Die Sprachwissenschaftlerin Konstanze Marx ist eine unserer „25 Frauen, deren Erfindungen unser Leben verändern”. Ein Interview über Cybermobbing und Möglichkeiten es zu verhindern.
„Sprache ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel”
Unser Leben findet mehr und mehr im Internet statt. Dadurch werden aber nicht nur die positiven Aspekte des Lebens dorthin verlagert, sondern auch die Probleme. Eines davon ist Mobbing, das zum Cybermobbing wird und unter dem auch schon Kinder im Grundschulalter leiden können. Cybermobbing verfolgt die Betroffenen überall hin, da das Internet nicht nur für die Schule, sondern auch zu Hause genutzt wird. Die Professorin Dr. Konstanze Marx forscht zu dem Thema und entwickelt Präventions- und Hilfsmaßnahmen. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, was Cybermobbing genau bedeutet, wie man Kinder und Jugendliche dafür sensibilisieren kann und ob wir so etwas wie eine „Digitale Ethik” brauchen.
Sie forschen seit geraumer Zeit zum Thema Cybermobbing. Was genau versteht man unter diesem Begriff?
„Beim Cybermobbing handelt es sich um eine Form psychischer Gewalt, die vornehmlich aber nicht ausschließlich verbal realisiert und über das Internet, also zum Beispiel Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram, aber auch in Foren oder Whatsapp-Gruppen, einem in der Größe und Zusammensetzung variablen Kreis von Leuten zugänglich gemacht wird.”
Was hat die Digitalisierung aus sprachwissenschaftlicher Perspektive im Bezug auf verbale Gewalt verändert?
„Es ist nun so, dass verbale Gewalt deutlich sichtbarer und damit besser untersuchbar geworden ist. Sprachwissenschaftler*innen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, haben jetzt einen direkten Zugang und können durch die Dokumentationen auch Interaktionssituationen rekonstruieren, in denen es zu verbaler Gewalt kommt. Das heißt, verbale Gewalt kann im Nachhinein nachvollzogen werden. Wobei die Kommunikationssituation im Netz natürlich berücksichtigt werden muss. Aus methodischer Sicht ergeben sich dennoch neue Möglichkeiten, die Ursachen von Gewalt und verbaler Gewalt zu untersuchen, um – das ist ja das übergeordnete Ziel – präventive Maßnahmen entwickeln zu können.”
Wie prägt dieses Phänomen mittlerweile unseren Alltag? Merken wir vielleicht manchmal gar nicht, dass wir gerade Zeugen oder sogar ein Teil von einem Cybermobbing-Akt sind?
„Dass man nicht merkt, dass man Zeug*in ist, halte ich für unwahrscheinlich. Wenn jemand online beschimpft wird, dann ist das doch im Normalfall recht eindeutig, insbesondere dann, wenn sich diese Person dagegen wehrt. Cybermobbing findet aber auch in Gruppen, zum Beispiel über WhatsApp-Chats, die zusätzlich zum Klassen-Chat aus kleineren Gruppen bestehen, statt, zu denen man gar keinen Zugang hat, dann kann es sein, dass man als Teil dieser sozialen Gruppe (z.B. als Teil der Klasse) zwar merkt, dass etwas anders ist, es aber nicht verorten kann. Umso schmerzvoller ist es, wenn die über Wochen oder gar Monate ausgetauschten Nachrichten dann doch eingesehen werden können, etwa, weil jemand nicht mehr mitmacht oder die betroffene Person anders in Kenntnis gesetzt wird. Auch für das Umfeld der Betroffenen ist eine solche Situation schwer.”
Was sind die Folgen von Cybermobbing?
„Das hängt von vielen Faktoren ab, von der Schwere der Tat, von der Verquickung mit traditionellem Mobbing, von der Dauer der Belastung, von individuellen Erlebnissen, von der Persönlichkeit und so weiter. Wahrscheinliche und beobachtete Folgen sind Schulunlust, Leistungsabfall, Depressionen, Angst, emotionaler Stress und – das wissen wir von den tragischen Fällen, über die in der Presse berichtet worden ist – Suizidgedanken und Suizid.”
Einer ihrer Schwerpunkte liegt auf der Erforschung, wie Kindern und Jugendlichen digitale Gewalt begegnet. Was ist das besondere bei ihnen?
