Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden nicht nur unter ihren Symptomen, sondern auch unter Vorurteilen. Dabei geht uns das Thema alle etwas an. Wieso wir mehr Aufklärung und Empathie brauchen.
Wir müssen über psychische Krankheiten sprechen
Der Weltgesundheitstag am 07. April beschäftigt sich jedes Jahr mit einem Gesundheitsthema von globaler Relevanz. 2017 lautete das Motto: „Depression – Let’s Talk.” Denn depressive Störungen sind Volkskrankheit Nummer eins, und das nicht nur in Deutschland. Weltweit leiden circa 300 Millionen Menschen darunter, Tendenz steigend.
Depressionen werden mittlerweile breit diskutiert, oft in Zusammenhang mit dem „Burnout-Syndrom”. Andere psychische Erkrankungen hingegen sind in der öffentlichen Debatte unterrepräsentiert. Und in der Folge noch stärker mit Vorurteilen belastet. Panikattacken, Zwangsgedanken, Suchtverhalten – Angehörige und Freunde von Betroffenen wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie Anzeichen für eine seelische Belastung bemerken. Denn diese Themen sind mit starken gesellschaftliche Stigmata belastet. Das erschwert nicht nur die Kommunikation, sondern führt bei den Betroffenen auch dazu, dass sie professionelle Hilfe erst sehr viel später in Anspruch nehmen. Am Beispiel Burnout wird deutlich, wie schwierig es ist, mit den Symptomen einer psychischen Erkrankung zu leben. Schließlich ist der Mensch kein Smartphone, das seinen Akku über Nacht zu 100 Prozent aufladen kann. Außerdem haben wir kein zersprungenes Display, an dem jeder sofort ablesen kann, dass etwas nicht stimmt. Stattdessen wird einfach davon ausgegangen, dass man funktioniert.
Umso wichtiger ist es, psychische Erkrankungen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und vor allem darüber zu sprechen, wie Betroffenen am besten geholfen werden kann. Dazu gehören neben professioneller Unterstützung auch Offenheit und Toleranz im Umfeld und der Gesellschaft als
ganzer, um Ausgrenzung und Stigmatisierung zu verhindern. Dieser Artikel soll
einen Beitrag zur Aufklärung leisten und das Verständnis für psychische
Krankheiten erhöhen.
Wieso Stigmata so schädlich sind
Die Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zwischen 2001 und 2011 zeigen
deutlich, dass psychiatrischen Diagnosen negative Stereotype anhaften. Menschen mit psychischer Diagnose werden oft anders wahrgenommen und mit unerwünschten Eigenschaften in Zusammenhang gebracht. Ein Label wie „psychisch krank” führt dazu, dass individuelle Personen plötzlich zu einer einzigen, irgendwie fremden Gruppe zusammengefasst werden. Was viele nicht bedenken: Wenn betroffene Menschen aufgrund ihrer Erkrankung diskriminiert werden, verdoppelt sich ihr Leid. Denn von da an kämpfen sie nicht nur mit ihren Symptomen, sondern auch mit der Ausgrenzung. Aus Angst vor dieser Ausgrenzung verdrängen viele ihre Symptome, trauen sich nicht, Hilfe zu suchen, oder isolieren sich.
Ein Forscherteam der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK)
konnte belegen, dass die Bevölkerung psychisch Kranke für gefährlicher hält als
sie tatsächlich sind. Besonders Alkoholabhängige haben der Studie zufolge unter
starken Vorurteilen zu leiden. So wird Alkoholkranken eine besonders hohe
Gewaltbereitschaft unterstellt, obwohl Verhaltensstudien das nicht bestätigen
können. Menschen, die unter Schizophrenie leiden, haben mit ähnlichen Stigmata zu kämpfen. Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit fand heraus, dass sie von der Gesellschaft häufig als völlig unberechenbar eingestuft werden. Als die Mutter der Fotografin Kirsten Becken an Schizophrenie erkrankte, kam ihr die ernüchternde Erkenntnis:
“In Deutschland findet sich mehr Unterstützung für Katzenbabys und Fußball.”
Viele kennen den Satz „Das ist ja schizophren” oder haben ihn umgangssprachlich schon benutzt. Ohne zu bedenken, wie verletzend Halbwissen und Vorurteile sein können. Es besteht also Handlungsbedarf, damit Betroffene sich nicht ausgegrenzt und alleingelassen fühlen. Sensibilität und Aufklärung sind gefragt.
Sind wir nicht alle ein bisschen ausgebrannt?
