Unsere Community-Autorin Judith erklärt, warum es an der Zeit ist, Arbeit komplett neu zu denken und „Vereinbarkeit“ und „New Work“ endlich zusammenzubringen – denn Eltern gehören jetzt schon zu den wertvollsten Mitarbeitern, die man sich vorstellen kann.
Wie könnte Vereinbarkeit wirklich aussehen?
Kind oder Karriere, Führung in Teilzeit als No-go, Tandemlösungen als Alternative, „neue Männer“, die sich zur Familie bekennen, Frauenquote…alle Themen haben eins gemeinsam: Sie drehen sich um ein immer noch heiß diskutiertes Thema, die (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Viel Literatur widmet sich der Frage, wie diese Vereinbarkeit aussehen könnte, ob sie überhaupt möglich ist und wie es zu bewerten ist, welche „Wahl“ eine Frau trifft.
Schwierig scheint sie zu sein, diese Vereinbarkeit, bis hin zu unmöglich. Vor allem das Thema Karriere beißt sich in der Unternehmenspraxis immer noch mit dem Thema Kind. Im Jahr 2016. Im Zeitalter von Augmented Reality, Crowdworking, selbstfahrenden Autos & Co. Fast unglaublich. Unternehmen zerbrechen sich die Köpfe darüber, wo in der Welt und wie sie die raren Talente in Zeiten des Fachkräftemangels rekrutieren können, wie sie ihr Unternehmen zukunftssicher digitalisieren und transformieren werden und wie sie mit der sagenumwobenen Generation Y umgehen wollen. Dabei sitzt eine von mehreren verkannten Potenzialgruppen direkt vor ihrer Nase – oder auf dem Spielplatz. Kaum einer macht sich ernsthafte Gedanken darüber, wie wir diese Zeit des Umbruchs nutzen können, um das Thema Vereinbarkeit endlich und ein für alle mal zu klären. Digitale Transformation als Vereinbarkeits-Thema klingt natürlich längst nicht so attraktiv wie Agility-Konzepte und demokratische Führung.
Digitalisierung als Lösung?
Kann die Digitalisierung endlich Vereinbarkeit ermöglichen? Jein. Wenn wir Karriere weiter als das verstehen, was es heute ist und Arbeit weiterhin so definiert wird, wie sie heute größtenteils stattfindet, wird es eine echte, faire Vereinbarkeit von Karriere und Kindern für Frauen und Männer nicht geben. Eine 40-Stunden-Woche (plus Überstunden) vor Ort in einem Büro oder zumindest einem vorgeschriebenen Arbeitsort und ein Team, das eng kontrolliert und geführt werden muss, passen nicht zu einer Lebensphase, die bestimmt ist von maximaler zeitlicher Beanspruchung und Flexibilität. Zu einer Phase, in der ein kleines Lebewesen alles von seinen Eltern fordert und braucht, was es bekommen kann und vor allem eins: Liebe und Geborgenheit. Zu groß scheint immer noch der Widerspruch zwischen dem „anwesend sein“ im einen und im anderen Lebensbereich zu sein.
Wann spielt Vereinbarkeit überhaupt eine Rolle? Ein Leben lang, die ersten drei Jahre sind jedoch richtungsweisend, sowohl für die Entwicklung des Kindes als auch die Karriere der Frau. Oftmals wird nicht bedacht, dass diese Phase endlich ist und im Laufe des Heranwachsens der Kinder wieder andere Arbeitsmodelle möglich wären und sind. In der Realität ist das Aus der Karriere der Frau (oder des Mannes) häufig mit dem Antrag auf Elternzeit länger/gleich ein Jahr besiegelt. Mit der Länge der Elternzeit steigt die Chance auf den verpassten Anschluss. Allenfalls in Teilzeit kehren viele zurück, oder eben in Vollzeit, wenn sie die Kinder in eine komplette Fremdbetreuung geben. Dies würde zunächst voraussetzen, dass man überhaupt einen solchen Betreuungsplatz bekommt. Die Spielgruppen und Mütter-Treffs sind voll von Frauen, die liebend gerne wieder arbeiten würden, jedoch keinen Betreuungsplatz für ihre Kinder bekommen.
Elternzeit = Karriereaus?
Warum ist die Elternzeit oft das Karriereaus? Um Karriere zu machen oder die bisherige Karriere weiter fortzusetzen, wird die bereits angesprochene 40-Stunden-Präsenz vor Ort verlangt. Ein Arbeitsmodell, das in Zeiten der Flexibilisierung, Digitalisierung, und Individualisierung völlig veraltet ist.
