herauszufinden, welches Medikament in welcher Dosierung für mich am besten ist. Ziemlich früh habe ich gemerkt, dass mir Methylphendiat nicht hilft und ich schnell dazu neige, es überzudosieren oder zu missbrauchen, weil gerade die unretadierte Form schnell anflutet und schnell (und für mich auch sehr unangenehm) abflaut. Das ist der sogenannte Reboundeffekt. Im nächsten Abschnitt („Die Sache mit den Drogen“) erkläre ich noch einmal genauer, warum manche Medikamente für manche Betroffene nicht geeignet sind (wenn zum Beispiel eine Suchtproblematik bekannt ist) und warum das Experimentieren mit Selbstmedikation zwar durchaus üblich aber auf Dauer nicht klug ist.

Kirmes im Kopf

ADHS bedeutet nicht – anders, als der Name suggeriert – dass man sich gar nicht konzentrieren kann. Man kann nur nicht entscheiden, auf was und wann.

Die Medikation hat mir ein Leben ermöglicht, wie ich es nie für möglich gehalten habe. Ich kann arbeiten, mich konzentrieren und mich fokussieren. Etwas, das vorher reiner Zufall war, ein Kampf, den ich nie gewinnen konnte. Denn: ADHS bedeutet nicht – anders, als der Name suggeriert – dass man sich gar nicht konzentrieren, fokussieren oder aufmerksam sein kann. Man kann nur sehr schwer oder manchmal auch gar nicht entscheiden, was die Aufmerksamkeit wann fesselt. Ach ja, die Aufmerksamkeit – sie ist mal ein scheues Reh, mal ein Panzer. Mal da, mal weg. 

Ständige Reizüberflutung, ein komplett überlastetes Gehirn, ein Körper, der irgendwann auch somatisch auf den Stress reagiert sind nur ein paar der Folgen, die dieser Kampf mit sich bringt. Ich nenne das „Kirmes im Kopf“ – so fühlt sich ein Leben ohne Medikamente für mich an. Ein Leben ohne Reizfilter mit einem Kopf, in den einfach alle Reize, Eindrücke, Stimmen, Geräusche, Gerüche reinfahren und sich zu einem Cocktail mischen, der mir Kopfschmerzen und Erschöpfung bereitet. Manchmal ist das rauschhaft, die meiste Zeit ist es extrem anstrengend. Die Medikamente helfen mir und meinem Gehirn, ruhig und konzentriert zu arbeiten – wenn ich das muss. Ich kann außerdem wieder in Clubs und Bars, ohne Unmengen an Alkohol und Kaffee zu brauchen, um den Gesprächen zu folgen und nicht völlig panisch und überfordert nach zwei Stunden nach Hause zu flüchten.

Jede*r sollte für sich also sehr empfindsam und geduldig testen, welches Medikament ihm hilft – und ob überhaupt eines nötig ist oder hilfreich. Nicht wenige ADHSler nehmen keine Medikamente. Oder sie machen es wie ich: sie nehmen welche in Situationen, in denen sie sehr konzentriert und fokussiert sein müssen und machen zum Beispiel an den Wochenenden oder an freien Tagen Pause. Medikamente können helfen, sie müssen aber nicht.

Wichtig:

Niemand ist dazu verpflichtet, Medikamente zu nehmen, eine Behandlung der- und ein Leben mit ADHS sind absolut machbar und realistisch auch ohne Ritalin & Co.  – aber genauso sollte sich niemand dafür rechtfertigen und schämen müssen, wenn er Psychostimulanzien nutzt. Sie sind eine Hilfe, eine Stützte, die bewusst eingesetzt werden kann. Und immer und immer wieder: Ein Diabetiker muss auch nicht rechtfertigen, dass er Insulin braucht, ein Asthmatiker sich nicht dafür, dass er Cortison nimmt. Warum also solltest du dich rechtfertigen, erklären oder gar entschuldigen müssen, weil dein Gehirn etwas selber nicht schafft und ein Medikament ihm dabei hilft? Eben.

3. Die Sache mit den „Drogen“

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Die Wahrheit ist: Ja, viele ADHSler, die ihre Diagnose nicht früh genug bekommen haben und auch einige, die schon als Kind diagnostiziert / behandelt wurden, entwickeln in ihrem Leben eine Drogenabhängigkeit oder missbrauchen Substanzen zumindest irgendwann mal über einen längeren Zeitraum. Viele sind Kettenraucher, viele trinken Unmengen an Kaffee, kiffen, um schlafen zu können, konsumieren Kokain oder Speed, Meth oder Amphetamine oder was auch immer ihnen Linderung verschafft.

