Foto: Veronika Eschbacher

Schlag auf Schlag – das Leben afghanischer Taekwondo-Kämpferinnen

Shopirey Othmankheil und Sohaila Hamidi sind international erfolgreiche Taekwondo-Profis. Der Kampf in ihrer konservativen Gesellschaft sei aber, erzählen sie, viel schwieriger als der auf der Matte. So sehr, dass sie ihn vorerst eingestellt zu haben scheinen.

Schlagen und kämpfen im Frauengarten

Shopirey Othmankheil erinnert sich noch lebhaft an ihr erstes Taekwondo-Training. In einem kleinen, überaus bescheidenen Sportklub im sogenannten „Frauengarten“ in Kabul versuchte sie mit ihren schmalen Fäusten in die Luft zu schlagen und mit ihren dünnen Beinchen die Schlagkissen der Trainerin zu treffen. Doch es waren an diesem Tag nicht so sehr die Übungen, die die damals zierliche 13-Jährige aus dem Konzept brachten, sondern vielmehr, dass sie als Einzige in ihrer Schuluniform auf der Matte stand. „Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen, es war peinlich und ich war total unruhig“, erinnert sich Shopirey. Vor allem war sie aber fasziniert von dem, was sich in dem kleinen Keller tat: von der durchsetzungsstarken Trainerin und den auf ihr Kommando im Gleichklang agierenden Schüler, von der Kraft und Energie, die der Sport zutage förderte.

So führte das Mädchen der erste Weg am nächsten Morgen zum Basar. Wenige Stunden später stand sie stolz in weißem Trainingsanzug wieder auf der Matte. Fortan trainierte Shopirey täglich zwei Stunden Schlagtechniken, Flexibilität und Schnelligkeit. „Anfangs war es richtig hart“, erzählt die heute 21-Jährige. „Wir Mädchen hatten uns davor ja nie richtig bewegt, unsere Füße oder Beine, uns nicht mal richtig ausgestreckt.“ In der Schule gab es zwar das Fach Sport, aber da seien sie immer nur in den Hof gegangen, um dort miteinander zu quatschen.

Beginn einer tiefen Freundschaft

Eine Woche, nachdem Shopirey ihre Liebe zu Taekwondo entdeckt hatte, kam ein viertes Mädchen in die Sportgruppe, die ansonsten zum größten Teil aus gleichaltrigen Jungs bestand. Ihr Name war Sohaila Hamidi, ihre Mutter war eine der Polizistinnen, die damals alle Besucher am Eingang des Frauengartens auf Waffen kontrollierte. Sohailas Bruder hatte entdeckt, dass in dem Klub im Frauengarten auch Mädchen trainierten. Kurz darauf stand Sohaila in einer Reihe mit Shopirey auf der Matte.

Obwohl die beiden heutigen Profi-Sportlerinnen grundverschieden sind – Shopirey ist sehr besonnen, fast analytisch, studiert Jura, Sohaila wirkt hingegen aufbrausend und wild und hat die Schule nach der siebten Klasse abgebrochen – verbindet die beiden von Anfang an eine enge Freundschaft. Nach nur kurzer Zeit begannen sie, einen Großteil ihrer Freizeit miteinander zu verbringen, teilten ihre Sportsachen, Milch und Brot und später sogar ein Mobiltelefon. Als Teil einer Bergsteigerinnen-Gruppe erklommen sie zusammen einen
Fünftausender-Gipfel in Afghanistan. Das Band zwischen den beiden wuchs nicht zuletzt so stark, weil sich die zwei Sportlerinnen mit den gleichen Reaktionen ihrer konservativen Familien auseinandersetzen mussten und sich gegen massive Anfeindungen durchzusetzen hatten. Der Kampf in der Gesellschaft sei viel schwieriger als der auf der Matte, sagen sie.