In einer Zeit, in der zahlreiche Tätigkeiten gerade im Bereich der Wissensarbeit losgelöst von Zeit und Raum stattfinden könnten und in der Modelle der demokratischen Führung diskutiert werden und selbstbestimmte, eigenständige Teams das Wunschszenario sind, muss das Konstrukt „Arbeit“ grundsätzlich überdacht werden.
Wir müssen alte Glaubenssätze aufbrechen!
Warum muss eine Führungskraft immer „da“ sein? Als ob die eigene Führungskraft Stand heute immer Zeit für ihre Mitarbeiter hätte!
Was sind grundsätzliche Aufgaben und der Sinn von Führungskräften?
Wieso ist die Person die erfolgreichste Führungskraft, die sich 60 Stunden die Woche verausgabt, nie Zeit hat, Präsenz zeigt und dafür die Familie nie sieht? Ist das in einer neuen Arbeitswelt nachahmenswert für die, die nachkommen?
Warum ist nicht die Person eine gute Führungskraft, die vielleicht in Summe weniger Zeit investieren kann, diese dafür aber maximal effizient nutzt und sich auf das Wesentliche (so denn das definiert ist) fokussiert?
Wie kann es sein, dass Menschen dank Digitalisierung ein komplett individualisierbares Online-Leben führen können und Arbeit vielerorts immer noch stattfindet wie vor 50 Jahren?
Wir kaufen online ein: Anziehsachen, Essen, Möbel, einfach alles. Wir gehen zu einem Online-Arzt, bekommen eine individualisierte Kochbox und kommunizieren online über diverse Netzwerke. Wir haben bei fast allem heute eine riesige Auswahl – warum gibt es bei „Karriere“ kaum Wahlmöglichkeiten?
Offensichtliches sichtbar machen – und benennen
Dies soll nicht heißen, dass alle bisherigen Karrieremodelle und Führungsmodelle schlecht sind. Wenn wir diese jedoch weiter als Norm ansehen, werden wir nie mehr Frauen in Führungspersonen bekommen – oder eben kinderlose. Das wäre sehr schade, denn Mütter – und nicht zu vergessen die „neuen“ Väter, die ebenfalls viel Verantwortung im Rahmen der Erziehung übernehmen – erwerben gerade in den ersten drei Lebensjahren der Kinder wertvollste zusätzliche Kompetenzen, die Organisationen nicht missen sollten. Berufstätige Eltern sind die perfekten Projektmanager, sie delegieren,
priorisieren und agieren 24 Stunden am Tag höchst agil. Sie können selbst mit
den geringsten Ressourcen, kaum Schlaf, unregelmäßigem Essen und zahlreichen sonstigen Entbehrungen immer noch zwölf Stunden am Tag lächeln, spielen, tragen, singen. Denn ausruhen oder nichts tun ist keine Option. Durchhaltevermögen ist eine der Eigenschaften, die Eltern unfreiwillig bis zur Maximalgrenze trainieren. Veränderungskompetenz übrigens auch, denn gerade bei „Karriere-Frauen“ ist der Change von Karriere hin zu Windeln, Spucktüchern und Pekip-Kursen immens.
Und – nicht zu vergessen – die Bewusstseinserweiterung: Sie haben es wieder gelernt, wie es sich anfühlt, mit nackten Füßen durch eine nasse Wiese zu laufen, dass Salamibrot in Orangensaft getaucht natürlich essbar ist und wie stark das eigene Verhalten auf ein Kind wirkt. Spätestens wenn das Kind zu sprechen anfängt nämlich bekommt man all das gespiegelt, was man ihm zwei Jahre lang vorgelebt und –gesprochen hat. Teils ein lustiger, teils ein nachdenklich stimmender Spiegel. Nachhaltiges und authentisches Handeln sind demnach keine nice-to-have-Eigenschaften von Müttern und Vätern.
Eltern-Werden als Führungsgkräfte-Training
Das Thema Führung kommt nicht zu kurz in diesen ersten drei prägenden Jahren als Eltern, täglich kommen Fragen und Situationen auf, die Entscheidungen verlangen:
Wie eng soll der Rahmen sein?
Wie schmal ist der Grad zwischen Selbstbestimmung und Tyrannei?
Wie viel Entscheidungsgewalt gibt man einem kleinen Lebewesen und wie viel Vertrauen schenkt man ihm und sich selbst?
Verbot oder Erklärung?
Auf dem Sofa essen oder nicht?