Ich habe mit vielen ADHSlern gesprochen, die genau wie ich ihre Diagnose erst als Erwachsene bekommen haben, und was uns alle einte war, dass wir alle Erfahrungen mit aufputschenden legalen und illegalen Substanzen gemacht haben. Und bei uns allen war das teilweise und unter bestimmten Aspekten sehr hilfreich, weil es uns dazu gebracht hat, überhaupt erst zu merken, dass etwas nicht stimmen könnte (natürlich neben den 100 Sachen, die auch so nicht stimmten und anstrengend und schlimm waren).

Wie die anderen und gar nicht wie die anderen

Irgendwann merkt ein*e Kosument*in nämlich, dass alles, was andere aufputscht, aufdreht, wach macht, dass all das bei einem selbst irgendwie anders wirkt. Die Wirkung ist schwer zu beschreiben, denn in vielerlei Hinsicht reagieren ADHSler auf aufputschende / psychostimulierende Substanzen (und hier sind auch Stoffe und Dinge wie Koffeein, Nikotin und Energydrinks gemeint) wie jeder Nicht-ADHSler auch: die Pupillen weiten sich, der Herzschlag wird schneller usw. Aber anders, als bei gesunden Menschen, passiert gefühlt das gleiche nicht im Denken und im Fühlen. Während andere aufgedreht und unkonzentriert sind, wird ein ADHSler innerlich ruhiger. Viele beschreiben das so, als lichte sich endlich ein Vorhang. Als könne man endlich für einen Moment klar denken. Während die anderen also hochfahren, fährt man selber runter. Ein Paradox, das ich oben auch schon bei den Medikamenten beschrieb: Was andere putscht und peitscht, aufdreht und antreibt, macht einen ADHSler oftmals ruhiger – wohingegen beruhigende Mittel viel weniger, gar nicht oder sogar paradox wirken können.

Warum und wie ausgerechnet Speed, Amphetamine etc. bei ADHSlern wirken, wie sie wirken und warum sie so oft als Selbstmedikation eingesetzt werden, erklärt dieses Fachbuch

Meine Erfahrung:

Ich habe mich selber lange mit allen möglichen Substanzen therapiert und medikamentiert. Ich habe Unmengen an Kaffee getrunken und sehr viel geraucht und andere Sachen ausprobiert. Die Phasen in meinem Leben, in denen ich so gelebt habe, waren qualvoll und schädlich und gehören zu den dunkelsten Zeiten meines Lebens. Erst seit der Diagnose und seit ich auch medikamentös richtig eingestellt bin und meinen Körper und wie er auf was reagiert, besser kenne, kann ich ein Leben führen, in dem ich nicht ständig zu Substanzen greifen muss, um mich konzentrieren zu können. Das ist einer der größten Erfolge der letzten 12 Monate und mein Körper erholt sich merklich von den Strapazen der letzten 10 Jahre. 

Wenn du also Speed, Amphetamin, Kokain oder Unmengen an Zigaretten und Kaffee konsumierst, um überhaupt mal klar und ruhig zu sein, um arbeiten zu können oder dich zu konzentrieren, ist das nicht ungewöhnlich – aber dennoch einfach Shit für deinen Körper. Selbstvorwürfe und Scham sind trotzdem nicht angebracht. Eine Selbstmedikation ist ein Zeichen der inneren Not und der Versuch, sich selber zu helfen. Menschen, die das pauschal verurteilen, verstehen oft das enorme innere Leid dahinter nicht.

Nichtsdestotrotz macht dich regelmäßiger Substanzmittelmissbrauch auf Dauer krank. Niemand kann ohne Spätfolgen über Jahre hinweg täglich oder mehrfach in der Woche Drogen nehmen. Den Preis zahlt man manchmal erst spät, aber man zahlt ihn. Mich hat der Moment wachgerüttelt, in dem ich mit Herzrhythmusstörungen, abgemagert und seit vier Tagen wach gespürt habe: Wenn ich das noch einen Tag länger mache, werde ich daran sterben. Das klingt melodramatisch, war aber exakt so. Leider brauchen wir ja manchmal erst den finalen, nicht mehr überhörbaren Warnschuss, damit wir kapieren, dass die Party vorbei ist und jetzt mal Schluss mit dem Unsinn. Ich hoffe, dass es bei dir nicht so weit kommen muss.

