Béa Beste duzt gern ihre Mitmenschen – gleich von Anfang an. Warum für sie ein konsequentes Duzen die bessere Lösung ist – und eigentlich für uns alle.
Das „Sie“ als Kulturgut?
„Ich kann mich nicht erinnern, dir das Sie angeboten zu haben“ – Dieses tolle Zitat stammt aus einem wunderbaren Buch. „Willkommen im Meer“ heißt es, und es wurde durch einen geniale Netzaktion zum Amazon-Bestseller und gab der Familie eines erkrankten Menschen Zuversicht und einen finanziellen Halt. Darüber könnt ihr hier mehr lesen.
Aber mein Thema ist nicht Kai oder das Buch. Es ist das „Du“. Ich duze gern und werde gern geduzt. Ich weiss, dass andere Leute in vielen Situationen lieber ihre Mitmenschen siezen – und das als Kulturgut erachten, das es mit aller Empörungskraft zu verteidigen gibt. Am besten, in dem man den spontan Duzenden so behandelt, als hätte er die Mona Lisa direkt im Louvre angespuckt. Oder direkt auf dem roten Teppich der Bayreuther Festspiele einen Blasensprung gehabt.
Also: Wir können schon beim „Sie“ bleiben. Ich will niemanden zu etwas zwingen.
Aber mir ist einfach das „Du“ so viel sympathischer – und ich habe sechs gute Gründe, die stark dafür sprechen:
1. Es macht uns alle zu „nur Menschen“
Siezen betont Distanz und Hierarchie. Brauchen wir das? Können wir nicht einfach gleichwertig sein, egal, ob reicher, erfahrener, schöner, besser, leistungsfähiger oder einfach nur älter? Ist einen sichtbar auserwählten Kreis von Vertrauten um sich zu ziehen
und den Rest außen vor zu halten, nicht bei manchen gar eine Ausgrenzung Fremder,
die unter Umständen den Geist von Fremdenfeindlichkeit nährt? Immer wenn die
Botschaft bedeutet: „Sie gehören nicht dazu“?
Warum eigentlich nicht eine einzige Anrede für alle? Weil das zu unserer Kultur gehört? Moment mal:
2. Alte
Sitten sind nicht immer wertvoll
Kultur entwickelt sich, Kultur geht mit der Zeit. Es gibt Erhaltenswertes und weniger Erhaltenswertes. Wir haben uns von Feudalwesen, Prügelstrafe und Frauenunterdrückung weiterentwickelt. Wir reden mit Kindern über Sexualität, langsam rafft auch wenigstens eine Minderheit der CDU, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften zeitgemäß sind. So lässt sich noch jedes Kulturgutdetail überdenken. Wenigstens sollte alles periodisch zur Diskussion stehen. Auch das Siezen.
3. Es ist internationaler
Sagen wir: Das ist so ein Gefühl von mir. Mir ist schon klar, dass es in dieser weiten Welt Kulturen gibt, die noch ganz feinere und differenziertere Abstufungen in der Sprache haben, wie z.B. Japan, die mit „san“, „sama“, „chen”“und all die anderen Anredeformen noch viel mehr Komplexität schafft als unsere zwei Du- und Sie-Stufen. Doch Japanisch als Kommunikationsweg ist nicht die Lingua Franca – sondern weltweit setzt die internationale Verständigung auf den gemeinsamen Nenner Englisch. Da gibt es nur eine Anreden (wenn man sich erstmal auf Vornamen geeinigt hat, was relativ flott geht) – und das macht die Welt einfacher, vor allem für die Non-Natives. Und die Sprache: Man kommt damit schneller ins Verständigen. Und darum geht es.
4. Es ist unkomplizierter und entspannter
Wäre unsere Welt nicht einfacher, umproblematischer, menschlicher, weil wir mit kindlicher Verspieltheit an unsere zwischenmenschlichen Beziehungen herangehen würden? Ich habe in der ersten Phorms-Schule, die ich aufgebaut habe, in einer der Klassen folgenden Dialog erlebt unter Erstklässlern beim Ausmalen:
Kind 1 (europäische Herkunft): „Gib mal die Hautfarbe.“
Kind 2 (afroamerikanische Herkunft): „Meine oder deine?“
Mit dieser Unbeschwertheit könnten wir doch auch an andere Menschen herangehen. Warum da so viel unterscheiden?
5. Es eliminiert Taktieren und politisches Verhalten
Gerade in Organisationen und komplexeren sozialen Systemen führen unterschiedliche Anreden zu einer Verschwendung von Ressourcen: Ist es nicht besser sich auf die Arbeit zu fokussieren anstatt stets sich zu fragen: „Mag der mich nicht?“, „Will der was von mir?“ und „Wenn ich den im Meeting auf Englisch mit Vornamen angeredet habe, soll ich ihn jetzt auf Deutsch immer noch Siezen?“ All diese Überlegungen könnte man sich wie im
Englischen beim Duzen weitestgehend sparen. Ich habe Organisationen erlebt, zum Beispiel viele Top-Manangement-Beratungen und fast alle Startups, in denen das
grundsätzliche interne Duzen wunderbar funktioniert.
6. Es passt zu unserem Medienverhalten
Social Media macht uns schneller, demokratischer, unkomplizierter und gleichberechtigter. Da passt einfach nur eine Anredeform für alle. Siehe Punkt 5.
Bevor jemand die
Respekt-Keule herausholt, sei hier angemerkt, dass Respekt nicht von einer Anrede kommt. Sondern durch echtes Wertschätzen, Empathie, Zuhören und Verstehen. Selbst
in Japan ist echte Höflichkeit nicht das Beherrschen der Anrede-Feinheiten – sondern: ruhig bleiben, nicht drängeln, immer schön in der Schlange stehen,
kein Trinkgeld geben und nicht laut herumbrüllen.
Insofern verhalte ich
mich auch empathisch, auch wenn ich Duzen für mich besser finde. Wenn ich merke, dass
jemand das als unangenehm empfindet oder sich von oben herab behandelt fühlen
könnte (z.B. der Kellner im Speisewagon), kann ich auch Siezen. Ganz
unproblematisch nett.
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