Shopiray und Sohaila beim Training.                                                                                        Bild: Privat

Trainieren im Verborgenen

Shopiray witterte die bevorstehenden Anfeindungen von Anfang an. Ein ganzes Jahr lang verschwieg sie ihren Verwandten, dass sie nicht den Englischkurs im Frauengarten besuchte, sondern ständig die Treppen in den Keller hinunterlief, um dort an ihren Ellenbogenschlägen oder Fronttritten zu arbeiten. Nahm sie an Wettkämpfen teil, erzählte sie, sie gehe nur hin, um zuzusehen. Lediglich ihre Mutter hatte sie eingeweiht. „Als meine Verwandten es herausfanden, fingen alle an, meine Mutter zu beleidigen“, erinnert sich Shopirey. „Die einen warfen ihr
vor, sie habe keine Ehre, die anderen, dass es sein könne, dass ich wegen des Sports keine Jungfrau mehr bin.“

Das reichte Shopireys Vater, um ihr den Sport zu verbieten. Ihre Freunde beknieten ihn daraufhin wochenlang, aber erfolglos. Shopirey weinte jeden Morgen und jeden Abend flehte sie ihren Vater an, ihr den Sport doch zu erlauben. „Irgendwann gab er nach“, sagt Shopirey mit einem breiten Lächeln. Doch unter zwei Bedingungen: Sie dürfe an keinen Wettkämpfen teilnehmen und nicht im Fernsehen gesehen werden. Das ging freilich nur eine Zeit lang gut. Shopirey wurde immer besser, sie kam in einen professionelleren Taekwondo-Klub und schließlich in die Ausscheidungsrunde über den Aufstieg in die afghanische Nationalmannschaft. Prompt gewann sie diese – und gab ein Fernsehinterview.

Taekwondo ist nach Buskaschi (ein Reiterspiel wie Polo, aber mit einer toten Ziege), Fußball und Cricket der viertpopulärste Sport Afghanistans. Nicht zuletzt, weil Rohulla Nikpai bei den Olympischen Sommerspielen in Peking 2008 in dieser Disziplin die erste Olympiamedaille in der Geschichte Afghanistans erringen konnte und 2012 in London eine zweite Bronzemedaille holte. Afghanische Taekwondo-Wettkämpfe werden seither oft live im Fernsehen übertragen, erfolgreiche Sportler von Männern und Frauen bejubelt und angefeuert.

Doch als Shopirey an jenem Abend stolzerfüllt ob ihres Erfolges nach Hause kam, erwartete sie dort kein Applaus, sondern wildes Geschrei. „Mein Onkel und Bruder beschwerten sich bei meinem Vater, drohten ihm, denn weil ich Sport treibe und im Fernsehen zu sehen bin, habe die ganze Familie keine Ehre“, erinnert sich Shopirey. Sie habe bitterlich geweint und versprochen, nie wieder zum Training zu gehen. In Wirklichkeit aber schlich sie nur wenige Tage später wieder in den Sportklub. Die Angst, erwischt zu werden, war ihr ständiger Begleiter. Sie lebte innerhalb eines anstrengenden und wackeligen Konstrukts aus Lügen. Nach einem weiteren wichtigen Sieg – ­und unvermeidbarem Fernsehinterview – lief sie nach Hause und riss das Stromkabel des Fernsehers heraus.

First Lady will lieber Offizierinnen

Sohailas Vater unterstützte sie anfangs, aber ihre Mutter war gegen den Sport. Sohaila lief mit „vielen Löchern“ in ihren Turnschuhen fast zwei Stunden zu Fuß, im Sommer bei Hitze und im Winter bei Regen und Schnee, zum Training. „Abends hatte ich dann Streit mit meiner Mutter, weil ich müde vom Training war. Sie war beleidigt, weil ich ihr nur wenig beim Kochen und Aufräumen half“, erinnert sich Sohaila. Ihre Mutter habe immer gesagt, es sollten doch die reichen Mädchen trainieren, denn sie hätten Geld für anständiges Essen und Trinken, um die beim Sport verlorene Energie wieder zu sich zu nehmen.