Zusammengefasst:

Ein ehrlicher Umgang mit Suchtproblematiken ist wichtig. Gegenüber dir selber und gegenüber deinem behandelnden Arzt oder Therapeuten – auch, weil es problematisch sein kann, bestimmte ADHS-Medikamente zu nehmen, wenn du zu Suchtverhalten neigst. Also kurzum: Lass das mit der Selbstmedikation und such dir Hilfe. 

4. „Erzähl das lieber keinem, dich nimmt niemand mehr ernst!“


Das ist etwas, das ich gerade nach meinem Artikel über ADHS für SPIEGEL ONLINE / bento sowohl in den Kommentaren als auch privat immer wieder gehört und gelesen habe. Ich glaube: Das ist Quatsch – aber nicht nur.

Ich wehre mich gegen den Gedanken, dass Menschen so dumm und einfach gestrickt sind, dass sie einen anderen Menschen verurteilen und degradieren, nur, weil er nicht wie sie selbst ist. Dass das jeden Tag trotzdem passiert, ist eine traurige Tatsache. Ich bin der Meinung, dass du deshalb sehr gut überlegen solltest, ob und wem du von der Diagnose erzählst. In meinem Umfeld war die Diagnose keine große Überraschung – die meisten dachten ohnehin, dass ich ADHS habe. Trotzdem habe ich lange gebraucht, um mit bestimmten Themen offen umzugehen. Und es war schwer. Und es ist noch heute schwer.

Zusammengefasst:

Ich glaube, dass es gut ist, wenn möglichst viele Menschen offen mit ihren Problemen umgehen, weil wir so alle dazu beitragen können, dass alle Arten von Krankheiten enttabuisiert werden. Die bittere Wahrheit ist aber, dass es immer scheiß Menschen geben wird, die so etwas gegen dich verwenden. Die darüber urteilen, lachen, dich benachteiligen, dich ausgrenzen. Und das ist ja nun einmal etwas, das du als ADHSler ohnehin echt schon einmal zu oft erlebt hast.

Du solltest dir darüber bewusst sein und für dich überlegen, welcher Umgang für dich erträglich und machbar ist. Wenn du das Gefühl hast, dass du mit Kritik, Anfeindungen und Vorurteilen in Bezug auf dich und die Erkrankung nicht umgehen kannst, dann setz dich dem nicht aus. Wenn du wie ich auf ein Umfeld vertrauen kannst, das okay und vernünftig damit umgehen kann, dann ist Offenheit ein Weg, eine tiefere Verbindung zu anderen mit mehr Verständnis und Ehrlichkeit zu schaffen. Beides ist möglich und alles dazwischen auch.

Am Wichtigsten ist auch hier: Selbstfürsorge und Selbstschutz sind wichtiger als alles andere. Triff solche Entscheidungen nicht aus dem Bauch heraus – die Konsequenzen bleiben nämlich länger als nur für diesen einen, impulsiven Moment. Falls du es jemandem anvertraut hast, der es nun herumtratscht: Lass dir bitte niemals, nie, nie, niemals einreden oder suggerieren, dass du deshalb weniger wert bist, weniger liebenswert, weniger klug oder irgendwie „gestört“ bist. Niemals! Menschen, die solche Aussagen oder Urteile fällen, treffen sie in so einem Moment nur über sich selbst – nicht über dich.

5. Chaos, Chaos, Chaos

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Immer wieder werden ADHSler als „Chaoskönig*innen“ bezeichnet. Ich mag den Begriff mittlerweile, weil er doppeldeutig ist: Ja, viele ADHSler leben in einem Königreich voll Chaos und Desorganisation. Aber wenn du an dir arbeitest, wenn du herausfindest, was dir beim Sortieren, Organisieren und Strukturieren hilft, kannst du Königin oder König ÜBER das Chaos werden. 

Was mir geholfen hat:

Apps. Ich habe den letzten Sommer damit verbracht, Apps zu testen, Programme zu installieren und wieder zu löschen, die mir dabei helfen sollten, mein Chaos in den Griff zu bekommen. Am meisten helfen mir Kalender-Apps und To-Do Apps, die mich an einfach alles erinnern.