„Es ist so, dass mir nicht genügend Cybermobbing-Daten von Erwachsenen vorliegen, um hier eine eindeutige Antwort zu geben. Vergleicht man die sprachlichen Dimensionen aber einmal mit einem verwandten Phänomen, wie Hate Speech, lassen sich kaum Unterschiede auf der Ausdrucksebene feststellen. Es gibt aber auch Cybermobbing und Hate Speech, das gerade keine vulgäre Ausdrucksweise beinhaltet. Die verbale Gewalt kann dann nur über Schlussfolgerungen ,enttarnt‘ werden, manchmal braucht man detailliertes Kontextwissen.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch vulgäre Sprache unter Freund*innen, das markiert soziale Nähe und hat mit Mobbing nichts zu tun. Man findet das übrigens auch bei Erwachsenen, in einigen Berufsgruppen mehr, in anderen weniger. Ein wichtiger Punkt ist aber, dass Kinder ja gerade ihre ersten Erfahrungen mit digitaler Gewalt machen. Hier frühzeitig einzuhaken, Hilfe und Aufklärung zu leisten, ist daher meines Erachtens ein wichtiger und richtiger Schritt.”
„Viele Phänomene, die über technische Medien kommuniziert werden, spielen im Schulalltag eine Rolle und umgekehrt. Hier braucht es Ansprechpartner*innen für die Schüler*innen.”
Wie kann man Kinder und Jugendliche für das Phänomen sensibilisieren und sie davor schützen?
„Das kann auf mehreren Ebenen geschehen und diese Ebenen sollten auch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden: in der Familie, im Freund*innenkreis, in den Schulen. Sensibilisierungsangebote integrieren sowohl den digitalen Raum als auch den nicht-digitalen Raum. Viele Phänomene, die über technische Medien kommuniziert werden, spielen im Schulalltag eine Rolle und umgekehrt. Hier braucht es Ansprechpartner*innen für die Schüler*innen.
Es ist zudem wichtig, Kinder auf den Umgang mit sozialen Medien gut vorzubereiten und hier sind in erste Linie die Eltern gefragt, die das Kind im Normalfall mit einem Gerät ausstatten.”
Was genau müssen Eltern dann tun?
„Es muss bedacht werden, dass Kinder im Wesentlichen zwei Zugangsmöglichkeiten zur Online-Interaktion nutzen: einmal die Chatfunktion in Spielen und zum anderen die Whatsapp-Gruppe mit den Mitschüler*innen oder Vereinsmitgliedern. Das macht es doch eigentlich recht übersichtlich, zumal die meisten Eltern selbst whatsappen und wissen, wie schnell harmlose Chats eskalieren können. Es geht also darum, den Chat ebenfalls als Geltungsbereich für Höflichkeitsregeln zu erklären, die man Kindern ohnehin mit auf den Weg geben möchte. Bei Spielen reicht es nicht, die Kinder vor den Risiken zu warnen. Es ist besser, konkret am Spiel aufzuzeigen, dass diese oder jene Spielfigur von einer echten Person gesteuert wird: Was sie sagt, wird also von einer Person eingetippt, über die die Kinder nichts wissen und die über sich selbst leicht lügen kann.”
Gibt es weitere Präventions- und Interventionsmaßnahmen?
„Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten. Ich selbst arbeite mit Kindern an konkretem sprachlichen Material, das sie vorher in einer Geschichte zum Thema kennengelernt haben. Wir überlegen dann, wie das eine oder andere Wort wirken kann, wie man seine Äußerungen in spezifischen Situationen anpassen kann oder wie man Gefühle so ausdrückt, dass es andere nicht verletzt.
Es gibt Präventionskonzeptionen, wie zum Beispiel ,Medienhelden’, Apps, wie die von der Schülerin Trisha Prabhu entwickelte ,ReThink’ oder Social-Marketing-Kampagnen, wie ,Safe and Well online’ in Australien. Diese Maßnahmen basieren darauf, dass die emotionale Reaktion des Gegenübers bereits während der Handlungsplanung bedacht wird, vorausgesetzt man verfügt über das notwendige einfühlende Potenzial. Dass sich empathische Fähigkeiten bei regelmäßiger Meditation ausbilden und festigen, ist in einigen amerikanischen Brennpunktschulen festgestellt worden. Auch hier wäre also ein Ansatz für Prävention und Intervention.”
Und welche Aufgabe müssen Schulen hierbei übernehmen?
