Hinter Männern wie dem Ex-„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt, die ihre Macht missbrauchen, steht ein System, das diese Typen hervorbringt, stützt und deckt. Ein Kommentar.
Julian Reichelt ist nicht mehr Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Nach neuen Erkenntnissen darüber, wie Reichelt seine Macht gegenüber Mitarbeiterinnen missbraucht haben soll, war er selbst für den Springer-Konzern nicht länger tragbar. Bei „Bild-TV“ schluckte Reichelts enger Buddy Paul Ronzheimer „an einem besonderen und schweren Abend“ die Tränen runter und sprach von einem „Mann, der durch seine journalistischen Glanzleistungen und absolute Power so viele Menschen hier geprägt hat“. Die Moderationskollegin wechselte gar ins Präsens: „Vielen herzlichen Dank! Es ist toll, für einen Mann zu arbeiten, der einem das Gefühl gibt: ,The sky is the limit‘ (…) Es ist großartig, für Julian als Chefredakteur zu arbeiten.“ Und dann wurde noch dankbar erwähnt, dass Reichelt bereit gewesen sei, als Berichterstatter in Syrien sein Leben für „Bild“ zu opfern.
Ein Bilderbuchbeispiel dafür, wie Machtmissbrauch vor den Augen aller stattfinden kann – und niemand schreitet ein. Vor knapp einem Jahr habe ich mit der Publizistin Sara Hassan ein Interview geführt, sie hatte ein Buch mit dem Titel „Grauzonen gibt es nicht“ veröffentlicht. Hassan sagte damals: „Die Frage, wer Täter wird und wer nicht, ist müßig, die Frage muss lauten: Unter welchen Bedingungen kann jede Person ganz leicht zum*r Täter*in werden? Auch die Person, über deren Witze alle lachen, kann ein Täter sein.“ Auch die Person, die ihr Leben in Syrien riskiert, kann ein Täter*in sein; die Person, die es schafft, das gesamte Team zu beflügeln.
Wer Macht hat, kann sie missbrauchen
Jede Person kann Täter*in sein. Wir Journalist*innen und alle, deren Worte in der Öffentlichkeit gehört und gelesen werden, müssen dazu beitragen, dass diese Erkenntnis in jede Abteilung, in jedes Team, in jede Büroetage vordringt. Denn es sind nicht einzelne Typen, egal ob sie Luke Mockridge heißen oder Harvey Weinstein oder Bill Cosby oder Julian Reichelt und berühmt sind; oder ob sie ein kleines Team, ein größeres Unternehmen, eine mittelgroße Abteilung leiten: Wer unkontrolliert über Macht verfügt, der*die kann sie missbrauchen. Und das passiert vor allem dann, wenn Menschen nicht sehen wollen, wenn Menschen andere decken, wenn Menschen denken: „Mich geht das nichts an“, wenn Menschen Angst vor Konsequenzen haben, sollten sie Partei ergreifen, sollten sie problematisches oder gewalttätiges Verhalten ansprechen oder melden.
„Wer unkontrolliert über Macht verfügt, kann sie missbrauchen. Und das passiert vor allem dann, wenn Menschen nicht sehen wollen, wenn Menschen andere decken, wenn Menschen denken: ,Mich geht das nichts an‘.“
Aber Betroffene brauchen Verbündete, sie brauen Allyship, sie brauchen Menschen, die dafür sorgen, dass sie nicht allein für sich einstehen müssen. Nur wenn Menschen, die Machtmissbrauch, zum Beispiel in Form von sexualisierter Belästigung oder Nötigung, erkennen und sich einschalten, Hilfe anbieten, nicht für sich behalten, was sie beobachten, kann das System durchbrochen werden: ein System, das immer noch viel zu viele Täter*innen in Sicherheit wiegt; ein System, das es den Betroffenen, in den allermeisten Fällen Frauen, überlässt, das Schweigen zu brechen. Diese Frauen nehmen dabei in Kauf, beschimpft, gejagt, bedroht und als Lügnerinnen verleumdet zu werden.
Die Unschuldsvermutung gilt auch für die Opfer!
Jede*r muss zu einer*m Ally werden. Denn nur dann wird die Verantwortung endlich von Betroffenen genommen, für die es in der Regel heute so aussieht: Entweder sie brechen ihr Schweigen – oder es passiert nichts. Gerade in den vergangenen Wochen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass für öffentlich beschuldigte Personen wie etwa Luke Mockridge, zu dem zwei „Spiegel“-Autor*innen eine große Geschichte veröffentlicht haben, die Unschuldsvermutung gelten müsse. Ja, das muss sie natürlich. Aber diese Unschuldsvermutung muss genauso für die Frauen gelten, die sich getraut haben, ihre Geschichten anonym oder nicht anonym zu erzählen.
Egal ob in der Comedy-Szene, im Deutschrap oder irgendwo sonst: Wo sind die männlichen Kollegen, die sich trauen, sich zu positionieren, Solidarität zu zeigen, auszusprechen, was sie im Alltagsgeschäft erleben und beobachten? Der Mann von Hazel Brugger, Thomas Spitzer, ist da bisher eine Ausnahme. Machtmissbrauch, etwa in Form von sexualisierter Belästigung, passiert in der Regel nicht im Verborgenen. Wir alle tragen als Beobachter*innen Verantwortung – besonders auch dafür, jene zu schützen und zu stützen, die sich nicht allein „wehren“ können.
Gefährliche Verdrehung der Tatsachen
Mehr Verantwortung von Frauen zu fordern, ist eine gefährliche Verdrehung der Tatsachen. Die Autorin Svenja Flaßpöhler etwa forderte in der #metoo-Debatte mehr Selbstverantwortung der Frauen, im aktuellen „Spiegel“ zitiert mit: „Ich kann es ablehnen, ein Bewerbungsgespräch im Hotelzimmer zu führen.“ Ja, manche können das. Manche trauen sich das. Und manche können das nicht. Manche trauen sich nicht. Das Grundübel ist aber nicht eine Frau, die sich nicht traut, ein Bewerbungsgespräch im Hotelzimmer abzulehnen, um das Risiko zu minimieren, von einem Mann im Bademantel empfangen zu werden, der gleich darauf seinen Schwanz auspackt; das Grundübel sind und bleiben Männer, die Bewerbungsgespräche in Hotelzimmern anberaumen. Und Menschen, die davon etwas mitbekommen – und schweigen.
Foto: BrauerPhotos / M.Nass fuer Hubert Burda Media | Flickr |CC BY-SA 2.0 | Änderungen vorgenommen (Bild zugeschnitten und Personen im Hintergrund verpixelt)