Um Hilfe bitten: Es gibt bestimmte Dinge, die kriege ich bis heute nicht alleine hin. Die Steuer, bestimmte Behörden-Sachen etc. Ich verheimliche das nicht mehr, sondern bitte Freunde und Eltern, Experten und meine Therapeutin um Hilfe. Ich verbiete mir die Scham, die das auslöst. Es ist schwer, es ist manchmal auch beschämend, dass so viel nicht geht, was für andere selbstverständlich ist – aber es ist kein Charakterfehler, es ist lediglich mein Gehirn, das von Dingen überfordert ist, die für andere „normal“ und „easy“ sind. Das ist etwas, das man sich immer wieder klarmachen sollte: Es ist nicht deine Schuld, aber es ist deine Herausforderung und Aufgabe, dir Hilfe zu suchen – bevor du mal wieder im Chaos versinkst.

Realistisch bleiben: Ich weiß, dass ich mich nicht so lange am Stück konzentrieren kann, wie andere. Ich weiß, dass ich für bestimmte Dinge länger brauche. Also plane ich das mit ein. Und ich habe aufgehört mich dazu zwingen zu wollen, wie andere zu funktionieren. Jedes Mal, wenn ich es doch versuche, endet es im Chaos und in totaler Überforderung. Ich lerne also zu verstehen und zu akzeptieren, dass ich meinen eigenen Rhythmus habe und brauche und dass ich dann auch genau so viel und manchmal sogar mehr als andere leisten kann.

Ich fotografiere alles. Das hilft mir, mich besser zu erinnern. Viele ADHSler haben Probleme mit ihrem Gedächtnis und schätzen Zeitabläufe und Zeitpunkte falsch ein. So geht es mir auch und die Fotos helfen mir, mich zu erinnern, wann was genau mit wem war.

Erinnerungen einspeichern. Ich kann mich nicht auf meinen Kopf verlassen, das beweist er mir tagtäglich. Deshalb speichere ich mir für fast alles Erinnerungen ins Telefon. Sogar dann, wenn es nur Kleinigkeiten sind. Und ich stelle die Erinnerungen so ein, dass ich mehrfach darauf hingewiesen werde, Mein Telefon nervt mich regelrecht – weil ich das so will. Es ist eine strenge Mutter, eine Erzieherin, ein nachsichtiger Therapeut, ein Teil meines Ichs, das mich so gut kennt, dass es weiß, dass ich manchmal fünf Erinnerungen brauche. Es ist der Teil in mir, der mich selber austrickst.

Alles sofort und jetzt. Jemand sagt mir einen Termin? Ich speichere ihn noch im gleichen Augenblick in meinen Kalender. Jemand schreibt mir, dass er etwas bis zu einem gewissen Zeitpunkt braucht? Ich speichere auch das ein. Und ich mache es sofort. Nicht nachher, nicht nach dem Essen, nicht gleich. Jetzt. Denn sonst ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass ich nicht nur das Einspeichern vergesse, sondern gleich den ganzen Termin. Ich bin so viel seltener zu spät oder vergesse Verabredungen, ich bin zuverlässig geworden und pünktlicher. Dieser Trick ist jener, der mir am meisten dabei hilft.

Mir haben auch Wochenpläne geholfen, das Einspeichern von wirklich jeder Kleinigkeit als Erinnerung und der feste Wille, nicht mehr alles aufzuschieben, weil ich so überfordert bin. Die Liste ist eigentlich wesentlich länger, würde aber den Rahmen hier sprengen. Deshalb:  In diesem Forum (das mir ohnehin so sehr geholfen hat) findest du weitere hilfreiche Tipps von Betroffenen. Sie alle sind Experten im Chaos. Und sie alle wissen genau, wie du dich fühlst. 

6. Du bist nicht alleine!

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In einer Zeit, in der ich sehr mit mir, meiner Diagnose und dem Umgang damit gehadert habe, hat mir das Sprechen mit anderen ADHSlern und auch das Lesen von Erfahrungsberichten und dem, was andere Betroffene jeden Tag erleben, unendlich geholfen. Dieses Forum ist nicht nur hilfreich für Betroffene und Angehörige, sondern es ist auch randvoll mit klugen Tipps. Alle dort sind meiner Meinung und meiner Erfahrung nach Experten in eigener Sache und ihre Ratschläge und das, was sie berichten, über alle Maßen hilfreich und konstruktiv. 

