Immer häufiger fehlen Angestellte aufgrund psychischer Erkrankungen. Hilft es, darüber zu reden? Zwei Betroffene haben es gewagt – und sehr unterschiedliche Reaktionen bekommen.
Wenig Verständnis von Vorgesetzten und Kolleginnen
Gerade noch überreicht Mara* einem Mitbewohner Kekse, da wird ihr plötzlich übel. Seit ihrer Jugend leidet die 19-Jährige an Morbus Crohn, einer entzündlichen Magen-Darm-Erkrankung. Bei ihr gerät Magensäure in die Speiseröhre, weshalb sie oft nichts essen kann oder sich übergeben muss. In schlechten Phasen kommen depressive Symptome und Suizidgedanken hinzu. Der Versuch, ihr Leiden zu verstecken, raubt ihr weitere Energie. Sie fühlt sich oft müde und ausgelaugt. Und doch schleppt sie sich auf die Arbeit – manchmal auch mit Schmerzen – weil sie ihren Job liebt.
So wie an diesem einen Tag, als sie in der sozialen Einrichtung, in der sie arbeitet, auf die Toilette flüchtet. Sie ist allein im Dienst, doch auch wenn ihre Kollegen dort gewesen wären: Sie hätte nichts gesagt. Aus Angst, ihren Job zu verlieren und vor Vorurteilen, verheimlicht Mara lange ihr Leiden. Als ihre Fehlzeiten mehr werden, entscheidet sie sich, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. „Und das wurde mir dann auch schnell zum Verhängnis“, sagt sie heute. Ihre Vorgesetzten reagierten wenig verständnisvoll. Ihr Chef sagte ihr: „Ich brauche mehr Leistung von dir. Du musst dich zusammenreißen.“
„Du musst dich zusammenreißen.“
Schlimmer verhielten sich ihre Kollegen und Kolleginnen: „Es wurde erzählt, ich sei ansteckend und ich mache nur blau“, sagt Mara. Sie bemerkt, dass hinter ihrem Rücken über sie reden. Sie gerät in einen Teufelskreis: Jeder Stress löst einen Schub aus. Mit jedem Schub gerät sie mehr unter Druck. Die Angst, dass die Kolleginnen und der Chef sie für faul halten könnten, wächst jeden Tag. Der Druck und die ständigen Konflikte mit den Kollegen bringen sie an ihre Grenzen – bis Mara kündigt.
Mehr Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen
Maras Geschichte mag wie ein trauriger Einzelfall klingen, doch seit Jahren beobachten Ärztinnen und Krankenkassen einen Negativtrend: Die Zahl der
Fehltage aufgrund von seelischen Leiden hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdreifacht. Das bestätigen Analysen der DAK, BKK und Techniker Krankenkasse. Es sind auch nicht mehr Menschen psychisch krank als früher. Dass Depressionen häufiger diagnostiziert werden, liegt vor allem daran, dass
sie häufiger erkannt werden. Und doch halten sich Stigmen hartnäckig.
In einer internationalen Studie von 2012 wurden insgesamt 1.082 Betroffene in 35 Ländern nach ihren Erfahrungen mit Diskriminierung in verschiedenen Lebensbereichen befragt. 316 Personen gaben an, Angst davor zu haben, im Job ungerecht behandelt oder bei der Jobsuche benachteiligt zu werden, wenn sie ihre Erkrankung offen ansprechen. Nur die Hälfte der Betroffenen haben allerdings tatsächlich eine Diskriminierung erlebt. Ob das daran lag, dass sie gar nicht erst offen drüber gesprochen hat, klärt die Studie allerdings nicht.
Zu wenig Wissen seitens der Unternehmen
Das Thema psychische Erkrankungen im Job ist also relevant. Unternehmen und Organisationen aller Größen und Branchen sind betroffen – und doch fehle es laut einer Einschätzung des Projekts Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt (psyGA) gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen an Wissen, Kompetenz und Ressourcen, dagegenzuwirken. Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert und klärt über psychische Gesundheit im Unternehmen auf. Mit verschiedenen Maßnahmen sensibilisieren sie Vorgesetzte für den Umgang mit psychischen Erkrankungen und zeigen, wie die Arbeit so gestaltet werden kann, dass die Psyche der Angestellten möglichst gesund und belastbar bleibt.