„Zunächst einmal ist Cybermobbing ein interdisziplinärer Unterrichtsgegenstand, wenn es notwendig ist, lassen sich Komponenten einzelnen Fächern zuordnen: Sprachreflexion dem Fach Deutsch, die Funktionsweise des Social Web dem Informatik-Unterricht, selektive Gruppenbildungsprozesse dem Biologie-Unterricht, kollektive Meinungsbildung dem Fach Politische Weltkunde, Moral dem Ethik- und Religionsunterricht.
Die Schule ist aber auch ein sehr essentieller sozialer Erfahrungsraum für Schüler*innen. Es ist also wichtig, dass hier ein gutes Miteinander besteht, eine offene Gesprächskultur und eine Nulltoleranz gegenüber Gewalt. Dann dürfen Rangeleien auf dem Schulhof eben nicht als ,normal’ abgetan werden, dann sollten Konflikte im Kollegium nicht zu den Kindern vordringen und Lehrer*innen sollten ihre Macht nicht ausspielen, was leider noch viel zu oft berichtet wird. Denken wir etwa an Maßnahmen wie den Schäm-dich-Stuhl, praktiziert in Grundschulen von heute und nicht etwa in grauen Vorzeiten.”
Warum ist es so wichtig, unsere (digitale) Sprache zu hinterfragen?
„Sprache ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel. Sie ist ein Instrument, mit dem wir Informationen austauschen können, aber auch Einstellungen und Gefühle. Über Sprache werden Denkstrukturen offengelegt, gleichzeitig kann mit Sprache aber auch manipuliert werden.”
Sie beschäftigen sich auch mit „Digitaler Ethik”. Was versteht man unter dem Begriff?
„Es handelt sich hier um einen Begriff, der sich derzeit im Diskurs über den Umgang in Sozialen Medien zu etablieren scheint. Ich würde eine ,Ethik des Digitalen’ zwar bevorzugen, unterschreibe aber den Impuls, sich über verantwortungsvolles kommunikatives Handeln im Netz – und darüber hinaus – zu verständigen. Das integriert zum Beispiel einen bewussten Umgang mit der eigenen Privatheit und der Privatheit anderer, höfliche Umgangsformen, ein Bewusstsein für Werte, die nicht durch Likes oder Teilen entstehen, sondern auch außerhalb der digitalen Welt Bestand haben, und eine gesunde Skepsis gegenüber Online-Inhalten. Aber auch für die Wissenschaft ist dieser Begriff höchst relevant. Gerade in meinem Feld arbeitet man ja auf der Grundlage der im Netz veröffentlichten Äußerungen. Daraus ergeben sich eine Reihe Fragen, über die es derzeit auch in der Internetforschung rege Diskussionen gibt.”
Und brauchen wir eine „Digitale Ethik”?
„Ah, Sie lesen meinen Twitter-Account. Kurz und Knapp: Ja.”
„Ein Kind, das Gewalt erfährt, muss sich durchschnittlich an sieben Erwachsene wenden, bevor jemand hilft.”
Wie blicken Sie aus sprachwissenschaftlicher Perspektive in die Zukunft: Wird digitale Gewalt weiter zunehmen oder sehen sie eine positive Entwicklung?
„Es gibt inzwischen einen Diskursraum, in dem Gewalt nicht mehr totgeschwiegen wird. Sei es nun im Hinblick auf Cybermobbing, Machtmissbrauch, körperliche Angriffe gegenüber Kindern oder Erwachsenen. Es gibt Debatten, die unter Hashtags wie #Aufschrei oder #metoo gebündelt geführt werden und die Aufmerksamkeit vieler erreichen. Damit wird auch ein Raum für Betroffene geschaffen, ein Raum, in dem sie sich äußern können, in dem ihre Erfahrungen vielleicht nicht abgetan werden.
Wenn Sie bedenken, dass sich ein Kind, das Gewalt erfährt an durchschnittlich sieben Erwachsene wenden muss, bevor jemand hilft, ist gerade die Sensibilisierung für die Thematik ein äußerst wichtiger Schritt – und diese Sensibilisierung wird durch die sozialen Medien ermöglicht. Soziale Medien bieten nicht nur ein Forum für Hass, sondern auch für Menschlichkeit. Nutzer*innen haben hier die Gelegenheit, sehr offen über Misserfolge, Defizite oder vermeintliche Defizite, Ungerechtigkeiten, Negativ-Erfahrungen zu berichten und können dann Erlebtes durch den Zuspruch oder die Rückmeldungen von anderen neu einordnen.”
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