Ein Krankheitsbild, das in der öffentliche Debatte weitaus mehr Gehör findet, ist das Burnout-Syndrom. Dem Burnout liegt eine Erschöpfung zugrunde, mit der sich viele leichter identifizieren können, als beispielsweise mit dem Gefühl, schizophren zu sein. Doch gerade deshalb fehlt der Debatte zuweilen die nötige Ernsthaftigkeit. Stress und Erfolg gehören für viele Menschen zusammen. Die Huffington Post nennt in einem Artikel Überlastung das „ultimative Statussymbol unserer Zeit”. Angetrieben durch die zunehmende Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft, machen schon Schüler während ihrer Ferien Praktika und Studenten statt eines langen Urlaubs doch lieber ein Auslandssemester. In der Folge sind manche Berufseinsteiger schon so erschöpft, wie einst der 45-Jährige Arbeitnehmer mit eigener Familie.
Stress ist ein Massenphänomen, Burnout hingegen mehr als ein voller Terminplaner oder das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen. Erschöpfung, Gefühle von Distanziertheit und Wirkungslosigkeit sowie Probleme im privaten Bereich können Anzeichen für eine Burnout-Erkrankung sein. Betroffene fühlen sich nicht nur überfordert, sondern auch ihrer Vitalität und Lebensqualität beraubt. Wenn dieser Prozess mit Leistungseinbrüchen im Berufsleben einhergeht, wird die seelische Belastung zusätzlich erhöht. Ein Burnout sollte unbedingt ernst genommen und therapeutisch behandelt werden. Auch um abzuklären, ob dem nicht eine Depression zugrunde liegt.
Die Entscheidung, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, ist ein sehr mutiger Schritt, der noch zu selten als solcher anerkannt wird. Laut der Autorin und Medienwirtschafterin Mirijam Franke, haben viele Angst, dass ihre Erkrankung Jobchancen im Wege steht. In ihrem Text Psychotherapie – Ein Stigma, das Karrieren ruiniert setzt sie sich kritisch mit dem Thema auseinander. Der Weg zum Therapeuten bleibt oft ein privates Geheimnis. Da sich mittlerweile immer mehr junge Menschen in Behandlung geben, wird es höchste Zeit, Therapie nicht mehr als Tabuthema zu behandeln. Aber was kann man tun, wenn man merkt, dass jemand aus dem näheren Umfeld Hilfe benötigt? Wie kann man seine eigenen Vorurteile überwinden und so auch etwas für sich selbst tun? Die Antwort lautet: Empathie.
Empathie: Erste Hilfe gegen Vorurteile
Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, kann man erlernen. In Kontakt zu treten, auch wenn es einem zunächst fremd erscheint, ist ein wichtiger erster Schritt, um Raum für neue Erfahrungen zu schaffen. Forscher der Universität Zürich konnten zeigen, dass überraschend positive Erlebnisse mit Fremden einen Lerneffekt im Gehirn auslösen, der dazu führt, dass sich unsere Empathie insgesamt erhöht.
Studien zum Thema Achtsamkeit konnten außerdem belegen, dass sich Meditation besonders gut dafür eignet, die eigene Empathie zu stärken und mehr Mitgefühl zu entwickeln. So kann man psychischer Andersartigkeit offener begegnen und Menschen vielleicht sogar dazu ermutigen, sich zu öffnen. Halt, Zuwendung und Empathie sind Grundvoraussetzungen, damit sich Menschen mit psychischen Erkrankungen öffnen können. Vermutet man, dass jemand im nahen Umfeld – etwa unter Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen – betroffen ist, sollte man auf jeden Fall behutsam darauf reagieren. Das bedeutet auch, dieser Person nicht gleich das Bierglas aus der Hand zu reißen, wenn man eine Alkoholsucht vermutet. Vielmehr geht es darum, ein Problembewusstsein zu schaffen und vorsichtige „Ich-Botschaften” zu senden.
„Ich habe das Gefühl, dass…”, „Ich mache mir Sorgen, weil…” sind nur zwei
Beispiele. Sätze wie „Das wird schon wieder” oder „Lach doch mal” sind leider
selten hilfreich. Besser du informierst dich erst einmal zu verschiedenen
Krankheitsbildern, zum Beispiel hier.
Beim kritischen Blick auf die Frage, wie psychische Erkrankungen in der Gesellschaft wahrgenommen werden, wird deutlich, wie viel Aufklärungsarbeit noch geleistet werden muss. Auch wenn die Offenheit gegenüber diesen Themen steigt, verschwinden existierende Vorurteile nur langsam. Doch mit mehr Achtsamkeit für sich selbst und andere, für Barrieren und Bedürfnisse,
kann jeder von uns dazu beitragen, Stigmata abzubauen und Betroffenen zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Denn jeder von uns kann einmal in eine Situation kommen, in der Hilfe gefragt ist – ob persönlich oder im nächsten Umfeld.
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