Vor allem die Digitalisierung in vielen Branchen ließ die Ansprüche an die Angestellten steigen. Die häufigsten Stressfaktoren sind:
- Multitasking
- ständige Erreichbarkeit
- Termin- und Leistungsdruck
- übermäßige Kontrolle und Misstrauen
- Lärm
- Mobbing
Auch Lisa*, 31, fühlte sich oft überfordert. Seit zehn Jahren leidet sie an wiederkehrenden mittelgradigen Depressionen. Sie machte mehrere Therapien, tiefenpsychologisch und verhaltensbezogen. Nach ihrer Ausbildung eröffnete sie eine eigene Praxis. „Der Start meiner Selbstständigkeit war erst mal toll, ich war ganz euphorisch. Ich liebe meine Arbeit mit Menschen, das bringt mich auf andere Gedanken und holt mich aus dem Grübeln raus.“ Doch irgendwann merkt sie, dass es ihr zu viel wird. Lohnabrechnung, Mitarbeitergespräche führen, Entscheidungen zu treffen, die Masse an Aufgaben überfordert sie. „Selbst wenn ich nur einen Zettel vom Mitarbeiter fürs Arbeitsamt unterschreiben sollte, war mir plötzlich alles zu viel.“
„Ich kann nicht voll arbeiten – und ich will es auch nicht mehr“
Sie gibt die Praxis auf und pausiert von der Arbeitswelt. Im Sommer 2016 fühlt sie sich bereit, wieder zu arbeiten. Diesmal als Angestellte und erst einmal nur für 15 Stunden. Es läuft gut. Als sie auf 20 erhöht, merkt sie aber: Die Erschöpfung kommt wieder. Im Dezember entscheidet sie, offen mit ihrem Chef zu sprechen. „Ich war super nervös und habe mich natürlich gefragt, ob das der richtige Weg ist“, sagt sie. Sie nennt sogar ihre Diagnose. „Ich habe es gemacht, weil der Leidensdruck so groß war. Und weil ich unbedingt weniger arbeiten wollte.“ Lisa hat Glück: Ihr Chef reagiert verständnisvoll. „Er fand es sehr mutig, dass ich so offen war. Da war ich mega erleichtert.“
Ihr Chef bietet ihr an, freie Tage zu nehmen, sobald sie sich überfordert fühle. Auch die Stunden reduziert sie wieder. Die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen unterstützen sie und fragen immer wieder nach, ob es ihr gut geht, wenn sie erschöpft wirkt. „Für mein Umfeld ist es einfacher, zu verstehen, warum ich mich zurückziehe oder manchmal gestresst reagiere. Und ich muss mich weniger erklären.“
Lohnt sich Offenheit?
Mara und Lisa haben es gewagt und ihre Krankheiten offengelegt – mit sehr
unterschiedlichen Ausgängen. Gesetzlich ist niemand verpflichtet, psychische Krankheiten offen auf der Arbeit anzusprechen. Und tatsächlich können sich Betroffene auch nie sicher sein, dass ihnen am Ende damit geholfen ist.
Was ist also besser – ansprechen oder verschweigen? „Wenn die Erkrankung keine Auswirkung auf meine Arbeitsfähigkeit hat, dann gibt es keine Notwendigkeit, davon zu berichten“, sagt Carsten Burfeind, Mediator und Berater. Er bietet Vorträge und Seminare in Unternehmen an, um über die Ursachen von psychischen Erkrankungen aufzuklären und für die Situation Betroffener zu sensibilisieren. „Betroffene sollten ihrem Bauchgefühl folgen, ob Sie im Kollegenkreis und am Arbeitsplatz offen damit umgehen können oder nicht.“ Wer seinen Vorgesetzten und den Kolleginnen traut, könne es wagen, offen von der Erkrankung zu erzählen. Gemeinsam könne dann überlegt werden, wie die Arbeit gestaltet wird oder ob und wie lange eine Auszeit angebracht wäre. Konkrete Diagnosen müssen dabei nie genannt werden.
Schluss mit Stigma!
