Foto: Cole Patrick

Wir ziehen aufs Land

Romantisch klingt die Idee schon. Ein Haus mit Garten und Katzen und irgendwann Kinder, die darin spielen. Katharina Höftmann schreibt über Landflucht.

 

Als Shirli anruft, liege ich im Bett im neuen Haus. Doch egal, wie sehr ich mich auch bemühe, mich in den Schlaf zu wurschteln, meine Augen schließen sich seit vier Tagen nie länger als vier Stunden am Stück. Der Umzug raubt mir den Schlaf. Der Umzug und unser Kater, der das Kunststück vollbracht hat, die ganze Nacht wie Vieh vorm Schlachthof zu schreien. Die von mir selbst gestellte Psychologendiagnose: Ich leide unter transienter Insomnie. Transient wie transitorisch. Vorrübergehend. Hoffentlich.

Shirli war nicht unbedingt für unseren Umzug. Sie ist zwei Jahre älter als ich und versteht nicht, was ich in einer Kleinstadt will. Aber sie ist Single, arbeitet nicht zu Hause und scheint nicht annähernd so viel Ruhe zu brauchen wie ich. Gerade versucht sie, mich zu überzeugen, eine Tablette zu nehmen, die Rollos runterzulassen und pennen zu gehen. Aber erstens nehme ich keine Schlaftabletten und zweitens, selbst wenn ich welche hätte, wären sie in einem der unzähligen Kartons, die sich wie die Anden durch mein Arbeitszimmer ziehen.

Und wie ist das Haus?“, fragt sie, als sie merkt, dass ich keine Tabletten nehmen will und wir daher noch etwas weitersprechen können.

„Das Haus ist toll. Ich werde es noch viel toller finden, wenn ich nicht mehr so erschöpft bin.“

„Wie geht es den Katzen?“

„Friedman und Evil geht’s gut. Dschinji habe ich, nachdem er nonstop geschrien hat, irgendwann um fünf Uhr morgens in ein Zimmer mit Klo und Futter gesperrt.“

„Gut.“

„Als ich aufgestanden bin, hing er festgeklemmt zwischen der Fensterscheibe und dem Insektenschutz-Gitter.“

„O Gott.“

„Wir mussten ihn ganz vorsichtig rausziehen. Es war schrecklich. Er sah aus, als wäre sein kleines Fellgesicht von einem schlechten Schönheitschirurgen geliftet worden, so fest hing er zwischen den Scheiben.“

„Ach du Scheiße.“

„Im Nachhinein kann man es fast lustig finden“, sage ich, auch wenn mir heute Morgen nicht zum Lachen zumute war. Shirli lacht schon und stellt dann die Gretchenfrage.

„Und wie ist es denn nun? Das Haus?“ Das Haus ist toll. Das Haus ist groß und so viel besser als die kleine Wohnung.

Der Garten kommt mir im Vergleich zu unserem Stadtbalkon riesig vor. Am Rand stehen Zitronen- und Apfelsinenbäume. Es gibt sogar eine Bananenstaude. Das Haus hat viele Fenster und hohe Decken. Wenn ich es erst mal eingerichtet habe, werde ich es bestimmt lieben. Im Moment hasse ich es. Im Moment komme ich mir vor, als wäre ich bei Fremden zu Besuch. Im Moment fühle ich mich, als sollte hier ein anderer leben. „Es ist nur“, schniefe ich ins Telefon, „meine Eltern sind im Urlaub. Ich habe seit fast einer Woche nicht mehr mit ihnen gesprochen. Und das in so einer schwierigen Veränderungssituation. Das deprimiert mich zusätzlich.“

