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Ständige Selbstoptimierung oder sich allen guten Ratschlägen verweigern?

Vor kurzem kritisierte Regine hier die nicht enden wollende Ratschläge-Flut im Internet. Zu Recht, findet Christina Wunder. Trotzdem können sie sehr hilfreich sein – wenn sich die Probleme des Autors mit denen des Lesers decken.

Gute Ratschläge lauern überall

Manchmal ist das Leben gar nicht so einfach, wie es viele Tipps vermuten lassen. Und zwischen Selbstoptimierung und Karriere, will und soll man auch so bleiben wie man ist. Aber geht das überhaupt? Das fragte sich Regine Glaß vergangene Woche hier bei uns. Heute antwortet ihr Christina Wunder:

Seit Längerem denke ich über die Sache mit den endlosen besserwisserischen Tipps im Internet nach. Aus jeder Pore des Internet triefen sie. Einige sind liebloser Blödsinn, andere wirklich hilfreich. Und wie überall im Internet ist man nie davor gefeit, einen
rekordverdächtig heftigen Schlag in die Neidgrube zu bekommen, wenn LinkedIn einem mal wieder sagt, wie viel weiter es die ehemaligen Kommilitonen und Kollegen bereits im Leben gebracht haben. Da guckste.

Konsistent sind diese Tipps natürlich auch nicht. Klar, wenn unterschiedliche Menschen ihre unterschiedlichen Erfahrungen aufschreiben, sagt eben auch jeder etwas anderes, manchmal so, manchmal so. Ganz abgesehen davon stimmen auch nicht alle Tipps im Internet-Dschungel, beziehungweise sind für jeden das Richtige – eine Aussage, die so trivial wie wahr ist.

Durchblick, bitte?

Wie soll ich als Leserin da noch durchblicken, beziehungsweise erkennen, inwieweit
dieser oder jener Tipp jetzt für mich relevant ist? Zum Beispiel diese Ratschläge zum Bewerbungsgespräch: „Bei der Begrüßung und Verabschiedung die Hand fest, aber nicht zu fest drücken. Konzentration auf den Blickkontakt zum Gesprächspartner, aber
bloß nicht anstarren! Lächeln, aber bitte nicht zu fröhlich!“… Hallo?! Wie soll ich mich da noch auf das eigentliche Gespräch konzentrieren?

Den letzten Schubser, diesen Artikel aus meinem verstaubten Entwürfe-Ordner rauszuholen, gab mir Regine Glaß mit ihrem Text zum Thema, in dem sie sagt: Sind ja schön und gut, diese Tipps zu ausnahmslos jedem optimierbaren Aspekt meines Lebens, aber erst mal muss ich bitteschön meine Miete zahlen können, meine Freunde sehen und nicht depressiv werden, wenn angeblich alle alles besser können als ich.

„Die Frage ist doch, was möchte ich ganz persönlich erfahren und was brauche
ich? Ganz egoistisch gesprochen: Ich möchte wissen, wie ich meine Miete zahlen, eine Tätigkeit als freie Redakteurin planen kann und trotzdem noch Platz für meine kreativen Leidenschaften, Privatleben und produktives gesellschaftliches Engagement finde. Dabei können einzelne Beiträge helfen. Aber in der Theorie weiß ich es doch längst.“

Warum lesen wir (ich nehme mich da nicht aus) solche Artikel trotzdem am laufenden Band?

Von den Erfahrungen anderer lernen, statt sich optimieren

Ich glaube, der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie diese Tipps transportiert werden und wie ich sie aufnehme. Als Leserin möchte ich nicht optimiert werden. Um Gottes willen, nein. Was ich aber möchte, ist, zu erfahren, wie andere, deren Artikel ich auch sonst gerne lese, ein bestimmtes Problem gelöst haben. Ich frage auf der Straße ja auch nicht jeden x-beliebigen, was denn jetzt sein Senf zu diesem oder jenem (meine
Existenz betreffenden) Thema ist. Ich frage nur Leute, denen ich vertraue. Und auch dann nehme ich nicht alles für bare Münze.

