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Jeder trauert anders – Wie wir endlich lernen, das zu akzeptieren

Wer einen geliebten Menschen verliert, fühlt sich meist sehr allein mit seiner Trauer. So ging es auch Muriel Marondel nach dem Tod ihres Vater. In ihrem Buch „Lieber Tod, wir müssen reden“ geht sie der Frage nach, wie wir lernen mit Trauer zu leben.

 

Wie trauert man richtig?

Nach dem Tod eines geliebten Menschen, fallen viele Menschen in ein Loch. Zu groß ist die Trauer, der Verlust zu schwer in Worte zu fassen. Besonders belastend wird es, wenn man sich von Freunden und Familienangehörigen nicht verstanden fühlt – oder wenn sich sogar das Gefühl einschleicht, diese würden sehr viel schneller mit dem Verlust abschließen. Aber gibt es überhaupt eine „richtige“ Art zu trauern

Muriel Marondel ist Anfang 30, als sie ihren Vater verliert. Nach seinem Tod fühlt sie sich allein – nicht nur, weil sie sich an einer Gesellschaft stößt, in der Verlust und Trauer nur sehr wenig Raum einnehmen dürfen, sondern auch, weil sie sich in ihrem Trauerprozess von ihrer Schwester und Mutter unverstanden fühlt. In ihrem Buch „Lieber Tod, wir müssen reden“ teilt sie ihre Erfahrungen und verarbeitet ihren Verlust. Wir freuen uns, dass wir einen Auszug aus dem Kapitel „Trauer kommt nicht in Schablonenform“ teilen dürfen:

Trauer kommt nicht in Schablonenform

Wer einen Menschen verliert, verliert eine Beziehung, die vielschichtig war, die geprägt war von ganz persönlichen Erfahrungen. Unsere Trauer ist letztlich so individuell, wie auch unsere Wahrnehmungen vom Leben individuell sind, und sie ist so individuell wie die Beziehung, die wir mit dem Verstorbenen pflegten. Gerade deshalb ist sie so, wie sie sich zeigt, erst einmal vollkommen in Ordnung. Davon bin ich fest überzeugt. Niemand kann und sollte auf unsere  Verlustreaktionen eine Schablone legen, die bestimmt, welche Form unsere Trauer annehmen sollte – nicht die Gesellschaft, nicht unsere Freunde und Bekannten, nicht einmal Ärzte, Therapeuten oder Trauerbegleiter. 

Durch das Verständnis darüber, wie individuell und unterschiedlich Trauer sein kann, können wir somit ein Verständnis für unseren eigenen und den Trauerprozess der anderen entwickeln. Bereits in unserem Familienkreis sehen wir, wie unterschiedlich Menschen auf den Verlust von ein und derselben Person reagieren können. 

Jeder trauert anders

So sind meine Mutter, meine Schwestern und ich sehr unterschiedlich mit unserer Trauer umgegangen. Während ich auf den Schock des Todes meines Vaters zuerst mit Panikattacken und somit auch stark somatisch reagierte, ist meine Mutter die ersten Wochen in eine Art Beschäftigungstherapie verfallen. Von der Organisation der Beerdigung über die Auflösung der Firma meines Vaters hin zu Dankeskarten und Steuernachzahlungen: Mama war in den ersten Wochen nach dem Verlust des Mannes, mit dem sie 30 Jahre verheiratet war, in ihrer Tatkraft kaum zu bremsen. Sie stemmte so vieles mit links, dass ich mich manchmal fragte, ob sie überhaupt um ihn trauerte

Mir kam ihr Verhalten unglaublich befremdlich vor. „Sie ist wohl gar nicht traurig. Es ist fast so, als sei Papa gar nicht gestorben“, dachte ich enttäuscht und ja, ich verspürte auch Wut. Papa war tot, und sie machte einfach weiter? Ich fand das fast schon unmoralisch. Auch meine Schwestern trauerten stiller, anders, als ich es tat, und ich glaubte, dass ich mit meinen Gefühlen der Verzweiflung, auch der Verzweiflung darüber, dass ich so stark auf den Verlust reagierte, allein auf weiter Flur stand. Ich dachte wirklich, ich litt wohl als einziges Mitglied der Familie in dieser Tiefe.

Laute Trauer, leise Trauer

Ich kann heute sagen: Diese Annahme war falsch, und sie war genauso eine Anmaßung, eine Bewertung der Trauer, wie ich sie selbst von Außenstehenden, vielleicht auch der Gesellschaft erfahren habe. Ich selbst habe also eine Schablone auf die Trauer meiner Familienmitglieder gelegt. Da sich meine Gefühle mehr oder anders externalisierten als die Gefühle meiner Schwestern und meiner Mutter, glaubte ich, meine Trauer sei die schlimmste, einschränkendste und tiefste Trauer von allen. Ich war in Angst und Panik geraten, war vollkommen aus der Bahn geworfen worden, und die anderen schienen das – in meiner Wahrnehmung – alles gar nicht so schmerzhaft zu empfinden wie ich. Meine Schablone war geformt durch meine Bewertung, meine Projektionen und meine Annahmen darüber, wie Trauer auszusehen hat. Warum war das so?

