Best Friends Forever: Ist echte Freundschaft wichtiger als die ewige Liebe?

Im Leben unseres Autors Tino gab es viele Neuanfänge. Alle drei bis vier Jahre musste er alte Freundschaften loslassen und neue knüpfen. Der Verlust früher Freundschaften hinterließ Spuren und machte es ihm schwer, sich emotional zu öffnen. Heute weiß Tino, dass Freundschaften genauso wichtig sein können wie Familie.

Egal ob Schulwechsel, Sitzenbleiben, Umzüge oder der Berufseinstieg: In meinem Leben gab es viele Wandlungen und Neustarts. Alle drei bis vier Jahre hieß es deshalb für mich: Alte Freundschaften loslassen und neue Freundschaften knüpfen. Immer wieder fragte ich mich: Können Freundschaften überhaupt ein Leben lang halten? Zum Glück habe ich mittlerweile Menschen an meiner Seite, die mich meine Zweifel an langfristigen Freundschaften schnell vergessen lassen. Menschen, die mir durch ihre Worte und Taten schon oft bewiesen haben: Ja, sie bleiben, auch wenn es mal nicht so rosig läuft.

Der wiederkehrende Verlust von Freundschaften

Wirklich rosig lief es eine ganze Weile nicht. Der immer wiederkehrende Verlust von Freundschaften in meinem Leben hatte nachhaltig Spuren hinterlassen. Jahrelang neigte ich dazu, meine Freundinnen auf Abstand zu halten. Unterbewusst machte ich mir wohl Sorgen, irgendwann wieder enttäuscht zu werden oder Abschied nehmen zu müssen. Ich zog mich zurück und meldete mich zeitweise gar nicht mehr. Statt selbst aktiv zu werden, wartete ich ab, bis andere nach einem Treffen fragten, um nicht auf Ablehnung zu stoßen. Ein total blöder Selbstschutz, der meinen Freundinnen oft Kummer bereitete – denn dadurch fühlten sie sich natürlich nicht gewollt.

Ein schwuler bester Freund will ich nicht mehr sein 

Dass manche Freundschaften nicht hielten und sich auch nicht wiederherstellen ließen, hatte mit klischeebehafteten Erwartungen und dem Festhalten an veralteten Rollenbildern zu tun. In meiner Jugend wurde ich von einigen meiner Freundinnen in die Rolle des „schwulen besten Freundes“ gedrängt, mit dem man shoppen gehen und über Jungs lästern kann. Laut eigener Aussage hätten sie diese Version von mir auch heute noch gerne wieder zurück in ihrem Leben. Dazu bin ich aber nicht mehr bereit. Jemanden aufgrund seiner sexuellen Orientierung in eine Schublade zu stecken, ist und bleibt diskriminierend – egal, wie gut man es meint. Manche Leute denken wohl immer noch, das Outing eines homosexuellen Mannes sei Anlass, rosa Konfetti zu werfen, ihm ein Glas Prosecco in die Hand zu drücken und ganz schnell „Desperate Housewives“ anzumachen. 

Natürlich ist es absolut nachvollziehbar, warum Frauen einen schwulen Freund zu schätzen wissen. Und auch ich fühle mich bei meinen Freundinnen besonders wohl. Wichtig ist aber, dass die Freundschaft im Fokus steht und ich nicht das Gefühl haben muss, als eine Art Must-have oder Vorzeige-Attribut der vermeintlich weltgewandten, modernen Frau herzuhalten. 

Mich emotional zu öffnen, fiel mir lange sehr schwer

Es fiel mir außerdem lange Zeit schwer, mich emotional zu öffnen. In meinen früheren Freundschaften stand ausschließlich mein Humor im Mittelpunkt. Ich riss einen Witz nach dem anderen, zögerte nicht, mich zum Hampelmann zu machen, und sorgte dafür, dass möglichst keine „peinliche“ Stille aufkam. Mit der Zeit entwickelte sich ein gewisser Performance-Druck, dem ich letztlich auch in neuen Freundschaften immer wieder nachgab. Als meine heutigen Freund*innen anfingen, sich für die tieferen Schichten meiner Persönlichkeit zu interessieren und diese auch einzufordern, brachte mich das anfangs ziemlich aus dem Konzept. Meine lustige Art war über die Jahre zu einer Art Schutzschild geworden.

