In Chemnitz marschierten gestern mehrere Tausend Neo-Nazis durch die Stadt und griffen Gegendemonstrant*innen, vermeintliche Ausländer*innen und Journalist*innen an. Deutschland hat ein Rechtsextremismusproblem.
Neonazis marschieren durch Chemnitz – überrascht uns das wirklich?
Die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen e.V. (RAA) schreibt am 27. August 2018 auf Facebook: „Auch wenn uns schwer fällt, dieser Gedanke auszusprechen, empfehlen wir gerade Migrant_innen, die Innenstadt ab Nachmittag großflächig zu meiden.” Gemeint ist die Innenstadt von Chemnitz. Der Grund für die Warnung ist die deutschlandweite Mobilisierung von rechtsextremen Gruppen für eine erneute Demonstration in die Stadt. Circa 800 Nazis sind bereits gestern durch Chemnitz gezogen und haben Menschen, die nach ihrer Definition nicht „deutsch” sind und linke Gegendemonstrant*innen verbal und körperlich angegriffen. Als Auslöser für ihre „Demonstration” nutzten sie eine Messerstecherei in der Chemnitzer Innenstadt, in der Nacht von Samstag, den 25. August auf Sonntag, den 26. August, mit einem Toten, deren Umstände noch ungeklärt sind. Die Polizei ließ die gewaltbereiten Nazis durch die Stadt ziehen. Im Nachhinein räumten sie ein, dass sie nicht genug Einsatzkräfte vor Ort hatten.
Eine Vielzahl von rechten und rechtsextremen Organisationen und Gruppierungen riefen im Anschluss zu einer erneuten Demonstration am gestrigen Montag, den 27. August auf. Die Polizei hatte vorbereitet sein können. Als am frühen Abend dann aber, laut Medienberichten des MDR, mehr als 5.000 rechte bis rechtsextreme Demonstranten in Chemnitz zusammenkamen war die Polizei, so berichten es viele Journalist*innen, die vor Ort waren: unterlegen. Die Nazis konnten durch die Straßen ziehen, Gegendemonstrant*innen, Journalist*innen und nicht-weiße Menschen angreifen. Die Polizei ließ sie, auch das berichten viele Journalist*innen von vor Ort, größtenteils gewähren.
Jagd auf Menschen ist kein Imageproblem
In Deutschland werden also wieder Menschen gejagt. Und der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer äußert sich besorgt – über das Image seines Landes: „Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen. Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird”
Wir sollten endlich aufhören, uns um den Ruf unseres Landes Sorgen zu machen und stattdessen bekennen: dass Sachsen, aber auch Deutschland, ein alarmierendes Rechtsextremismusproblem hat. Es geht nicht um ein Imageproblem, sondern um real existierenden und immer weiter erstarkenden Rechtsextremismus. In Chemnitz marschierten keine „Chaot*innen” auf, sondern gut organisierte, gewaltbereite Neo-Nazis, die, wie spätestens seit der Aufdeckung des NSU niemand mehr bestreiten kann, bereit sind zu morden. Und das alles in den Tagen, in denen sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum 26. Mal jährt. 26 Jahre nach dem Pogrom, dass das rechtsextreme Selbstbewusstsein der 1990er Jahre entscheidend gestärkt hat, dass einige Jahre später zur Gründung des NSU geführt hat, marschieren bekannte NSU-Unterstützer durch Chemnitz und jagen Menschen.
Die Kamerateams gehen, die Nazis bleiben
Chemnitz ist das Ergebnis von jahrelangem aktivem Wegschauen, Verharmlosung und teilweise sogar Unterstützung von rechter Gewalt. Chemnitz ist Ausdruck dessen, was von rechter Gewalt betroffene Menschen und Aktivist*innen schon lange wissen und immer wieder deutlich machen – ohne dass ihnen genug Aufmerksamkeit geschenkt wird: Deutschland hat ein Rechtsextremismusproblem. Und zwar eins, das über Jahrzehnte strukturell gewachsen ist und immer stärker wird. Ein Problem, das man gut weg ignorieren kann, wenn man nicht selbst betroffen ist, wenn man nicht in Städten und Dörfern leben muss, in denen Neonazis „nationalbefreite Zonen” ausrufen können. Ein Problem, das für viele Menschen aber tägliche Gefahr bedeutet. Und damit ein Problem ist, das wir nicht mehr ignorieren dürfen. Nicht in Chemnitz, nicht in Sachsen, aber auch nicht in Deutschland allgemein.
Und während wir bei Twitter schon längst wieder lustige Sprüche über das Wetter oder die Deutsche Bahn faven und wieder so tun, als wäre Sachsen ganz weit weg, sind es die Menschen, die dort leben, Aktivist*innen und eben auch die Antifa, die bleiben, wenn die Kamerateams wieder weg sind. Es sind diese Menschen, die sich täglich den Nazis in den Weg stellen, die bedroht werden, die auch in kleine Orte wie Wurzen fahren, wenn dort mal wieder Geflüchtete gejagt werden. Statt sich so vehement von diesen Menschen abgrenzen zu wollen, sollten wir uns bei Ihnen bedanken, denn sie sind diejenigen, die sich den Nazis wirklich in den Weg stellen, immer wieder, Angesicht zu Angesicht, Wochenende für Wochenende, Tag für Tag, bei Rechtsrockkonzerten, Spontandemos, auf Dorffesten und im Supermarkt. Und es reicht eben nicht mehr, sich kurzzeitig zu empören. Dafür ist die Lage längst zu ernst. Das zeigt Chemnitz auf bittere Art und Weise.
Titelbild: depositphotos.com
Mehr bei EDITION F
Ende des NSU-Prozesses – warum das Urteil keinen Schlussstrich bedeuten darf. Weiterlesen
NSU und Themar: Wir müssen endlich etwas gegen den Rechtsruck in Deutschland tun. Weiterlesen
Warum es so wichtig ist, eine Haltung zu haben. Weiterlesen