Zusammengefasst:

Du bist nicht alleine mit dem Shizzle, du bist nicht „bescheuert“, „irre“ oder „abnorm“. Es gibt viele von uns und es gibt Hilfe. Zudem gibt es zig Selbsthilfegruppen, zu denen du gehen kannst. Eine Liste findet man hier zum Beispiel. 

7. „ADHSler sind alle hochbegabt, oder?“

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So viele negative Vorurteile es in Bezug auf ADHS gibt, so viele „positive“ gibt es auch. Die kurze Antwort ist trotzdem: Es ist kompliziert. Einige Experten behaupten, ADHSler seien häufig hochbegabt oder hätten einen überdurchschnittlichen IQ. Andere behaupten, dass dem nicht so sei. 

Wir können das Mehr an Begabung nicht nutzen, weil wir damit das Weniger an Konzentration, Gedächtnis und Geschwindigkeit ausgleichen müssen. 

Ich selber bin hochbegabt, habe aber die Erfahrung gemacht, die viele ADHSler, die ebenfalls hochbegabt sind, teilen: Eine überdurchschnittliche Intelligenz oder Begabung gleicht oft nur die Defizite aus, die die ADHS mit sich bringt. Kurz: Wir können das Mehr an Begabung nicht nutzen, weil wir damit das Weniger an Konzentration, Gedächtnis und Geschwindigkeit ausgleichen müssen

Trotzdem bedeutet ADHS nicht gleich Hochbegabung. Und auch IQ-Tests sind umstritten. Meiner persönlichen Einschätzung nach entsteht das Vorurteil des „genialen ADHSlers“ vor allem aus zwei Gründen: 

Erstens: Viele ADHSler sind ungewöhnlich kreativ (oder mussten früh lernen, es zu sein, um Defizite zu vertuschen z.B.). Eine hohe Kreativität oder ungewöhnliches Denken wird oft mit Intelligenz oder Hochbegabung assoziiert. 

Zweitens: ADHS bedeutet wie oben schon geschrieben NICHT, dass man sich gar nicht konzentrieren oder nie aufmerksam sein kann – es bedeutet viel mehr die Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken. Wenn ADHSler sich jedoch für etwas begeistern oder von etwas sehr eingenommen sind, sind sie oft zu fast genialen Höchstleistungen in der Lage – auch, wenn sie nicht überdurchschnittlich hoch intelligent oder begabt sind. Für Außenstehende kann das dennoch anders wirken.

Nicht wenige Autor*innen und Expert*innen behaupten auch, ADHS sei eine Gabe oder eine Fähigkeit, die nur nicht in die moderne Welt passen würde (die sogenannte „Jäger und Farmer“ Theorie.

Warum Extreme nicht helfen

Ich stehe allen Theorien skeptisch und mitunter äußerst kritisch gegenüber. Ich glaube, dass hinter der hohen Kreativität oft (nicht immer) ein enormer Leidensdruck steht, der nicht einfach verschwindet, nur weil jemand sagt, dass das doch ein Geschenk sei. Ich glaube zudem, dass es weder hilfreich ist, so zu tun, als sei ADHS eine vernichtende Diagnose, die einem Menschen das Leben zerstört – noch, dass es eine Art „Geschenk“ ist oder ein Vorteil. Ich denke, dass die „Störung“ eine Menge guter Sachen mit sich bringen kann – und sehr viele sehr schwierige. 

Hilfreich finde ich einen IQ-Test bei der ADHS-Diagnosestellung jedoch deshalb, weil sich viele Betroffene bis zu diesem Augenblick für „dumm“ und „minderwertig“ gehalten haben. Zu sehen, dass die eigene Intelligenz völlig durchschnittlich oder sogar erhöht ist, kann Selbstwert zurückgeben und eine Art Genugtuung sein. Mir hat dieser Teil daran sehr geholfen, weil ich wie viele, viele andere Betroffene das enorme Potential meines Denkens gespürt habe – aber auch immer und immer wieder erlebt habe, wie ich an den einfachsten Dingen scheitere (Formulare Fehlerfrei ausfüllen, mich konkret an Dinge erinnern etc.).

Zusammengefasst:

Ich wehre mich gegen das „Abfeiern“ von ADHS als großes, geiles Geschenk. Diese Sicht verhindert meiner Meinung nach das Sichtbarmachen der Defizite, Probleme und auch Ängste und Nöte, die hinter einer ADHS stehen. Es ist wie so oft: kein Extrem, weder das Verteufeln noch das Abfeiern, scheinen mir ein gesunder und guter Weg im Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen und mit dieser Störung im Besonderen nicht.