Andere hinter die Fassade blicken zu lassen, machte mir Angst. Ich hatte Sorge, dass meinen Freundinnen diese weniger glitzernde Version von mir nicht gefallen könnte. Schließlich war ich nicht so perfekt oder souverän, wie ich mich nach außen hin vermarktet hatte. Mit der Zeit brachte ich meine Mauern aber stückchenweise zum Einsturz und schaffte es, mich verletzlich zu zeigen und so auch wahre Nähe zuzulassen. Und siehe da: Meine Freund*innen mochten mich immer noch – wenn nicht sogar noch ein bisschen mehr. 

Mittlerweile kann ich sagen: Meine alten Prägungen sind immer noch Teil von mir. Ich lasse mich von ihnen allerdings nicht mehr vereinnahmen oder an tieferen Bindungen hindern. Unsicherheiten und Gefühle ehrlich auszusprechen – sowohl mir selbst, als auch meinen Liebsten gegenüber – war der Schlüssel, um innere Blockaden zu lösen und meine Freundschaften auf die nächste Ebene zu heben. Ich bin dankbar, Freund*innen zu haben, die damals an mir festgehalten haben, obwohl sie es nicht mussten. Die mir entgegenkommen sind, wenn ich es mal nicht konnte. Und die mir gezeigt haben, was wahre Freundschaft wirklich bedeutet. 

Sind Freundinnen der Schlüssel für ein langes Leben?

Spätestens seit der Covid-Pandemie wissen wir als Gesellschaft, wie schädlich Einsamkeit ist. Um Einsamkeit zu bekämpfen, geht zum Beispiel die Regierung des Vereinigten Königreichs einen außergewöhnlichen Weg: Seit 2019 dürfen Hausärzt*innen nicht nur Medikamente, sondern auch Sozialkontakte verschreiben. Ob Töpferkurs oder Wandergruppe – alles, was neue Freundschaften fördert, ist möglich. Die Methode „Freund*innen auf Rezept“ klingt im ersten Moment vielleicht etwas komisch, aber tatsächlich haben enge Vertraute eine heilende Wirkung. Zahlen aus der Forschung unterstützen diese These immer wieder. Laut Forschenden der australischen Flinders University beispielsweise sollen regelmäßige Treffen, tiefgehende Gespräche und ein ehrlicher Umgang mit Freundinnen die Lebenserwartung um bis zu 22 Prozent erhöhen.  

Einsamkeit so schädlich wie der Konsum von 15 Zigaretten

Im Gegensatz dazu soll Einsamkeit genauso schädlich sein wie der Konsum von 15 Zigaretten am Tag. Das fanden Forschende der Brigham Young University in Utah heraus. Schuld daran soll vor allem chronischer Stress sein, unter dem einsame Menschen viel häufiger leiden. Laut Wissenschaftler*innen der Universität Freiburg reicht es bereits aus, zehn Minuten mit seinen besten Freund*innen zu verbringen, um eine Stunde lang vor Stress geschützt zu sein. Verantwortlich dafür soll das Hormon Oxytocin sein. Es baut Vertrauen auf und reduziert Angst. Aufgrund ihrer stresslindernden Wirkung senken Freundschaften auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Depressionen. Außerdem steigern sie unser Selbstwertgefühl. Ein deutsch-niederländisches Forscherinnenteam fand heraus, dass wir uns an Tagen, an denen wir uns mit Freundinnen treffen, wertvoller fühlen. 

Bestimmt lassen sich diese Erkenntnisse in gewisser Hinsicht auch auf andere Mitmenschen, wie die Familie, übertragen. Vergangene Studien haben allerdings bestätigt, dass uns Freundschaften oft ein besseres Gefühl geben, als es beispielsweise Verwandte tun. Der Grund: Im Gegensatz zu unserer Familie können wir uns unsere Freund*innen selbst aussuchen. Im Laufe der Jahre sortieren wir oberflächliche Freundschaften aus und behalten nur diejenigen, die uns wirklich glücklich machen. Familienmitglieder können hingegen nicht einfach ausgetauscht werden, wenn die Verhältnisse schwierig sind. 

Und tatsächlich ist es so, dass Freundschaften nachweislich genauso viel Halt geben können, wie „herkömmliche“ Familien. Laut des Kulturjournalisten Jo Schück gab es sogar Zeiten, in denen zwischen Freund*innen und Verwandten gar nicht unterschieden wurde. Die Sprache soll viele Hinweise darauf geben, wie die Historie der Freundschaft zu verstehen ist. Der Begriff „Freund“ soll demnach von dem altdeutschen Wort „vriunt“ abstammen. Und damit waren damals Freund*innen und Verwandte gleichermaßen gemeint. Erst durch die Erfindung der Kernfamilie und der monogamen Ehe, befeuert durch die katholische Kirche, soll eine klare Trennung eingeführt worden sein. 

