Alle Frauen wünschen sich, ihr Baby gut betreut und in einer Atmosphäre der Geborgenheit auf die Welt zu bringen – eine neue Studie zeigt: Das funktioniert in großen Geburtskliniken schlechter als in kleinen. Warum sollen trotzdem kleine Kreißsäle wenigen, zentralen Geburtszentren weichen?
Geburtserfahrung: mittelmäßig bis schlecht
Der neueste „Picker Report“, aus dem die Süddeutsche Zeitung exklusiv berichtet, hat untersucht, wie Frauen ihre Geburt in großen und kleinen Kreißsälen erlebt haben. Groß und klein bezieht sich auf die Zahl der jährlichen Geburten auf der jeweiligen Geburtsstation. Das Ergebnis der Studie, für die 9.600 Frauen zu ihren Erfahrungen im Kreißsaal und auf der Wöchnerinnenstation befragt wurde, lässt sich so auf den Punkt bringen: Je mehr Geburten in einer Klinik pro Jahr stattfinden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen sich dort nicht gut betreut fühlen.
Das Ziel des gemeinnützigen Picker-Instituts, das die Studie in Auftrag gegeben hat, ist es, die Behandlungsqualität in deutschen Krankenhäuser aus Patientensicht zu verbessern. Und aus Patientensicht in Bezug auf Geburten sehen die Zahlen so aus: Fast jede zehnte Frau, die in einer Klinik mit mehr als 2.000 Geburten pro Jahr ihr Kind bekommen hatte, beschrieb ihre Erfahrung im Kreißsaal als mittelmäßig oder schlecht, im Vergleich dazu nur fünf Prozent der Frauen, die ihr Kind in einer Klinik mit weniger als 1.000 Geburten pro Jahr bekommen hatten. Auch die Erfahrungen auf der Wöchnerinnenstation waren bei den Frauen negativer, die in einer großen Geburtsklinik entbunden hatten.
Zum Beispiel gaben 30 Prozent der Frauen, die in einer Klinik mit weniger als 600 Geburten pro Jahr entbunden hatte, an, dass während der Geburt nicht immer eine Hebamme anwesend war, wenn sie sie gebraucht hätten – bei den Kliniken mit mehr als 2.000 Geburten waren es 42 Prozent.
Befragt wurden 9.600 Frauen, die zwischen 2014 und 2017 ihr Baby in 77 Geburtskliniken unterschiedlicher Größe bekommen hatten.
Es gibt auch gute Gründe für eine große Geburtsklinik
Natürlich soll das keine unkritische Empfehlung an alle Frauen sein, sich eine möglichst kleine Geburtsklinik zu suchen, denn es gilt: Große Geburtsstationen mit fünf, sechs oder sogar sieben Kreißsälen kommen logischerweise auf eine hohe Zahl von Geburten, Spitzenreiter war 2016 das Berliner St.-Joseph-Krankenhaus mit 4.600 Geburten (das macht rein rechnerisch durchschnittlich 12,6 Geburten pro Tag) – viele Geburten bedeuten viel Erfahrung, und sie bedeuten, dass seltene Fälle und Komplikationen, also etwa die Geburt aus Steißlage (Baby kommt nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Po zuerst raus) dort öfter vorkommen, das Personal also mehr Erfahrung hat. Für Frauen, bei denen ein Risikogeburt zu erwarten ist, ist es natürlich unbedingt ratsam, im Zweifelsfall Geborgenheit einzutauschen gegen mehr Sicherheit und die Gewissheit, von einem erfahrenen Expertenteam betreut zu werden. Dasselbe gilt für Frauen, deren Kinder zu früh auf die Welt kommen: Studien zeigen, dass Frühchen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm besonders gute Überlebenschancen haben, wenn sie in einer Geburtsklinik mit bester Ausstattung zur Welt kommen.