Es will gut überlegt sein, ob bestimmte Tipps in meiner spezifischen Situation anwendbar sind oder nicht. Ich persönlich finde Tipps hilfreich, sehr sogar. Warum muss ich das Rad neu erfinden, von neuem auf die Nase fallen oder mir die Zähne an etwas ausbeißen, wenn ich mich auch mit anderen darüber austauschen und aus ihren Erfahrungen und Fehlern lernen kann? Bezugspersonen sind für mich beim Berufseinstieg enorm wichtig. Ich brauche Verbündete, denen ich auch mal doofe Fragen stellen kann, und für deren Erfahrungen ich enorm dankbar bin. Das heißt
aber nicht, dass ich alles kopieren und auf Teufel komm raus auf dieselbe Weise optimieren muss. Ich entscheide selbst, was mir helfen könnte. Genauso verhält es sich mit den Verbündeten im Internet, die ihre Erfahrungen mit der Welt teilen.

Nur wenn sich meine Probleme mit denen des Autors decken, besteht für mich ein Mehrwert.

Tipps sind Lösungsvorschläge für ganz bestimmte Probleme. Dass sie nicht für jeden gleich anwendbar sind, liegt auf der Hand, denn jeder startet mit seinen eigenen, ganz unterschiedlichen Problemen.

Ich persönlich finde es hilfreich, wenn man mir die Lösungsvorschläge nicht nur abstrakt beschreibt und vorschreibt; sondern jeweils die persönliche Erfahrung des Autors oder der Autorin schildert. Was war deren Ausgangssituation, womit hatten sie dabei am meisten zu kämpfen? Nur wenn sich meine Probleme mit denen des Autors decken, besteht für mich ein Mehrwert. Dann merke ich möglicherweise beim Lesen, dass ich nicht alleine damit dastehe, wenn ich mich um 17 Uhr frage, wo eigentlich der
Tag (und die versprochene Produktivität) abgeblieben ist. Alles andere, was mich nicht betrifft, muss ich radikal ausblenden, sonst werde ich verrückt.

Die Autorin Rebecca Niazi-Shahabi geht sogar einen Schritt weiter und fordert die absolute Verweigerung in Bezug auf solche Tipps:

„Wir lesen jeden Tag darüber, welcher Weg zum Traumkörper und Traumjob nun
wahlweise der beste, leichteste oder klügste ist. Schluss damit! Ich bin nicht perfekt – und ich arbeite auch nicht daran! (…) Denn wenn ich mich weigere, mache ich aus der allseits propagierten Selbstverwirklichung wieder das, was sie sein sollte: eine Möglichkeit.“

Das stimmt. Jeder Tipp und Ratschlag ist eine Möglichkeit. Alle kann ich nicht wahrnehmen, es geht nicht. So wie ich auch nicht immer alles aufessen kann, was mir Leckeres präsentiert wird. Alle guten Dinge sind in Maßen zu genießen. Denn Tipps im Internet sind wie ein China-Buffet. Man sollte sich nicht überfressen.

Auf den ersten Blick sieht alles geil, sättigend und befriedigend aus. Doch ganz ganz schnell überfrisst man sich. Und dann? Kommt man nicht mehr klar. Im besten Fall ist es mit dem Öffnen des Jeans-Knopfes getan. Doch was ist mit dem Gefühl der Schuld? Dass man sich nicht so beherrscht hat wie die schlanke Dame am Nebentisch. Dass man nicht mit unter 30 schon so erfolgreich ist, wie scheinbar alle anderen da draußen. Dass man es noch nicht mal schafft, weniger Plastik einzukaufen, geschweige denn sich leckere, gesunde und glutenfreie Gerichte für die Arbeitswoche vorzukochen.

Zwischen Motivation und Verunsicherung liegt nur ein Klick. Und der liegt meistens im Kopf. Wie wählt man jetzt aus und entscheidet, welche Tipps gut für einen sind, und welche nicht? Schwierig zu sagen. Vielleicht schreibe ich ja demnächst eine Liste mit sieben Tipps dafür.

#IronyOff

Wie machst du es?

Komplettverweigerer oder Tipps-Verschlinger? Fühlst du dich ähnlich überwältigt oder
selektierst du gleich beim Lesen aus, was für dich relevant und hilfreich ist?

Dieser Artikel erschien zuerst auf Chapter One Mag, dem Blog von Christina Wunder und Jana Zieseniß. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlichen.

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