Wie das Arbeitsumfeld auf Erkrankungen reagiert, ist oft branchenabhängig. „Es gibt aber auch branchenübergreifend Unternehmenskulturen und Arbeitgeber, bei denen psychische Erkrankungen als Schwäche gelten und psychisch kranke Menschen stigmatisiert werden“, sagt Burfeind. Ein Burn-out wird dann als Zeichen der Aufopferung für den Job empfunden und als Erschöpfung der Starken gesehen. Depression hingegen wird als Krankheit der Schwachen angesehen. „In solchen Umgebungen sollten psychische Erkrankungen nur bedingt angesprochen werden.“
Wenn die Arbeitsbedingungen aber die Arbeit erschweren und vielleicht sogar eine Krankheit auslösen, kann es sich lohnen, offen zu sein. Denn nur so könne daran etwas geändert werden. Wenn man aus Angst vor Ablehnung aber schweigen muss oder sich trotz Offenheit nichts an der Arbeitsatmosphäre ändert, rät Burfeind eins: kündigen. „Denn eine Tätigkeit, bei der keine Rücksicht auf psychische Belastungen genommen wird, kann eine psychische Erkrankung mit auslösen und verstärken.“ In solch einem Fall können sich Betroffene ein ärztliches Attest geben lassen, dass eine Kündigung aus gesundheitlichen Gründen notwendig war. So muss man nicht in einem Job ausharren, der krank macht, weil man Angst vor der Sperre beim Arbeitslosengeld hat.
Rücksicht, Forderung und Ruhepausen
So weit muss es aber nicht kommen. Wer Glück hat, stößt auf Verständnis. Da sind die Vorgesetzten gefragt. Sie müssen die Belastungen in ihrem Betrieb analysieren und diesen entgegenwirken. Das Projekt psyGA bietet dazu verschiedene Tools an. „Unternehmen müssen das Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz wirklich ernst nehmen – das lohnt sich auch wirtschaftlich“, sagt Burfeind. Durch eine sensible Führung können Belastungen reduziert und dadurch wiederkehrende Krankheitsepisoden vermieden werden. Eine vertrauensvolle und entspannte Arbeitsatmosphäre kann nicht jeden Ausbruch einer psychischen Erkrankung verhindern – aber möglicherweise deren Stärke und Dauer beeinflussen.
Viele Vorgesetzte würden ihre Führungsweise und die Arbeitsatmosphäre allerdings erst überdenken, wenn sie selbst erkranken, sagt Burfeind. Erst wenn sie merken, wo ihre Grenzen sind, beginnen sie, die ersten Anzeichen von Überforderung bei ihren Angestellten zu deuten und zu reagieren. „Auf jeden Fall gilt die Regel: ansprechen, ansprechen, ansprechen.“ Es gehe dabei nicht darum, eine Diagnose zu stellen, sondern einer Überlastung und Überforderung vorzubeugen. „Sie können dabei nichts verkehrt machen – außer sie tun nichts.“ Und dann heißt es: Atmosphäre verbessern – nicht nur für die Angestellten mit psychischen Erkrankungen, sondern für alle.
Eine gesunde Unternehmenskultur weist meistens diese Faktoren auf:
- Anerkennen von Leistungen
- Wertschätzung von unterschiedlichen Kompetenzen
- ein Konfliktmanagement
- eine offene Feedback- und Fehlerkultur, die Raum für Entwicklungen lässt
Auch wenn sich die Stigmen hartnäckig halten, so hat sich das Bewusstsein in manchen Unternehmen bereits geändert: Laut einer Befragung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung haben 70 Prozent der Großunternehmen ein betriebliches Gesundheitsmanagement. Dazu gehören Präventionskurse wie Yoga oder Rückenschule, aber auch Workshops für Führungskräfte zum Thema Stress und psychische Erkrankungen.
„Ich will arbeiten“
Mara bereut ihre Kündigung nicht. Sie möchte nicht in einem Umfeld arbeiten,
das nicht auf ihre Erkrankung Rücksicht nimmt. Auch ihr Arzt hat ihr davon abgeraten. Sie hat sich bei mehreren Unternehmen vorgestellt, doch keine Zusage bekommen. Von ihrer Erkrankung hat sie allen offen erzählt. „Für mich ist es besser, damit die Leute verstehen, dass ich nicht immer hundert Prozent geben kann. Und ich will mich nicht rechtfertigen müssen – denn ich will arbeiten.“ Jetzt hat sich Mara entschieden, ein Studium zu beginnen und hofft, dass sie danach wieder im sozialen Bereich arbeiten wird
*Die Namen der Personen, die in diesem Text auftauchen, wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.
HILFE HOLEN
Fühlst du dich schon länger antriebslos und plagen dich vielleicht sogar Suizidgedanken? Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte.
Der Originaltext von Josefine Schummeck ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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