8. „Endlich weiß ich, was los ist, jetzt wird alles gut!“

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Das habe ich Anfang 2016 gedacht. Und die Bauchlandung danach war hart und schmerzhaft. Nein, eine Diagnose macht nicht alles gut. Nein, das Leben wird danach nicht plötzlich leicht. Auch hier: Jede*r erlebt die Zeit nach der Diagnose anders. Mir haben Betroffene erzählt, dass sie extrem erleichtert waren und endlich ihr Leben relativ zügig in den Griff bekommen haben. Mir haben aber ebenso viele davon erzählt, wie auch ich es erlebt habe: Nach der großen Erleichterung kam die große Enttäuschung, gefolgt von der Realität.

Was bedeutet das?

Wenn du zur ersten Gruppe gehörst: Glückwunsch, go on. Wenn du wie ich zur zweiten gehörst, hier eine Zusammenfassung von Herausforderungen, die ich entweder persönlich erlebt oder von denen ich gelesen habe, sowie das, was mir Betroffene berichtet haben:

Die Medikation. Es kann mitunter lange dauern, bis man das für sich richtige Mittel gefunden hat. Und dann noch mal eine Weile, bis man weiß, wie viel man davon wann braucht, damit es optimal für einen funktioniert. Das sind manchmal schwierige Monate und Wechselbäder voller Hoffnung und Enttäuschung, Wut und Erfolgserlebnissen. 

Die Medikation hat manchmal zudem auch den Effekt, dass man überhaupt erst merkt, wie krass die Defizite sind, die man ohne hatte. Und wie „merkwürdig“ man sich manchmal verhalten haben muss. Das kann schwer zu verarbeiten und zu verstehen und ohne Scham und Selbstvorwürfe zu realisieren, kann eine große Aufgabe sein.

Das Leben wird nicht einfacher, nur, weil man weiß, wie das heißt, was dir so viele Probleme bereitet. Leider bist du immer noch ganz alleine selbst dafür verantwortlich, Ordnung ins Chaos zu bringen, Lösungen nicht nur in der Theorie zu sehen, sondern auch umzusetzen. Auch, wenn ich der einen oder anderen Behörde manchmal gerne sagen würde, dass ich nichts dafür kann, dass das Formular zu spät kommt oder ich eben auch, weil ich ADHS habe und mir so etwas schwer fällt – ich muss mich doch darum kümmern. Und damit kommen wir auch zum nächsten Punkt:

ADHS ist keine Entschuldigung. Es ist eine Erklärung für manche Dinge und Verhaltensweisen, aber nicht für alle. Und Ziel sollte es meiner Meinung nach immer sein, Probleme und Defizite zu identifizieren und zu bewältigen (wenn das möglich ist) und sich nicht darauf auszuruhen, dass man „halt so ist“. Außer, wenn es um den nächsten Punkt geht:

Lernen, sich zu akzeptieren. Nur, weil man eine Diagnose hat, heißt das nicht, dass man diese Erkrankung oder dieses Problem ist, denn eine Krankheit definiert dich nicht als Menschen. Trotzdem ist nicht zu leugnen, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen ADHS mit sich bringt. Ich finde es deshalb wichtig, sich selber immer wieder daran zu erinnern, dass man nicht dumm, faul oder inkonsequent ist, sondern dahinter eine Problematik steckt, die einem das Leben ganz schön schwermachen kann. Kurzum: ADHS ist keine Entschuldigung, aber die Folgen und Probleme, die es mit sich bringt und  darunter zu leiden, sind nichts, wofür man sich die Schuld geben sollte oder wofür man sich schämen müsste. 

9. Sei lieb zu dir!

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Vielen ADHSlern wird seit ihrer Jugend erzählt, dass sie dumm seien oder anstrengend, nervig, chaotisch, krank, faul oder abnorm. Diese Dinge fressen sich wie Säure in eine Seele, die ohnehin schon komplett überfordert ist mit sich selbst. Und sie richten immensen Schaden an. Was folgt sind Selbsthass und tiefe Verunsicherung.