Ich führe mich auf wie ein Kind, denke ich zornig. Ein kleines Kind, das nach seinen Eltern verlangt. Ein Kind, das beschlossen hat, in ein Haus ohne Eltern zu ziehen. „Im Moment habe ich noch das Gefühl, das Haus und ich führen getrennte Leben. Ich bin hier, und das Haus ist da“, philosophiere ich weiter. Wenn nur meine Eltern schnell zu Besuch kommen könnten. Shirli schweigt. Nein sie schweigt nicht, sie unterdrückt eine Antwort. Ich höre sie trotzdem: „Du wolltest es doch so.“ Ja, ich wollte es so. Ich wollte weg aus der Stadt und nach zehn Jahren Stadtleben in eine kleine Wohnsiedlung neben Weinbergen. Ich wollte es so, aber gerade die Dinge, die man eigentlich will, machen einem das Leben schwer. Ich weiß nicht, wie ER das macht. Er hat den ganzen Tag unsere russischen Möbelpacker versorgt, während ich den völlig verängstigten, vollgeschissenen Kater Dschinji im Arm hielt (Katzen reagieren weniger gut auf Veränderungen, einer der Gründe, warum ich mich so gut mit ihnen verstehe). Ich habe mich gar nicht erst aus dem Katerzimmer getraut, und deshalb stehen die Kisten jetzt alle falsch.

Eigentlich kann ich so was besser. Aber er, er läuft und baut und macht Essen und freut sich wie ein Verrückter, dass er jetzt in diesem tollen Haus lebt. Am Anfang musste ich ihn überzeugen, überhaupt umzuziehen, und jetzt ist er ganz Fan und ich ein Haufen Elend. „Das sind deine hohen Neurotizismus-Werte“, würde Sachiko jetzt fachmännisch sagen. „Quatsch, ich habe die höchsten Werte in Offenheit und Extraversion“, würde ich antworten. Ich bin ein offener, geselliger, gesprächiger Mensch. Keine dunkle Seele. Die Persönlichkeitsmerkmale, von denen wir so gerne sprechen, nennt man in der Psychologie „Big Five“. Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Verträglichkeit sind Faktoren, auf denen der eigene Charakter mehr oder weniger stark basiert. Meinen Wert auf der Neurotizismus-Skala – ein Konzept, das von fehlender emotionaler Stabilität und unangemessenen Reaktionen auf Stresssituationen definiert wird – habe ich vergessen.

Wahrscheinlich weil es der Wert war, der mich schwach machte. Und wie Shirli, die zwar nicht Psychologie sondern Modedesign studiert hat, dafür aber umso leidenschaftlicher zu ihrer Psychotherapeutin ging, einmal treffenderweise festgestellt hat: Schwache Menschen machen mich wütend. Vielleicht auch nur hilflos und deswegen wütend. In jedem Fall kann ich Schwäche nicht immer mit dem Verständnis begegnen, die sie verdient hätte. Eigentlich nie. Auch nicht mir selbst gegenüber. Und nun saß ich in diesem Haus, für das ich so offen war und in das ich so viele Menschen einladen wollte, und litt an einer persönlichkeitsbedingten Stressreaktion. Begegnete der Veränderung wie eine ängstliche Katze. Immerhin, vollgeschissen hatte ich mich nicht. Ins Freie traute ich mich aber trotzdem nicht. Dort lauerten die neuen Nachbarn. Und ich hab’s nicht so mit Nachbarn. Ich grüße aus der Ferne, aber das war es dann auch schon. Mehr Kommunikation irritiert mich.

Ich weiß, dass es theoretisch bestimmt schön wäre, wenn nebenan Freunde wohnen. Aber die Tatsache, dass ich von diesen Freunden dann nie richtig wegkäme, macht mir Angst. Nicht so IHM. Er rannte noch am selben Tag, als wir hier ankamen, wie ein fröhlicher Hund am Strand durch unsere Straße und begrüßte alle Nachbarn, die er finden konnte. Stellte sich vor, betrieb Small Talk … während ich buckelte und befremdet durch die Gegend starrte. Die Leute, die ich gesehen habe, waren anders als wir. Sie hatten Kinder, und damit schien ihr Leben, so wie es war, aufgehört zu haben. Als ich nach einigen Tagen in Isolation doch einmal das Haus verließ, beobachtete ich, dass unsere Nachbarn immer etwas taten. Das heißt, sie taten nicht nur, sie unternahmen. Beluden Autos mit Kinderscharen für einen Tagesausflug, mähten Rasen und schnitten Hecken, trieben Sport oder bereiteten ihren Grill vor. Doch da war noch etwas anderes: ihre Klamotten. Sie trugen Regenjacken, weite Hosen mit vielen Taschen und Crocs oder Birkenstocks. Die Materialien wasserabweisend, die Schnitte bequem. Es war, als wäre ich in einen Jack-Wolfskin-Laden gezogen.

