Auf dem Foto ist die Autorin Anna Dushime in einem weißen T-Shirt zu sehen. Sie steht in einem grünen Innenhof und blickt in die Kamera.
Foto: Sebastian Geis

Brief an meine Mutter: Wie funktioniert Scheitern eigentlich?

Anna Dushime ist Journalistin, Autorin und Podcasterin. Für EDITION F PLUS schreibt sie jeden Monat einen Brief – dieses Mal an ihre Mutter.

Liebe Mama,

du bist eine großartige Mutter und hast mir vieles beigebracht. Aber weißt du, was du versäumt hast mir mitzugeben? Dass es okay ist, zu scheitern. Ich weiß, was du jetzt denkst: Ich hab dir doch oft gut zugeredet, wenn du einen Job nicht bekommen oder früher einen Pitch nicht gewonnen hast. Direkt danach hast du mich gefragt, was ein Pitch eigentlich genau sein soll und was überhaupt diese ganzen Werbeausdrücke bedeuten.

Das stimmt alles. Trotzdem habe ich als Kind verinnerlicht, dass Scheitern keine Option ist. Nicht mal nur scheitern. Auch der zweite Platz war nicht erstrebenswert. Okay, das habe ich nicht nur von dir. Ich habe aber deine Stimme im Kopf: „Anna, vergleich dich nicht mit den anderen Kindern. Von dir wird mehr erwartet. Du musst das Doppelte leisten, um nur als halb so gut angesehen zu werden.“

Du möchtest dir den Kolumne von Anna Dushime vorlesen lassen? Los geht’s!

Woher kamen diese Erwartungen an mich?

Als Kind habe ich mich immer gefragt, wer erwartet das eigentlich? Wer hat diese Erwartungen definiert, die du an mich weitergibst? Und warum wurde ich nicht gefragt? Ich weiß, dass diese Erwartungen nicht nur von dir stammten. Ich weiß, dass du als Teenagerin kämpfen musstest, um auf die weiterführende Schule gehen zu können. Weil du Tutsi warst.

„Du bist ein Mädchen, Tutsi und zudem noch Halbwaise. Natürlich musst du besser sein als alle anderen.“

Ich weiß auch, dass nach Papas Ermordung Lehrer*innen, andere Eltern und Nachbar*innen angenommen haben, dass wir Kinder nicht mehr gut in der Schule sein können. Ich weiß, wie wichtig es dir (und mir) war, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Du bist ein Mädchen, Tutsi und zudem noch Halbwaise. Natürlich musst du besser sein als alle anderen.

Ich musste besser sein

Dann zogen wir nach Deutschland und ich sprach kein Wort Deutsch, hatte kleine Brüste und einen großen Hintern. In der sechsten und siebten Klasse galt man damit als mehrfach marginalisiert. Auch hier war mir klar, dass ich besser sein muss. Ich hatte etwas Zeit, um Deutsch zu lernen, aber deine Erwartung war, dass ich in Deutsch, Mathe und Bio schnell die Beste sein musste. Bei Sport und Kunst wurde uns beiden rasch klar, dass ich über eine wohlwollende drei Minus nicht hinauskomme.

„Wenn ich an etwas scheitere, ziehe ich mich zurück und falle in eine Spirale aus Scham, Wut und Angst. Zwischen all diesen Gefühlen bleibt wenig Platz die Einsicht, dass Scheitern nicht das Ende der Welt bedeutet.“

Natürlich scheitert niemand gerne, aber manchmal denke ich, dass ich ein gestörtes Verhältnis zum Scheitern habe. Auf Twitter (das ist diese Plattform, auf der ich so viel Zeit verbringe; ja, die mit dem Vogel) sagt man inzwischen über alles Mögliche, dass wir es normalisieren sollten: Normalize absagen. Normalize Kuchen zum Frühstück essen. Normalize Scheitern?

Die ersten beide Dinge habe ich inzwischen normalisiert. Aber Scheitern ist eine ganz andere Liga. Mama, ich frage mich, wie es bei dir ist? Wenn ich an etwas scheitere, ziehe ich mich zurück und falle in eine Spirale aus Scham, Wut und Angst. Ich schäme mich, dass mir etwas nicht gelungen ist, bin wütend auf mich selbst und habe Angst, dass mein Scheitern ernsthafte Konsequenzen hat. Zwischen all diesen Gefühlen bleibt wenig Platz für Lernen und Einsicht. Dabei ist die Einsicht, dass Scheitern nicht das Ende der Welt bedeutet, so wichtig. Wann lerne ich das endlich? Oder ist es zu spät?

Schöner Scheitern. Trennung, Kündigung, Vorsätze – wir scheitern alle, immer wieder. Doch was lernen wir daraus?

Du willst noch mehr Input zum Thema? Alle Inhalte aus dem Themenschwerpunkt findest du jederzeit auf unserer Überblicksseite. Hier geht‘s lang.

Anzeige