Nun, weil ich so wenig über die Formen der Trauer wusste, weil ich die Reaktionen anhand meiner eigenen Wahrnehmungen beurteilte. Wir alle bewerten ständig, das ist Teil der menschlichen Erfahrung. Doch ich glaube, es sollte keine Regeln geben, die besagen, was Trauer sein darf und was nicht. Denn heute weiß ich, dass ich falsch lag. Meine Reaktion war meine Trauer, die Trauer jedes Einzelnen in der Familie ging ihren eigenen Weg, und die Verlustreaktionen meiner Familienmitglieder war abhängig von ihren Charaktereigenschaften, ihren bekannten Bewältigungsstrategien, ihren individuellen Lebensumständen und ihrer persönlichen Beziehung zu meinem Vater. In meiner Reaktion zeigte sich auch mein Wesen, mein Bindungsverhalten und wie ich mit Verlust und Trennung umgehen oder eben nicht umgehen konnte. Ich drückte meine Gefühle auf die ein oder andere Art schon immer stärker, unmittelbarer aus, als es meine Schwestern taten.

Fühlte ich nur, weil ich „lauter“ fühlte, intensiver als sie? 

Ich erinnere mich, dass ich als Kind nach einem Streit mit meiner älteren Schwester oft laut weinte, während sie sich in ihr Zimmer zurückzog, die Tür abschloss und, bis sich die Luft gereinigt hatte, oft stundenlang Zeit allein verbrachte. Fühlte ich nur, weil ich „lauter“ fühlte, intensiver als sie? Wie konnte ich das überhaupt beurteilen?

Meine Mutter, ein Nachkriegskind, verlor ihren Vater mit nur fünf Jahren und war durch ihre Lebensumstände oft dazu gezwungen, auf Schicksalsschläge praktisch zu reagieren, Dinge selbst – und vielleicht auch als Einzige – in die Hand zu nehmen. Mit 19 wurde sie das erste Mal schwanger, war später viele Jahre alleinerziehend. Mama war ein Macher, das ist es, was sie gut kannte, das hatte sie schon oft emotional gerettet. Die Beschäftigung war eine ihrer Bewältigungsstrategien.

Kein Raum für Trauer

Meiner Mutter blieb aufgrund der Umstände oft gar nicht die Zeit, Raum für ihre Gefühle zu schaffen, während ich mich schneller und bewusster auf einen Trauerprozess einlassen konnte. Vor dem Tod meines Vaters war sie diejenige, die ihn täglich und unermüdlich pflegte, danach war sie diejenige, die sich um seinen Nachlass kümmerte. Sie war so beschäftigt, weil ihr kaum eine andere Wahl blieb, und so war es dadurch einfach schwieriger, ihrer Trauer Raum zu geben.

Erst später, als alles erledigt war und sie allein in den gemeinsamen Alterswohnsitz zog und dann wirklich zur Ruhe kam, zeigte sich die traurigere, die leisere, ja auch oft die einsame Seite der Trauer meiner Mutter. Und auch die sehr erschöpfte Seite. Als sie mich eineinhalb Jahre nach dem Tod meines Vaters mit einem schweren Bandscheibenvorfall in Berlin besuchte und ich sie eines abends trotz ihrer starken körperlichen Beschwerden in eine Bar ausführte, kam das „bitterlich schluchzende Mädchen“ aus dem Krankenhaus wieder hervor. „Es ist so still in der Wohnung ohne ihn. Ich vermisse deinen Papa so“, sagte sie unter Tränen. Aus ihrem Gesicht sprach eine tiefe Trauer, eine Sehnsucht nach meinem Vater. Sie war einsam. 

Schmerz und Stärke

Sie erzählte mir, wie sehr sie die letzten Jahre geschlaucht hatten, wie schwer es für sie gewesen war, meinen Vater während seiner beschwerlichen Krankheit zu pflegen. Er war oft wütend und ablehnend gewesen in dieser Zeit, und sie hatte es abbekommen. Vielleicht war er auch manchmal wütend, dass sie weiterleben konnte und er nicht, dachte ich. Meine Mutter musste sich selbst durch den schwierigen Berg an Gefühlen kämpfen, der dieser schwere Verlust für sie bedeutete. Und sie hatte es mit Anfang 60 schwerer als ich, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Ich saß dort also mit ihr und betrachtete sie in ihrer Verletzlichkeit, ihren Schmerz, ihrem Gebrochensein, aber auch in ihrer unglaubliche Stärke. Es war schmerzhaft, sie so zu sehen, und gleichzeitig war ich unglaublich dankbar für ihre Offenheit. Denn durch das Teilen ihrer Verletzlichkeit machte sie sich mir verständlich. Ich begriff: Nur weil sie ihren Schmerz anders zeigte, war er nicht „nicht vorhanden“. Sie trauerte nicht, wie ich es tat – und dieser ihr eigener Prozess war vollkommen okay, so, wie er war.

 

Aus: Muriel Marondel: „Lieber Tod, wir müssen reden: Warum Trauer voll okay ist“, KOMPLETT-MEDIA Verlag, 220 Seiten, 18,99 Euro.

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