„Funktionale Outdoor- Bekleidung für aktive Menschen von heute“ oder frei nach dem Motto: „Guten Morgen, Herr Wolfskin. Was können wir an diesem herrlichen Tag unternehmen?“ Eine gefühlte Unendlichkeit nach meinem Telefonat mit Shirli – in Wirklichkeit wahrscheinlich nur eine Woche später – sind meine Eltern endlich wieder da. „Na, was denkst du denn? Wir mussten uns die Spießigkeit auch erst mal angewöhnen“, sagt mein Vater, als ich ihnen schildere, warum ich trotz des perfekten Hauses immer noch nicht richtig glücklich bin.

Sich an die Spießigkeit zu gewöhnen ist so eine Sache. Die meisten meiner Freunde sind weit entfernt von einem Leben in einer spießigen Kleinstadt. Sachiko zieht bald nach Paris und war gerade mal wieder ein halbes Jahr in Tokio. Julia lebt und arbeitet in London. Sofia in Berlin. Und Shirli in Tel Aviv. In meiner kleinen Heimatstadt habe ich noch eine gute Freundin, die dort geblieben ist, und lange wusste ich nicht, wie sie das macht. Denn die meisten meiner Freundinnen können sich im Leben nicht vorstellen, in die Einöde von Suburbia zu ziehen. Zumindest nicht in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Warum wollte ich es plötzlich so dringend? Woher kam das Bedürfnis nach diesem Leben, auf das ich gut und gerne noch fünf Jahre hätte warten können?

Ich glaube, es hat vielleicht was damit zu tun, dass ich mehr oder weniger in zwei Ländern gleichzeitig lebe. Irgendwie ist meine Identität, seit ich IHN kennengelernt habe, etwas aus dem Gleichgewicht. Vielleicht brauche ich dieses normale, gediegene Leben, diese Ruhe, um die Aufregung zu ertragen, die tief in mir herrscht. Oder ich habe schlichtweg das Bedürfnis nach Spießigkeit geerbt, und es ist jetzt halt schneller durchgekommen als gedacht. Meine Eltern haben früher schon nicht verstehen können, was ich an Berlin so toll finde. Dass die Stadt mich nicht stresst. Und sie hat mich nicht gestresst. Lange nicht. Aber plötzlich ist irgendetwas in mir passiert, und auf einmal wollte ich nur noch Ruhe. Und vor allem in Tel Aviv, wo dank der Wärme alle Fenster offen stehen und das Leben auf der Straße stattfindet, hat mich der Lärm irgendwann aggressiv gemacht. Aber es geht nicht nur um den Ruhefaktor. Ich hatte plötzlich das Gefühl, in der kleinen Wohnung eingesperrt zu sein. Tja, und nun sitze ich hier in einem Fünf-Zimmer-Haus mit Garten, um mich herum Totenstille, und fühle mich so deplatziert wie Reiner Calmund in einer Selbsthilfegruppe für Magersüchtige.

Vier Monate später…

ER und ich gehen zur Bank. Es ist 23.30 Uhr und die Hauptstraße in unserer Kleinstadt wie leergefegt. Es gibt keine anderen Menschen in der kleinen Fußgängerzone. Kein Späti. Keine Bar. Keine geöffneten Restaurants. Aber auch keine hupenden Autos. Keine müffelnden Partyleichen. Keine pöbelnden Obdachlosen. Und schon gar keine Hundehaufen, um die man in der Großstadt sonst Slalom läuft, als wäre jeden Tag Olympiade. Es ist einfach nur leer und sauber, und mich überfällt ein Glücksrausch. Vom Meer weht eine kühle Brise herüber, und ich hätte jetzt gerne ein Jäckchen. Meinetwegen auch von Jack Wolfskin. Und dann überlege ich mir, was ich morgen unternehmen kann.

„Einfach weitertanzen“ – das Buch

Auszug aus dem Buch: Einfach weitertanzen. Von der Kunst, erwachsen zu werden von Katharina Höftmann. Das E-Book gibt es hier.

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