Süßigkeitsbedarf selber decken lassen oder diese gar nicht erst anbieten?
Schreien lassen ja oder nein?
Unfug machen lassen statt jeden Spaß verbieten?
Freund sein wollen oder nicht?
Enge Bindung an die Eltern bedeutet: an diesen klammern oder fröhlich und selbstbewusst von ihnen weggehen?
(Fast) alles Fragen, die jeder erfahrenen Führungskraft bekannt vorkommen sollten. Und dann, zu guter Letzt, am Ende der drei Jahre spätestens, kommt dann noch die Kür: die Warum-Frage erhält Einzug ins Leben! Spätestens dann wird den Eltern wieder bewusst, wie wichtig es ist zu hinterfragen, den Dingen auf den Grund zu gehen und an den Kern zu kommen. Warum ein Clown lustig ist? Ein Kind wird ein „weil er eben lustig ist“ in keinem Fall als ausreichende Erklärung ansehen und ungeduldig weiter bohren, bis die Frage beantwortet ist.
Wenn man all diese Punkte betrachtet, ist es schier unglaublich, ernsthaft zu begründen, warum zum Beispiel Führung in Teilzeit nicht geht und warum es ein „Kind oder Karriere“ sein muss. In der Zeit, in der diese Eltern an ihre persönlichen Grenzen gegangen, die Bedürfnisse anderer über alle eigenen gestellt haben und endlich wieder gelernt haben, dass es völlig ausreichend ist, einen frischen Irgendwas-Fleck galant mit einem Feuchttuch vom frisch gereinigten Anzug zu wischen und trotzdem zu lächeln, sind andere weiter gehetzt von Meeting zu Meeting gehechtet, haben nie Zeit oder den Mut gehabt, „Warum“ zu fragen und sind nicht in den Genuss gekommen, so gnadenloses Feedback zu bekommen wie das eines Kindes. Und nur, weil uns diese Eltern für einen gewissen Zeitraum nicht voll und ganz (im klassischen Verständnis) zur Verfügung stehen, schreiben wir sie ab, schnappt die Teilzeitfalle zu, verlieren Unternehmen wertvollste Talente und Kompetenzen?
Vereinbarkeit – ein Aufruf
Ist es nicht an der Zeit, zu überlegen, wie Eltern eine wirklich faire Wahl bekommen und Unternehmen dieses Potenzial nicht verschenken? Vergessen
wir hierbei auch nicht die stetig steigenden Zahlen der Männer, die in Elternzeit gehen. Ist es nicht an der Zeit, als Gesellschaft zu überlegen, wie wir eine echte Vereinbarkeit zwischen „Karriere“ und Kindern ermöglichen können? In Zeiten des Fachkräftemangels können es sich Unternehmen in Zukunft schlicht nicht mehr leisten, auf die wertvolle Ressource „Mutter“ beziehungsweise „Vater“ zu verzichten, und im Gegenzug als Land auf Kinder zu verzichten wäre wohl auch keine gute Idee.
Die Zeit ist reif, denn dank der Digitalisierung ist die Flexibilisierung von Arbeit einfacher denn je möglich. Wir brauchen kein Schwarz-Weiß-Denken mehr, wir brauchen Grautöne und vor allem ganzheitliche und mutige Ansätze. Mit einer Homeoffice-Lösung allein ist es keinesfalls getan, im Gegenteil, in dieser Lebensphase wird das häufig nicht zielführend sein. Auch die Betriebskita ist gut, reicht aber nicht aus:
Wir müssen Aufgaben neu und umdenken, anders verteilen, projekthaftes Arbeiten ermöglichen und denken: Wie ginge diese Tätigkeit und Aufgabe anders?
Wir benötigen Arbeits(zeit)modelle, die es Eltern in den verschiedenen Phasen der Entwicklung der Kinder ermöglichen, weiter am Erwerbsleben teilzunehmen und eben nicht mit der Pistole auf der Brust eine Entscheidung zu treffen, die ihr komplettes weiteres Erwerbsleben dominieren wird.
Wir brauchen digitale Tools, Strukturen und Arbeitsmitteln, die diese Modelle unterstützen. Vor allem brauchen wir eine neue Kultur, ein Umdenken, Bereitschaft zur echten Veränderung, Vorreiter.
Echte Vereinbarkeit beginnt in den Köpfen der Menschen, sie wird entschieden durch ein „Wollen“, dann das „Können“. Die technischen Voraussetzungen bestehen längst, sie warten auf die richtigen Anwender(innen).
Mehr EDITION F
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