Sind Freundschaften wichtiger als eine Partnerschaft?

Obwohl Freundschaften so wichtig für das Wohlbefinden sind, haben sie in unserer Gesellschaft längst nicht den gleichen Stellenwert wie Liebesbeziehungen. Meiner Meinung nach ist die Erwartungshaltung eines erfüllten Lebens viel zu stark auf traditionelle Familienmodelle ausgerichtet, die oft nur wenig Raum für Freundschaften lassen. Immerhin gibt es Studien, die zeigen, dass Personen, die in Beziehungen stecken, ihre Freundschaften weniger pflegen als Singles – und uns eine neue Beziehung in der Regel sogar bis zu zwei enge Freundschaften kosten kann. Und ganz ehrlich: Wer kennt nicht diese eine Person, die von der Bildfläche verschwindet, sobald sie in einer neuen Beziehung ist?

Auch ich war mal diese Person. Mittlerweile bin ich allerdings davon überzeugt, dass die Liebe zwischen Freund*innen viel bedingungsloser ist als die zwischen zwei Partner*innen. Denn eines steht fest: Menschen halten oft an miserablen Beziehungen fest, aber kaum an Freundschaften, die sie nicht (mehr) wollen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Freundschaften einem viel geringeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind. Demnach stehen die Chancen gut, dass meine beste Freundin mit mir befreundet ist, weil sie das auch wirklich möchte. Bei Beziehungen sieht das eben etwas anders aus: Indem man von seinem Umfeld ständig mit der Frage konfrontiert wird, ob man schon seine bessere Hälfte gefunden habe, wächst der Druck, dieses vermeintlich wichtige Lebensziel erreichen zu müssen. Hat man dann endlich eine*n Partner*in gefunden, kann es schnell passieren, dass man sich mit zwischenmenschlichen Dynamiken zufriedengibt, die nicht so sehr von bedingungsloser Liebe geprägt sind wie unsere Freundschaften. Ganz nach dem Motto: Lieber eine Beziehung weiterführen, die nicht zu 100 Prozent erfüllend ist, als den Status der ach so angesehenen Liebesbeziehung zu verlieren. Laut unseres heutigen Systems würde ansonsten ja auch etwas totaaaaal Wichtiges in unserem Leben fehlen. 

Das ultimative Ziel für ein glückliches Leben?

Dass eine langfristige Beziehung als das ultimative Ziel für ein glückliches und erfülltes Leben gilt, hat bestimmt auch viel damit zu tun, dass Paarbeziehungen und die Kernfamilie politisch forciert werden und durch die Institution der Ehe rechtlich stark reguliert sind. Mit der Ehe gehen etwa steuerliche Vorteile und rechtliche Absicherung einher, die anderen Beziehungsformen und Freundschaften vorenthalten werden. Ziemlich unfair, wie ich finde. In Deutschland arbeitet die Ampelregierung nach einem Vorstoß der FDP gerade an einem Entwurf für sogenannte Verantwortungsgemeinschaften. Damit soll es laut Koalitionsvertrag auch „jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglicht werden, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen.“ Für mich ein total überfälliger Schritt, der in Zukunft hoffentlich noch weitere Veränderungen anstoßen wird. Denn es muss sich noch einiges ändern, damit Freundschaften in unserer Gesellschaft endlich wieder den Platz einnehmen können, den sie meiner Meinung nach verdient haben. 

Foto: Gideon Boehm

Über den Autor

Tino Amaral (er/ihn) ist Journalist, Video-Producer, Moderator und Podcaster aus Köln. Seit 2021 moderiert und produziert er unter anderem den Podcast „Echt & Unzensiert“. Unter dem Motto „Tabuthemen gibt es nicht“ beleuchtet er in jeder Folge ein neues, vorurteilsbehaftetes Thema. Egal ob Sexualität, Kindheitstrauma, Essstörungen oder Diskriminierung – gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen räumt er mit Vorurteilen auf und leistet wichtige Aufklärungsarbeit. Seit Frühling 2024 ist er Mitglied in der Redaktion von EDITION F.

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