Foto: M-sense

Migräne: „Die App soll Betroffenen dabei helfen, Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen“

Millionen Deutsche leiden an Migräne. Die App M-sense soll dabei helfen, die Auslöser der Attacken besser zu verstehen, so eine gute Therapie zu finden und der Erkrankung nicht mehr derart ausgeliefert zu sein.

Mit einer App gegen Migräne

Rund 12 Prozent der Deutschen leiden an Migräne und werden so regelmäßig von starken Schmerzattacken gebeutelt. Was sie auslöst, ist sehr individuell. Ein vierköpfiges Gründerteam aus Berlin hat mit M-sense eine App entwickelt, die dabei helfen soll, die Auslöser besser zu verstehen, darauf dann reagieren zu können und so die Attacken deutlich mehr unter Kontrolle zu bekommen. Erklärtes Ziel: Die Kopfschmerztage um mindestens 50 Prozent zu reduzieren. Und das ohne sofort zu Medikamenten greifen zu müssen. Die App ist seit einem Jahr auf dem Markt und wird mittlerweile von etwa 30.000 Menschen genutzt.

Wir haben mit Mitgründer Stefan Greiner darüber gesprochen, wie die App genau funktioniert und welches Zusammenspiel aus Faktoren besonders häufig zu einer Schmerzattacke führt.

Die App arbeitet mit Algorithmen, um zu erfassen, was genau beim Nutzer passiert. Könnt ihr kurz erklären wie M-sense funktioniert und wie das Migräne-Patienten helfen kann?

„Migräne ist eine chronische Krankheit – das bedeutet, die meisten Betroffenen müssen ihr Leben lang mit plötzlich auftretenden, extrem schmerzhaften Attacken rechnen. So etwas kann sehr belastend sein, weil man sich dem Ganzen ohnmächtig ausgeliefert fühlt. M-sense will den Betroffenen auch dabei helfen, ein Stück Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzugewinnen. Man spricht hier gerne von ‚Patient Empowerment’, was letztlich bedeutet, sich die Kontrolle zurückzuholen, indem man sich mit der Krankheit auseinandersetzt, sie bestmöglich versteht und ihr das Überraschungsmoment nimmt.

Migräne ist sehr individuell – jeder hat andere Auslöser, andere Kopfschmerzmuster und andere Dinge, die ihm helfen. Um die Auslöser zu finden, benutzt man klassischerweise ein Kopfschmerztagebuch. Mit M-sense kann man unter anderem so ein Kopfschmerztagebuch mobil führen, das ist sehr viel bequemer – besonders, wenn es ans Auswerten geht. Anhand der Analyse der Einflussfaktoren und des Krankheitsverlaufs kann die App im nächsten Schritt helfen, die beste Therapieform zu finden. Etwa in dem wir Vergleiche ziehen zu einer Gruppe mit ganz ähnlichem Krankheitsverlauf. Die Therapie muss dann natürlich mit dem behandelnden Arzt nochmal abgesprochen werden. Zusätzlich bietet wir die Möglichkeit, die Therapieerfolge zu messen, wenn man weiter seine Kopfschmerz-Attacken und -Intensitäten in der App festhält. Damit nimmt man Betroffenen und Ärzten also viel statistische Arbeit ab.“

Kann die App auch bei der Diagnose helfen, ob überhaupt eine Migräne vorliegt?

„Nur Ärzte dürfen eine Diagnose stellen. Dazu dürfen sie jedoch auch Analysen aus einer App heranziehen, allerdings nur wenn diese ein Medizinprodukt sind – M-sense ist bisher die einzige App gegen Migräne und Kopfschmerzen, die ein Medizinprodukt ist. Unsere App wurde zusätzlich vom Bundesverbandes Internetmedizin zertifiziert.“

Was genau bedeutet das Zertifikat für die Nutzer? Kann man die Kosten für die App von der Krankenkasse übernehmen lassen?

„Mit dem CE-Kennzeichen erklären wir, dass alle Sicherheitsstandards eingehalten werden, dass wir eine klinische Bewertung durchgeführt haben und vieles Weitere mehr. Die meisten Gesundheits-Apps erfassen, archivieren und transferieren Daten nur. Dann benötigt man diesen Aufwand nicht. Wir aber optimieren nicht nur den Workflow, sondern werten die Gesundheitsdaten wissenschaftlich aus und stellen diese Auswertungen für diagnostische, prognostische oder therapeutische Zwecke zur Verfügung.

Wir sprechen mit vielen Krankenkassen und stoßen allseits auf großes Interesse. Migräne ist eine Volkskrankheit, die sozioökonomischen Kosten pro Jahr allein in Deutschland von mehreren Milliarden Euro verursacht. Wir rechnen damit, dass nächstes Jahr die ersten Krankenkassen die Kosten schon übernehmen werden.“

Wie lange braucht es in etwa, bis die Nutzer eine Auswertung zu den möglichen auslösenden Faktoren für die Migräne-Attacke bekommen?