Für viele Betroffene ist es deshalb schwer, lieb zu sich selber zu sein. Ehrlich gesagt ist das der Punkt, an dem es mir am schwersten fällt, einen guten Rat zu geben – ich kämpfe selber jeden Tag mit den Stimmen in meinem Kopf, die mich antreiben, noch härter zu mir zu sein. Die mir erzählen, dass ALLE ANDEREN es besser hinbekommen als ich. Dass ich kein Defizit habe, das eine Herausforderung ist, sondern einfach nur noch strenger zu mir sein muss. Mich noch mehr kontrollieren soll. Dass ich schwach bin und es lächerlich ist, dass ich nicht pünktlich bin und mich wieder nicht konzentriert habe. 

Realitätsabgleich

Mir hilft es, dann mit sehr engen Freunden zu sprechen und ihnen zu erzählen, was los ist und wie ich über mich denke. Sie zu fragen, ob ich das hätte besser machen können. Oder wie ich es besser machen kann. Das nennt sich „Realitätsabgleich“ und es hilft zumindest dabei, etwas realistischer in der Selbsteinschätzung zu sein. Am Ende kommt übrigens meistens heraus, dass die meisten Menschen niemals so hart über einen urteilen, wie man selbst über sich. Und die, die es doch machen, haben meistens ganz ähnliche Probleme. Oder sind halt Arschlöcher. 

10. „Find what you love and let it kill you.“

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Charles Bukowski ist vielleicht nicht das beste Vorbild für ein gesundes Leben, aber dieses Zitat von ihm ist etwas, das helfen kann, trotz ADHS und allem, was es mit sich bringt, ein gutes und glückliches Leben zu führen. 

Damit meine ich: Eine Konsequenz aus der Diagnose und dem daraus resultierenden Wissen über mich und wie ich funktioniere, war, einzusehen, dass bestimmte Dinge für mich schädlich sind und mich krankmachen. Dazu gehörte zum Beispiel das Sitzen in einem Großraumbüro (Hello Reizüberflutung 8000!) und ein Lebensstil mit wenig Schlaf und viel Stress. Ich habe mir Umstände geschaffen, die mich etwas mehr meinen eigenen Rhythmus leben lassen. Die mir mehr Schlaf ermöglichen und weniger Stress. Und vor allem: Mehr Selbstbestimmtheit.

Und, was hilft jetzt?

Ich glaube, dass jemand noch so viel Medikamente nehmen kann und noch so viele Therapiesitzungen absolvieren – wenn der Alltag, der Job, die Umstände ständige massive Reizüberflutung und Stress bedeuten, wenn man ständig überfordert, zu Tode erschöpft oder extrem unterfordert ist, dann bringt das alles sehr wenig bis gar nichts.

Die ganze „Eat, Pray, Love“ Nummer ist trotzdem nur was für Menschen, die es sich leisten können. Und wer kann das schon. 

Jede*r kann aber Ausgleiche schaffen und Dinge und Umstände verbessern, die schädlich für ihn sind. Mir hat zum Beispiel Sport sehr geholfen. Und Nein sagen. Nein zu Menschen, Umständen und Jobs, die mir nicht guttun. Nein zu einem Leben, das zwar aufregend, aber auch zerstörerisch war. Was das „Nein“ am Ende bedeutet, für dich, für jeden, ist so mannigfaltig wie individuell. Ich glaube nicht an allgemeingültige Ratschläge und an Wunder. Ich glaube auch nicht daran, dass man mal eben so einen Job kündigen kann oder eine anstrengende Beziehung beendet. Ich glaube aber, dass das auch nichts ist, worauf man sich ausruhen sollte. Ich habe nämlich Jahre meines Lebens damit verschwendet zu denken, ich müsste diese und jene Sache machen, diesen und diesen Job, so und so viel Geld verdienen, das und das erreichen – um glücklich zu sein. Dabei war ich de meiste Zeit eigentlich nur sehr müde, sehr gefangen und sehr, sehr unglücklich.

Also:

Die Wahrheit ist: Es ist ziemlich schwer herauszufinden, was einen glücklich macht. Aber es ist ein bisschen leichter zu identifizieren, was einem schadet und das eigene Leben kaputt macht. Daher ist es vielleicht ratsam, genau damit zu beginnen: „Finde, was dich killt und ersetze es durch Dinge, die dir wirklich helfen“. Und damit sind nicht die ganz großen, „life changing moments“  gemeint, sondern die kleinen Dinge. Eine Politik der kleinen Schritte klingt vielleicht nicht so geil und fancy wie es in so manchem Buch steht – aber es bringt dich am Ende Schritt für Schritt weiter. Und weiter weg von einem Ich, das sich durch ein Leben quält, das ungesund und hässlich geworden ist.