Doch die Begeisterung für den Sport und der Wunsch, als erste Afghanin bei Olympia für Taekwondo teilzunehmen, trieben die heute 21-Jährige immer weiter an. Sohaila opferte, wie sie sagt, dafür auch die Schule: Sie hat nur die siebte Klasse abgeschlossen. Es dauerte nicht lange bis auch sie ins heute rund 25-köpfige Frauen-Nationalteam aufstieg, sich in internen Qualifikationen gegen Sportlerinnen aus dem ganzen Land durchsetzte und Afghanistan bei internationalen Turnieren im Iran, Vietnam oder Dubai vertrat.


Sohaila (2. v. r.) bei der afghanischen Nationalmannschaft.                                                 Bild: Privat

Das erste Antreten bei einem internationalen Turnier war für Shopirey eine emotionale Achterbahnfahrt. „Es war wirklich bedrückend zu sehen, welche Möglichkeiten die Sportler in Indien hatten im Gegensatz zu uns“, erinnert sie sich. Nie im Leben könne sie gegen Konkurrenten aus anderen, entwickelteren Ländern gewinnen, dachte sie damals. Aber sie hatte im Vorfeld hart trainiert – und gewann all ihre vier Kämpfe und errang Gold in dem Regional-Turnier. Sie hatte sich gegen Kämpferinnen aus Polen, Tadschikistan, Pakistan und Indien durchgesetzt. Auch Sohaila lieferte eine gute Performance ab und als das Team mit sechs Goldmedaillen zurückkehrte, wurden sie von Afghanistans First Lady
Rula Ghani in den Präsidentschaftspalast zum Mittagessen eingeladen.

„Ihr seid der Stolz Afghanistans“, habe Rula Ghani zu ihnen gesagt. Kurz darauf habe die First Lady, erzählen die Sportlerinnen, sie dazu aufgefordert, doch dem afghanischen Militär beizutreten, sich erst in der Türkei ausbilden zu lassen und als Offizierinnen in die Heimat am Hindukusch zurückzukehren. Sohaila ärgert dieser Vorschlag bis heute: „Ich wollte ihr sagen: Frau Ghani, die Hälfte ihrer Jugendlichen wird im Krieg sterben und Sie schicken uns auch in den Kampf? Wieso unterstützen Sie uns nicht in unserem Sport?“ Aber sie blieb aufgrund
der Etiquette stumm.

Bloßstellung in sozialen Medien

Dabei hätten die Sportlerinnen durchaus jemanden gebraucht, der ihnen zur Seite steht. Shopirey erzählt, anfangs hätten sie ständig Drohungen bekommen, von Unbekannten, aber auch aus der weiteren Familie. „Uns wurde gesagt, dass man uns schlagen oder töten will und wir sollen gefälligst das Haus nicht verlassen.“ Jedes Mal, wenn Bilder von Shopirey in der Zeitung oder sozialen Medien publiziert wurden, wurde sie dafür beschimpft. Ihr Facebook-Account, auf dem sie über ihre sportlichen Erfolge berichtete und Bilder von den Wettkämpfen postete, wurde gehackt. Unbekannte schrieben in ihrem Namen junge Männer an und erklärten diesen, dass Shopirey sie begehre: „Damit dann alle sagen: Seht her, das ist ein schlechtes Mädchen.“ Wieder andere schnitten gar Fotos von ihr mit Bildern von Männern zusammen, auch in sexuellen Posen
und posteten diese öffentlich, um sie zu brandmarken.

Sohaila brachten auch ihr Temperament und Freiheitsdrang in Schwierigkeiten. Bei einem Qualifikationskampf in Kabul für ein internationales Turnier im Iran war sie ob ihrer hohen Punktezahl so begeistert, dass sie ihrem Trainer ihren Fuß auf dessen Bein legte – er solle ihn doch massieren, weil sie so gut gekämpft habe. „Alle lachten, und der Trainer meinte, ich sei ein unhöfliches Mädchen, wir würden sprechen, sobald der Kampf vorbei ist“, erzählt Sohaila. Als sie schließlich „Tschum“ hörte – als Zeichen, dass sie auch ihren fünften Kampf an jenem Tag gewonnen hatte – verbeugte sie sich nicht vor ihrer Gegnerin und dem Trainer, sondern lief in ihrer Euphorie schnurstracks zu ihm, fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Danach zog sie ihr Kopftuch zurück und holte ihr Ohr heraus mit der Bemerkung, er könne ihr jetzt die Ohren lang ziehen.

