Unsere Superheldinnen müssen nicht perfekt sein

Als Kind hatte ich keinen Zweifel: Meine Mutter ist eine Superheldin! Das glaube ich auch heute noch – doch meine Vorstellung davon, was eine Superheldin können muss, hat sich verändert.

Mama ist die stärkste

Als Kind dachte ich immer, meine Mutter sei die stärkste Frau der Welt: unfehlbar und heldenhaft – schließlich ließ sie Tränen trocken anstatt selber welche zu vergießen, wusste immer einen Rat und konnte mit einer einzigen Umarmung die Welt wieder wunderbar in Ordnung bringen. Wenn es eine andere Frau gab, die ähnlich stark war, dann nur meine Großmutter. Superheldinnen werden schließlich von Superheldinnen geboren, richtig?

Meine Oma war für mich als Kind meine persönliche Wohlfühl-Insel, und auch für meine Eltern war sie eine wichtige Unterstützung, da sie Nächte- und tagelang auf meinen Bruder und mich aufpasste, wenn meine Eltern arbeiteten oder unterwegs waren. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich den Geruch von frischen Erdbeeren aus dem Garten meiner Großeltern in der Nase (die wir selbst pflücken und dann – nur bei Oma –  mit extra Zucker essen durften) und Bilder von langen Spielnachmittagen mit meinen Eltern am Bach in einem nahe gelegenen Waldstück im Kopf. Ich bin aufgewachsen mit der Gewissheit, dass es da diese Menschen gibt, die Bäume für mich ausreißen, meine Wunden heilen und mich immer wieder auffangen würden – egal ob ich nur vom Klettergerüst oder von einer Lebenskrise in die nächste falle.

Ich weiß, auf meine Mutter ist immer Verlass

Das ist auch heute noch so: Wann immer ich Trost, Ratschläge oder einfach beruhigende Worte brauche, rufe ich meine Mutter an. Es tut gut, ihre Gedanken zu meinen Sorgen und Problemen zu hören und sie nimmt sich immer Zeit für mich, egal zu welcher Tages-und Nachtzeit. Auch meine Großmutter sorgt sich und unterstützt mich, mit ihren Worten, ihrem Zuspruch und umfangreichen Lunchpaketen, damit ich „auch ja nicht vom Stuhl falle.“ Eines habe ich jedoch gelernt: Ich weiß, dass sich die Welt meiner Mutter und auch die meiner Großmutter – obwohl man das als Kind nur allzu gerne glaubt – nicht allein um mich oder meinen Bruder dreht. Ich weiß, dass beide eigene Sorgen und Probleme haben und selbst oft genug jemanden bräuchten, der sie auffängt. Ich weiß, dass auch Superheldinnen nicht immer unfehlbar und stark sein können.

Wenn Oma plötzlich alt wird 

Als mein Opa demenzkrank wurde und schließlich verstarb, veränderte sich die Beziehung zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter. Was es bedeutet, nach 65 Jahren Ehe plötzlich ohne seinen Ehemann dazustehen, mag sich niemand in meiner Familie vorstellen (allein die Tatsache, was es bedeutet 65 Jahre lang zu leben, geschweige denn mit ein und demselben Menschen zu verbringen, ist für mich fast unvorstellbar). Meine Oma wurde depressiv und zahlreiche körperliche Einschränkungen, ein Krankenhaus- sowie ein Reha-Aufenthalt trugen nicht gerade dazu bei, dass sie eine positive Sicht auf das Leben zurückgewann. Sie jammerte viel und vermittelte vor allem meiner Mutter, die ihr Möglichstes tat um sie zu unterstützen, das Gefühl, sie würde sich nicht ausreichend um sie kümmern. 

Wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich meine Großmutter – ganz bewusst und ohne den kindlich-naiven Glauben sie sei unfehlbar – als eine Frau mit Schwächen. Am Anfang fiel es mir sehr schwer, das zu akzeptieren. Jedes Mal, wenn ein Familienmitglied sich über sie ärgerte oder ihr Verhalten kritisierte, legte ich gleich Widerspruch ein. „Sie ist ja auch schon über 80“, „Sie hat aber doch gerade erst ihren Mann verloren“, „Wie kannst du das sagen, sie ist doch meine Oma“ … Auf einmal wankte das Superheldinnen-Image, das ich als Kind immer von ihr hatte.

Die Rollen ändern sich

Da ich nicht mehr in meiner Heimatstadt wohne, kann ich all diese Entwicklungen mit etwas Abstand betrachten. Meine Mutter allerdings ist mittendrin. Mein Bruder und ich stehen mittlerweile halbwegs auf eigenen Beinen, aber plötzlich ist da ein neues „Kind“, das Hilfe braucht, Sorgen hat und krank wird. Arztbesuche, Besorgungen, Kontakt mit dem Pflegeamt und anderen Behörden stehen auf der Tagesordnung – und anders als Kleinkinder, ist meine Großmutter natürlich selbstbestimmt, will Entscheidungen allein treffen. Sie merkt jedoch oft, dass sie dies nicht mehr kann, sucht dann Rat und Antwort bei meiner Mutter und ärgert sich, wenn deren Vorschläge nicht mit dem übereinstimmen, wie sie es gerne hätte. 

Als Kind habe ich nie darüber nachgedacht, dass meine Mutter Probleme und Sorgen haben könnte. Sie schien jede Lebenslage souverän zu meistern und war für meinen Bruder und mich eine unheimlich starke Stütze. Jetzt merke ich, dass auch sie ins Straucheln gerät, Schwäche zeigt und Luft zum Atmen braucht – zwischen dem für sie selbstverständlichen Sorgen für ihre Mutter und dem Wunsch, nicht in die Negativ-Denk-Spirale hineingezogen zu werden und neben Job und Pflege noch Zeit und Energie für sich selbst zu haben.  

Schwäche zeigen macht stark

Meine Superheldinnen sind nicht perfekt oder unfehlbar. Sie sind auch nicht immer stark – sie zeigen Schwäche, weinen, haben Ängste und Sorgen. Doch genau das ist es, was sie heute noch heldenhafter für mich macht als damals als Kind. Meine Mutter meistert diese für sie neue Situation mit unheimlich viel Kraft, gibt selbstlos – wie damals bei der Kindererziehung – ein Stück von sich selbst an die Menschen, die sie liebt, und hat erkannt, dass es in Ordnung und wichtig ist, auch Zeit für sich selbst einzufordern, um sich nicht zu verlieren. Für mich ist es ein Zeichen von Stärke, dass sie sich eingesteht, Fehler machen zu dürfen und sich erlaubt, auch mal Schwäche zu zeigen. Meine Mutter sagt mir häufig, dass sie sich wünscht, dass ich mein Leben für mich lebe, es nach meinen Vorstellungen gestalte und mich nicht immer den Erwartungen anderer füge. 

Ich hoffe, dass ich recht behalte und dass Superheldinnen von Superheldinnen geboren werden und ich eines Tages genauso stark bin wie sie und aufhöre zu glauben, ich dürfe niemals Fehler machen oder Schwäche zeigen.

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