 


Wichtige Anmerkungen:

Ich spreche hier immer von „ADHS“ und differenziere nicht zwischen der Aufmerksamkeitsstörung mit und ohne H (Hyper- bzw. Hypoaktivität), also zwischen ADHS und ADS. Zudem differenziere ich auch nicht zwischen hypoaktiv und hyperaktiv. Das dient lediglich der Vereinfachung und soll keinesfalls den Eindruck erwecken, alle Ausprägungen der Erkrankung seien komplett identisch. Was der Unterschied ist, kann man hier lesen.

Ich spreche hier für mich. Ich versuche dabei, sowohl meine persönlichen Erfahrungen, die Berichte von anderen Betroffenen und auch die Studienlage mit einfließen zu lassen. Wenn dir etwas auffällt, bei dem du denkst, dass es faktisch falsch ist, schreib mir bitte eine Mail oder hinterlasse einen Kommentar, ich überprüfe das dann schnellstmöglich. Wenn du denkst, dass ich etwas vergessen habe oder das so nach deinem Gefühl nicht stimmt, schreib mir bitte und gerne auch. Ich bin nicht einmal meine eigene Expertin – ich versuche ebenso wie du, der du hier gelandet bist, nur mit der Erkrankung umzugehen, sie zu verstehen, zu lernen. Fachliche Fragen kann und will ich dir nicht beantworten – am Ende dieses Beitrags findest du aber eine Auflistung von Büchern, Links und Foren, die ich extrem hilfreich finde und die dir vielleicht viele Fragen beantworten können.

Ich lösche / sperre Kommentare und Kommentator*innen, die beleidigende, abwertende, populistische oder werbende Inhalte unter diesem Beitrag posten. Jede*r darf glauben, was sie/er mag, eine Plattform für Esoterik / Homöopathie und Verschwörungsverschwurbelungen biete ich hier trotzdem nicht. 

Im Artikel selber findest du schon jede Menge Links und Tipps. Hier noch einmal Bücher, die mir sehr geholfen haben und Foren, in denen du Hilfe und Ratschläge findest:

Bücher:

Das kreative Chaos von Walter Beerwerth ist eine teilweise sehr philosophische und kluge, mitunter aber auch plakative und wütende Auseinandersetzung mit ADHS. Keine Erstlektüre, aber eine, die ich jedem empfehlen kann, der sich schon ein bisschen mit dem Thema beschäftigt hat.

„ADHS bei Frauen“ ist ein sehr gutes und hilfreiches Buch von Doris Ryffel-Rawak und erklärt noch einmal die spezifischen und besonderen Herausforderungen der Erkrankung für Frauen – insbesondere auch, wie sich Beziehungsgestaltung, der Einfluss von Hormonen und Klischee-Rollenbilder auswirken.

Die Chaosprinzessin von Sari Solden ist leider vergriffen und wird nicht mehr so einfach zu bekommen sein, gehört aber zu den meistgeschätzten und hilfreichsten Büchern.

Lass mich, doch verlass mich nicht von Cordula Neuhaus ist nicht nur hilfreich was das Thema „Beziehung und ADHS“ angeht, sondern allgemein sehr hilfreich – auch und gerade für Angehörige, Freunde und Interessierte.

Zuletzt noch die „ADHS Bibel“, das Standardwerk: Zwanghaft zerstreut von Halloway/Ratey. Dieses umfangreiche und wirklich hilfreiche Buch gehört zur Pflicht-Lektüre.

Es gibt noch unzählige andere Bücher, diese hier waren für mich jedoch die wichtigsten.

Foren

Mir haben vor allem die Chaoten immer und immer wieder unendlich geholfen. Das Andersweltforum kenne ich persönlich nicht besonders, es soll aber ebenfalls sehr gut sein.

tl:dr: 

me: “i have so much work to do”

my brain:

Mehr bei EDITION F

„Die Gesellschaft geht davon aus, dass ADHS mit dem 18. Lebensjahr vorbei ist“. Weiterlesen

Clara*: „Es ist sehr schwierig Psychiater zu finden, die auf ADHS spezialisiert sind“. Weiterlesen

Ninette: „Nein, ADHS lässt sich nicht wegerziehen!“ Weiterlesen

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