Als sie am Tag nach dem Turnier wieder ins Trainingszentrum Olympique zurückkam, warfen ihr alle vor, sie habe einen schweren Fehler begangen. Ihr euphorischer Ausbruch war live im Fernsehen zu sehen gewesen. „Ich bewege mich sehr frei, ich liebe Freiheit“, versucht Sohaila sich zu erklären. „Aber hier denken – auch gebildete – Menschen, dass ich ein schlechter Mensch und ein falsches Mädchen bin, wenn ich vor allen anderen einen Mann umarme“, sagt sie. Was für sie gut gewesen sei – die Umarmung ihres Trainers, der ihr so viel beigebracht hatte und ihr immer beistand – war für die Gesellschaft schlecht. „Anstatt mich zu unterstützen, redeten sie schlecht über mich. Sie nehmen meine Gefühle nicht wahr.“

Aber auch innerhalb der Taekwondo-Szene gibt es Widerstand. Ihre zwei Haupttrainer, zwei Männer, seien sehr gute Menschen und würden sie in allem bestärken. Von den männlichen Trainingskollegen könnten die Sportlerinnen das nicht mit voller Überzeugung sagen. Ein Teil davon heiße ihre Tätigkeit gut, der andere frage ebenso laut wie die Konservativen im Land: Warum müssen Mädchen kämpfen?

Langsam aber ändere sich die Einstellung der Afghanen weiblichen Sportlerinnen gegenüber. „Es gibt heute genügend Menschen, die uns unterstützen und stolz auf das sind, was wir tun, auf unsere Erfolge“, sagt Shopirey. Noch vor fünf, sechs Jahren habe sie nur zu Ohren bekommen, dass sie keinen Sport betreiben dürfe, in anderen Landesteilen wurden Trainingsstätten für Mädchen verwüstet. „Heute sind es immer mehr, die sagen: Das ist ein guter Weg, macht weiter so“, freut sich Shopirey. „Wir haben den Weg für die anderen geebnet.“

Flucht statt Nachwuchsförderung

Eigentlich wollten die beiden Sportlerinnen jüngere Kolleginnen in ihren sportlichen Ambitionen künftig fördern. Sie arbeiteten bereits nebenbei als Nachwuchs-Trainerinnen, Shopirey träumte von ihrem eigenen Taekwondo-Klub in Kabul. Doch der lange Weg bis zu diesem Punkt und die trotz allem anhaltenden täglichen Herausforderungen innerhalb ihrer Familien und Drohungen aus der Gesellschaft haben die beiden Sportlerinnen offenbar ermüdet. Im Juni und Juli bereiteten sie sich noch intensiv auf die Qualifikationskämpfe für Turniere in Aserbaidschan und China vor, doch vor kurzem entschieden sie sich plötzlich zur Flucht aus Afghanistan. Ein Freund der beiden erzählt, ein Thema, über das Frauen in Afghanistan immer wieder stolpern, habe sie dazu gebracht, das Handtuch zu werfen.

Ein Vertreter des afghanischen Taekwondo-Nationalteams habe die beiden dazu aufgefordert, mit ihm eine sexuelle Beziehung einzugehen, dann würde er „noch in dieser Nacht“ die Visa für die Wettkämpfe der Sportlerinnen stempeln, berichtet er. Ob das stimmt, ist nicht verifizierbar, doch es soll neben den ständigen Drohungen der Tropfen gewesen sein, der für die beiden Sportlerinnen das Fass zum Überlaufen brachte. „Die beiden sagten daraufhin: Tschüss Taekwondo, Tschüss Afghanistan“, erklärt der Freund, der zuletzt ein Foto der beiden aus der Türkei erhielt. Wohin die beiden wollten, wisse er nicht.

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