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Identität: unbekannt

Seit wir hier in den Staaten leben, fühlte ich mich Identitätslos. Meine Schwester, die schon intensivere Erfahrungen als Expatriat gemacht hat, konnte mir bestätigen, dass dieses Gefühl nicht so unnormal in unserer Situation ist. Man verlässt seine Rolle in seinem vorherigen Leben und muss erst wieder in eine neue Rolle schlüpfen. Doch was ist das für eine Rolle? Wo steckt man in der neuen Gesellschaft? Diese Phase hat mich teilweise wirklich Nerven gekostet.

Begebe ich mich auf der Suche nach meiner Identität zurück in das alte Leben, sehe ich eine für die deutsche Gesellschaft junge Mutter vor mir, die mit ihrem Ehemann im gehobenen Mittelstand steckt. Sorgenfrei für die Tochter zu Hause sein, weil dieses Modell das durchschnittliche jener Gesellschaft ist und weil es nach allen Abwägungen das lukrativere für uns war. Zwischen Krabbelgruppen und Müttertreffs steht das Baby im Fokus dieser jungen Frau. Ihre weibliche – nicht mütterliche – Identität hat sie bei ihrer Hingabe für ihren neuen Job als Vollzeitmama nicht verloren, aber hinten angestellt.

 

Das war ich: Vollzeit Mama.
Nicht jede Mutter gibt sich für diese Rolle in dieser Intensität hin.
Ich habe es gemacht, weil mir auch die Gesellschaft den Rahmen dafür
gegeben hat.

Jetzt bin ich in Amerika. Hier ist dieses Rollenverständnis nicht unbedingt anders. Ich würde eher sagen, es existiert keines.
Geht eine Frau nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten, ist das
absolut normal. In einem Land, in dem viele Familien ihr
Haushaltseinkommen durch mehrere Jobs finanzieren, ist oft die
Unterstützung jedes Einzelnen erforderlich. Bleibt eine Frau zu Hause,
wird wohl eher die Reaktion kommen: toll, dass sie sich das leisten
kann.

In
einem Land, in dem alles möglich ist, ist auch jede
Familienkonstellation möglich. Es gibt keinen vorgeschlagenen Weg,
dieser steht jedem selbst frei. Und das nicht nur, was das Thema Kind
und Karriere betrifft. In Deutschland gibt es sicher auch immer
flexiblere Gestaltungen in diesem Bereich, allerdings tut sich meines
Erachtens die Gesellschaft noch schwer, komplett von alten Strukturen
loszulassen. Geht eine Mutter früh arbeiten, ist sie die Rabenmutter,
die die Zeit mit ihrem Kind nicht wertschätzt. Andersrum muss sie damit
kämpfen, ihre Karriere an den Nagel gehängt zu haben. Egal, wie sie sich
entscheidet, einen Tod muss sie sterben.

Hier hat man mehr das Gefühl, dass sich Frauen freier von gesellschaftlichen Zwängen entscheiden können (oder müssen). 


Was für mich eine echte Identitätskrise bedeutete.

Sagen
wir mal so: meine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ist nicht allzu
ausgeprägt. Im Restaurant stöbere ich endlos lang in der Menükarte, um
dann am Ende unter Druck doch immer die falsche Wahl getroffen zu haben.
Ich hasse es, Entscheidungen zu treffen. Erst recht, wenn die Auswahl
einen erschlägt.

Also saß ich hier in Amerika – ohne Rolle und mit einer Menge Auswahl.

Wer wollte ich sein? Wie würde ich mich entscheiden?

Ich
bin Deutsche und Mama und Teilzeit-Angestellte. Das konnte nicht meine
einzige Identität bleiben. Schließlich hatte ich studiert, tobe mich
gerne kreativ aus und probiere mich gerne aus. Und dennoch kannte ich
die Antwort nicht.

Auf der Suche nach meiner Identität begab ich mich zurück an den Punkt, der mich hierher gebracht hat. An einen Ort am Meer.

Alles
begann 2009. Damals lag ich im Wasser mit meinem Kopf auf dem
Anfängersurfbrett der Windsurfschule auf dem Atlantik in Fuerteventura.
Völlig kraftlos vom stundenlangen Training und ständigem
ins-Wasser-fallen ruhte ich dort, schloss die Augen, spürte die Sonne
auf mein Gesicht brennen und die Wellen unter dem Surfbrett plätschern.

Schwipp – schwapp – schwipp – schwapp.

Der Salzgeschmack vom vielen Wasserschlucken, die Energie des Meeres, die den ganzen Körper durchströmte… Ich wollte ab diesem Moment am Meer leben.

Zwei
Jahre später nach intensivem Training auf den Seen in der Region
preschten mein Mann und ich parallel auf unseren Windsurfbrettern über
den Ringkopingfjord in Dänemark. Auf und ab ohne Unterlass. Völlig
geschafft schlüpften wir danach aus unseren Neo’s, stapften
tiefenentspannt zu unserer 12m² Hütte und genossen den Abend in
Zweisamkeit. Ich lernte in diesem Urlaub dieses Leben lieben.

Bei
unseren zahlreichen Trips zum Gardasee sahen wir des Öfteren
Surferfamilien mit Kindern, die diesen Lifestyle mit ihren VW-Bullies
lebten. Ich war jedes Mal inspiriert. Von der Einfachheit, Schlichtheit
und gleichzeitig Geselligkeit dieses Lifestyles. Kinder in solch einer
Atmosphäre aufwachsen zu lassen, stellte ich mir zauberhaft vor.

Und
dann begannen wir in Deutschland ein Leben völlig entgegengesetzt von
dieser Idee zu führen. Das Windsurfequipment staubte ein, wir
konsumierten ohne Sinn und Zweck und wurden Mitglieder im Golfclub. 


Was war passiert?

Heute denke ich, lag dies daran, dass uns die gewaltige Macht des Konsums geblendet und vom Weg abkommen ließ.

Wir
zogen die Reißleine und legten diese Fesseln nieder. Unsere
ursprünglichen Ideen und Träume schwebten mir die letzten Jahre weiter
meinen Gedanken umher und führten uns somit geradewegs hierher.

Sollte ich mich über mein Kind, die Karriere oder vielleicht einfach über meine individuellen Träume und Phantasien identifizieren? Ich entschied mich für Letzteres.

Somit
sprang ich aus unserem Surfermobil mit Sand in jeder Ritze, schlüpfte
in meinen Neo, schnappte mit das Surfbrett, ließ mich von den Wellen
verschlucken und saß zeitweise auf meinem Brett und sah in der Ferne
meine Tochter am Strand tanzen.

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