„Die Auswertung der potentiellen Einflussfaktoren dauert im Schnitt etwa 60 Tage. Das klingt jetzt erstmal sehr viel, aber die App arbeitet nach streng wissenschaftlichen Methoden – deshalb muss eine gewisse Anzahl an Daten vorhanden sein, sonst ist die Auswertung nicht valide. Falsch vorhergesagte Auslöser helfen niemandem und führen nicht selten zu einer ‚self fulfilling prophecy’. Wir arbeiten aber bereits daran, die Auswertung ohne Qualitätsverluste in kürzerer Zeit durchführen zu können.“

Welche Faktoren führen, wenn ihr die Daten eurer Nutzer einbezieht, besonders häufig zu Attacken?

„Was wir in den Daten sehen, sind vielmehr multifaktorielle Zusammenhänge, das heißt nicht ein Faktor führt zur Attacke, sondern das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Ein Beispiel könnte sein, dass ein Stressabfall vor dem Wochenende zusammen mit einem unregelmäßigen Schlaf und unausgeglichenen Mahlzeiten in der Woche die Attacke am Wochenende sehr begünstigt hat. Bei vielen Nutzern ist aber auch ein deutlicher Zusammenhang zwischen hormonellen Schwankungen sichtbar – bei Frauen oft menstruationsassoziiert, bei Männern schlägt sich das meist eher in Stimmungsschwankungen nieder.“

Das Gründungsteam der Newsenselab GmbH. Quelle: M-sense.

Apropos, Daten: Daten zur Gesundheit sind wertvoll und lassen sich auch extrem gut verkaufen. Wie stellt ihr für eure Nutzer sicher, dass ihre Daten sicher sind?

„Deutschland hat sehr hohe Standards in Bezug auf Datenschutz- und sicherheit – und das ist gut so. Wir halten uns an diese Standards und sind ständig mit Spezialisten dabei, diese noch weiter auszubauen. Und ganz wichtig: transparent dem Nutzer gegenüber zu kommunizieren. Als Nutzer ist es schön zu wissen, dass im Hintergrund auf höchstem Niveau gearbeitet wird, uns liegt jedoch auch daran, dem Nutzer so viel wie möglich Entscheidungsfreiraum über die Datenverarbeitung zu geben.“

Ihr habt an der App gut eineinhalb Jahre gearbeitet – aber wie entstand eigentlich die Idee dazu? Seid ihr auch persönlich betroffen oder hat euch das Thema einfach interessiert?

„Von uns vier Gründern war niemand persönlich betroffen, aber meine Mitbewohnerin litt an Migräne – und als Student, der sich mit Mensch-Maschine-Interaktionen beschäftigte, stellte sich für mich die Frage, ob diese immer wiederkehrenden Attacken nicht durch eine entsprechende Software vorhergesagt werden könnten. Ich kontaktierte meinen Freund, den langjährigen Migräneforscher Markus Dahlem und die Idee war geboren. Zusammen mit Simon Scholler (Data Science) und Martin Späth (Software Engineer), erarbeiteten wir als Universitäts-Spin-off der Humboldt Universität zu Berlin sowie mit Unterstützung der Charité Berlin daraufhin den ersten Prototypen.“

Wie seid ihr dann weiter vorgegangen? Was habt ihr etwa in der Entwicklungsphase mit Testnutzern über die Krankheit und ihre Besonderheiten gelernt?

„Wir konnten von Anfang an auf die Unterstützung vieler Betroffener zählen – dafür sind wir sehr dankbar. Über Online-Befragungen, Feldstudien, Workshops und Usability-Tests mit den ersten Nutzern haben wir sehr stark herausgehört, dass viele oft jahrelang auf der Suche nach der für sie passenden bzw. wirksamen Therapie sind. Ärzte haben oft nicht die Zeit und ihnen fehlen auch häufig die Informationen zum Krankheitsverlauf über die Jahre und zu persönlichen Lebensumständen, um eine wirklich individuelle Therapie vorzuschlagen – diese Lücke füllen wir mit M-sense auf. Betroffene werden so bei der Therapie begleitet und dabei unterstützt, die wirksamsten Methoden langfristig in ihren Alltag zu integrieren.“

Eine solche „Selbst-Therapie“ kann man ja auch kritisch sehen – wie wichtig bleibt trotz der App eine ärztliche Begleitung?

„Die ärztliche Begleitung kann und soll eine App niemals ersetzen. Sie soll einerseits Arzt und Betroffenen unnötige Arbeit abnehmen, indem sie das Kopfschmerztagebuch digital, mobil und übersichtlich macht, die Auswertung vornimmt und den Patienten bei der mit Arzt besprochenen Therapie unterstützt. Sei es durch die konkrete Aufgabenstellung, die Reminderfunktion, oder das Tracking der Erfolge.“

Ist es für euch denkbar, eine solche App auch für andere Erkrankungen zu entwickeln?

„Auf jeden Fall. Es gibt viele chronische Krankheiten, auf die die Algorithmen, die wir für M-sense entwickeln – mit einigen Änderungen versteht sich – anwendbar wären. Bisher haben wir mit Migräne und Kopfschmerzen aber noch genug zu tun. Demnächst planen wir erstmal eine Ausweitung auf Cluster-Kopfschmerzen.“

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