Die meisten Schwangeren brauchen das Komplettprogramm moderner Geburtsmedizin nicht
Für alle anderen Frauen, die eine unkomplizierte Schwangerschaft erleben, ist eine Klinik mit kleinem Kreißsaal und dementsprechend weniger Geburten pro Jahr momentan die bessere Wahl: Die Wahrscheinlichkeit, umfassend und kontinuierlich von einer Hebamme betreut zu werden, ist dort höher als in einer Klinik, in der zu wenige Hebammen zu Stoßzeiten möglicherweise mehr als fünf Geburten parallel betreuen und von Zimmer zu Zimmer wetzen.
Angesichts der vielen dramatischen Geburtsgeschichten, die uns immer wieder um die Ohren gehauen werden, dürfen wir nicht vergessen: Eine große Mehrheit aller Frauen, die ein Kind bekommen, brauchen vor allem emotionale und körperliche Unterstützung durch geschultes und empathisches Personal – das Argument von Gesundheitsfunktionären, allen Frauen das umfassende Komplettprogramm moderner Geburtsmedizin zur Verfügung stellen und deshalb auf große, zentrale Geburtszentren umstellen zu wollen, verliert also aus dem Blick, dass das für die meisten Frauen gar nicht nötig ist. So zitiert auch die SZ Maria Nadj-Kittler, eine der Autorinnen der Studie: „Es benötigen aber nur wenige Frauen die in großen Kliniken vorgehaltene Expertise und die speziellen Gerätschaften.“
Auch der Deutsche Hebammenverband hält die Zentralisierungspläne für eine Entwicklung, die den Frauen schadet: Die meisten Geburten, so die Argumentation, verlaufen schließlich ohne Komplikationen, die meisten Frauen sind somit in einer ganz „normalen“ kleinen Klinik genau so gut aufgehoben – und haben dort eine bessere Chance, die Geborgenheit und Betreuung zu bekommen, die sie sich wünschen.
Auf der Website des Deutschen Hebammenverbandes gibt es eine Landkarte der Kreißsaalschließungen, aus der hervorgeht, wo in Deutschland es bereits einen Mangel an für jeden gut zu erreichenden Kreißsälen gibt. Die Zahlen des Deutschen Hebammenverbandes: „1991 gab es noch 1.186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren. 2014 waren es nur noch 725 Kliniken. Seitdem schließt fast jeden Monat ein Kreißsaal ganz oder vorübergehend die Türen.“
Längere Anfahrt, mehr Stress
Gibt es weniger Geburtskliniken, verlängert sich für einen Teil der Schwangeren logischerweise der Anfahrtsweg zur Klinik – was dazu führen kann, dass die Frauen stärker unter Stress stehen und im Durchschnitt früher im Kreißsaal erscheinen, um sicherzugehen, auf keinen Fall zu spät dran zu sein – Studien zeigen aber, dass eine frühe Ankunft in der Klinik, wenn der Muttermund noch nicht weit geöffnet und die Wehentätigkeit schwach ist, den Geburtsverlauf in die Länge ziehen, es also für die Schwangeren besser ist, in vertrauter Umgebung zu Hause so lange wie möglich warten zu können, bis sie dann wirklich zur Klinik aufbrechen.
Und die Autorinnen der Studie zählen noch eine weitere negative Konsequenz zentraler Geburtszentren auf: Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte habe gezeigt, dass medizintechnische Interventionen dort, wo sie leicht verfügbar sind, schneller eingesetzt würden – auch dann, wenn sie gar nicht erforderlich sind.
In einem Punkt sind sich allerdings alle in der Studie zitierten Experten einig, egal ob Kritiker oder Befürworter einer weiteren Zentralisierung der Geburtshilfe: Die Kliniken müssen in mehr Personal, vor allem in die Anstellung von mehr Hebammen investieren, damit eine gute Betreuung der Gebärenden gewährleistet ist – egal, wie viele Geburten gerade parallel stattfinden und wie viele moderne Gerätschaften im Hintergrund warten.
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