Foto: Anter Blackbird | unsplash

Vergiss die Regelstudienzeit! Für den Berufseinstieg ist etwas ganz anderes entscheidend

Immer früher und schneller absolvieren junge Menschen ihre Studiengänge und streben in die Wirtschaft. Das ist der falsche Weg.

 

Welche Profile suchen Unternehmen?

„Oh und Ihren Bachelor haben Sie erst mit 25 Jahren gemacht? Wieso hat das so lange gedauert? Und wieso haben Sie keinen Master mehr hinten angehängt? Also wir suchen eigentlich jemanden, der geradlinig, motiviert und zielorientiert arbeitet …“

Jünger sollen die Anwärter auf Jobs sein! Mehr Lebenserfahrung sollen sie mitbringen! Mehr Fachkompetenzen sollen sie haben! Aber das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal … und zwischen Wunsch und Realität gibt es deutliche Diskrepanzen.

Wir glauben: Hochschulabsolventinnen und -absolventen sind zunehmend sehr jung, fachlich top, bringen jedoch kaum Lebenserfahrung mit und sind, um es auf den Punkt zu bringen: unreif. Es sind die typischen Überflieger, die nur die Schulbank oder den Hörsaal kennen.

Wo ist die Reifezeit?

Früher war das anders. Noch in den 90ern war das Studium auch eine Zeit des Ausprobierens, des Reisens und der persönlichen Orientierung. Gerade auf den Universitäten mussten die Studenten sich ihr Studium selbst organisieren. Sie haben sogar die Lerninhalte, in gewissen Grenzen, selbst zusammengestellt. Die Studienabgänger hatten dann zumindest etwas von der Welt gesehen, konnten mehr Sozialkompetenz entwickeln und Lebenserfahrung sammeln. Die perfekte Vorbereitung auf die Herausforderung Beruf.

Heutzutage kommen die Jugendlichen noch früher aus der Schule, die Studiengänge sind stark verschult und komprimiert, sodass die Abgänger nicht genug Zeit haben, sich charakterlich zu entfalten und persönlich zu entwickeln.

Natürlich können auch sehr junge Leute viele Erfahrungen gesammelt haben und reifen. Simone zum Beispiel hatte ein duales Studium gemacht und war sehr jung in ein Unternehmen gekommen, wo sie umfassend gefördert wurde. So hatte sie die Möglichkeit, sich sehr schnell zu entwickeln und früh erfolgreich eine Führungsposition zu übernehmen. Andererseits musste sie sich voll auf das Studium und die Arbeit konzentrieren, um voranzukommen. Es blieb keine Zeit für ein Studienjahr im Ausland.

Steigende Lebenserwartung – trotzdem keine Zeit

Gerade solche Erfahrungen, die raus aus dem behüteten Alltag führen, sind es jedoch, die einen Menschen im Allgemeinen reifen lassen. Wir verstehen nicht, warum gerade in der wichtigsten Entwicklungsphase so eine Hektik gemacht wird, wo die Menschen doch durch die steigende Lebenserwartung mehr Lebenszeit haben. Wir meinen, dass die Auswahlkriterien der Personaler und Unternehmer die gesellschaftliche Entwicklung spiegeln sollten. Nach unserer Beobachtung haben aber auch die Personalabteilungen und Unternehmer in den letzten zwanzig Jahren viel zu stark nach jüngeren Bewerbern gerufen.

Die Frage, die man sich stellen sollten, ist daher: Was können Unternehmer oder Führungskräfte tun, um eine ausreichende Anzahl an qualifizierten und vor allem reifen Bewerbern zu bekommen? Fachliche Kompetenz allein sollte nicht ausreichen, sondern man sollte vor allem gereiften Persönlichkeiten eine Chance geben, die sich vielleicht auch mal ein paar Jahre länger zum Ausprobieren gegönnt haben.

Individuelle Lebensläufe machen den Unterschied

Was das einem Unternehmen bringt? Praxistaugliche Mitarbeiter und weniger Einarbeitungsaufwand. Wir machen in unserem Unternehmen jedenfalls sehr gute Erfahrungen mit Bewerbern, die mehr Lebenserfahrung mitbringen und wissen, was sie wollen. Wir haben erst kürzlich eine reife, fachfremde Bewerberin als Dozentin eingestellt, die als Religionswissenschaftlerin nun im kaufmännischen Bereich sehr erfolgreich unterrichtet. Ihre Kunden sind durchweg begeistert von ihr, denn sie kann sich auf die verschiedenen Menschen super einstellen.

In diesem Sinne, ist unserer Appell an die Politik:

Liebe Politiker: Schaffen Sie bitte einen Rahmen, in dem es jungen Menschen möglich ist, zu reifen.

Liebe Personalverantwortliche, liebe Unternehmer: Schauen Sie bitte nicht ausschließlich nach top-ausgebildeten Überfliegern, sondern geben Sie auch individuellen Lebensläufen eine Chance. Das würde nicht nur Ihr Unternehmen bereichern, sondern auch unsere Gesellschaft.

Liebe Schüler und Studenten: Habt den Mut, euch auszuprobieren und Lebenserfahrung zu sammeln. Nehmt euch Zeit, euch selbst zu finden, auch wenn es ein, zwei Jahre länger dauert.

Mehr bei EDITION F

Vom Nobody zum Überflieger: Wer im Job vorankommen will, braucht Karrierebrüche. Weiterlesen

„Ich habe eine Lücke im Lebenslauf – wie schlimm ist das?“ Weiterlesen

Hört endlich damit auf, nur für den perfekten Lebenslauf zu leben! Weiterlesen

Anzeige