Foto: C MB 166 – Flickr – CC BY-ND 2.0

Hier läuft etwas gewaltig schief – was wir für die Einwanderungsgesellschaft tun müssen

Es gibt nur eine Kultur des Zusammenlebens oder es gibt keine. Wo Abschottung ist, ist Dunkelheit. Murat Suner ist als ,Einwandererkind‘ in Deutschland aufgewachsen und beschreibt in einem persönlichen Essay, wie wir mit Zuwanderung umgehen müssen, damit die Gesellschaft zusammenhält.

 

Ostdeutschland kurz nach der Wende

November 1989 erlebte ich von Istanbul aus, wie die Mauer fiel. Ich freute mich für dieses Land, in das meine Familie und ich aus dieser Stadt gekommen waren. Komisch, dachte ich noch, gerade bei so einem unfassbaren Ereignis bin ich, aufgewachsen in der BRD, nicht da, schaue von der Ferne aus zu. Ich saß fast ungläubig vor dem Fernseher und musste daran denken, wie mir meine Mutter davon erzählte, wie sie 1969 die Landung auf dem Mond in unserem Wohnzimmer im Taunus verfolgten. 

Als dann 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, die Treuhand anfing, ostdeutsche Betriebe abzuwickeln, war ich Student an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät Erlangen-Nürnberg. Am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre hing ein Zettel, dass die Treuhand Studenten im Hauptstudium suche, die während der Semesterferien dabei assistieren könnten, Umschulungsprogramme in ostdeutschen Betrieben abzuhalten. 

Wir wussten, dass die dortigen Unternehmen in keinem guten Zustand waren und dass das für viele Menschen bedeuten würde, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Ich wusste auch, wie es für meine Eltern war, als sie damals in Deutschland ankamen. Sich in ein neues Arbeitsumfeld einfügen, zwei Kinder einschulen, sich mit einer anderen Gesellschaft auseinandersetzen. Es ging uns gut, wenn auch nicht alle Erfahrungen positiv waren. 

Ich meldete mich. Ich dachte, ich kann nachempfinden, wie es den Menschen in Ostdeutschland geht, wenn sich plötzlich alles ändert, wenn man nicht weiß, ob das, worauf man bisher baute, in einem anderen System funktioniert. 

Kann man große Veränderungen optimistisch angehen?

Nach vier Wochen Vorbereitung kam ich nach Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt, zu Robotron, einem Flagschiff der ostdeutschen Industrie. Ich hatte mich ein wenig eingelesen, 1989 arbeiteten in dem Kombinat fast 70.000 Menschen, am Standort Chemnitz waren es glaube ich 8.000. Weniger als 2.000 sollten dort übrig bleiben wurde gesagt. Ich war ich mir unsicher, was ich dort einbringen konnte, außer meinen Optimismus. 

Und so war es dann auch. Montagmorgen um acht stand ich in einer grauen Flanellhose und einem Wollcardigan vor etwa 30 Nochbeschäftigten Robotron-Mitarbeitern. Mein Vater hatte noch beim Abschied über den Cardigan gelächelt und milde gefragt, ob ich jetzt mit meinen paar Semestern Studium in Yale unterrichten würde. Es roch nach Braunkohle, als ich von meinem Wohnheim, wo noch einige Vietnamesen wohnten, zum Betriebsgelände des Ex-Kombinats lief, und ich hatte davon Kopfschmerzen. Das kannte ich aus Istanbul, als der Ruß von den Kohleöfen im Winter in der Luft hing und ich immer Tage brauchte, um mich an die schmierige, kalte Winterluft zu gewöhnen. Ich sagte: „Guten Morgen, mein Name ist Murat Suner. Ich bin hier, um mit Ihnen die nächsten vier Wochen das Modul Volkswirtschaftslehre und Soziale Marktwirtschaft druchzunehmen.“ Es klang wie ein Witz. Sie guckten mich alle an. Keiner sagte etwas. Ich war Anfang zwanzig, sie zwischen Ende dreißig und Anfang fünfzig. Ich war Student, sie Ingenieure, Physiker, Facharbeiter, Büroangestellte. Ich kam aus der BRD, sie aus der DDR. Wenigstens das hatten wir gemeinsam: Zwei Länder, die es irgendwie nicht mehr gab. Ich fragte mich, wie sie sich jetzt wohl vorkommen, mit so einem jungen Spund vor sich, der noch dazu gar nicht so aussah, wie sie sich vielleicht den Besserwessi vorstellten. Ich dachte, die haben Angst und die trauen mir nicht. 

Auch das kannte ich aus West-Deutschland. Es gab so endlos viele Begegnungen von klein auf, wo ich das Gefühl hatte, die haben Angst, die sind misstrauisch, ohne dass ich es erklären konnte. Dieses verdammte Gefühl, das mich endlos nervte, aber das ich nicht ablegen konnte, und nicht verstand warum. Ich verstehe es bis heute nicht. Es gibt Erklärungen, dass es mit dem Krieg zusammenhängt, mit dem Faschismus, mit dem das Land sich und andere in den Abgrund riss, dass dieses Trauma sich über Generationen vererben kann, all das weiß man heute. Aber man weiß das nicht, wenn man als Kind in diesem Land aufwächst. Ich wusste nur von klein auf, dass die Angst und dieses Misstrauen absolut nichts mit mir zu tun haben. Dass das meinen Eltern gelungen ist, dafür bin ich endlos dankbar. 

Im Laufe der Wochen wurde die Stimmung immer gelassener, jeden Tag verbrachten wir acht Stunden zusammen. Keiner von uns wusste, ob das, was wir da machen würden, irgendjemand nützen würde, aber wir entwickelten eine Art Gemeinschaft in diesem Raum. Aus dem, was lächerlicherweise als Unterricht gedacht war, wurde ein Miteinander-Reden. Ich sollte Noten vergeben, aber schämte mich, gestandenen Physikern etwas über Pivot-Tabellen zu erzählen. Ich glaubte, sie spürten das und ließen mich machen, und ich sie. Eine fand heraus, wann ich Geburtstag hatte, dann gab es morgens einen Kuchen und ein Ständchen von allen auf Sächsisch. Ich war wirklich froh, dass ich nach dem Zettel von der Treuhand gegriffen hatte. 

Erst Ernüchterung, dann Hass 

Im nächsten Jahr bin ich wieder hin, da waren, glaube ich, noch 1.600 da, die Stimmung war ernüchtert. Einige Zeit später brannte in Hoyerswerda ein Heim, in dem vietnamesische Arbeiter lebten – so eines wie das, in dem ich in Chemnitz gewohnt hatte. Es waren sogenannte Gastarbeiter, deren Verträge aus DDR-Zeiten abgelaufen waren. Sie sollten bald nach „Hause“ geschickt werden, viele mit Kindern. 30 Menschen wurden bei den Anschlägen verletzt. Die Menge applaudierte, während Rassisten Brandsätze schmissen. Das war im Herbst 1991. Dann kamen Solingen und Mölln, und Helmut Kohl ging nicht zur Trauerfeier. Später mordete die NSU quer durchs Land, auch in Nürnberg, wo ich studierte. Der Rassismus scheint überall zu sein, wo ich bin, doch eigentlich ist er überall, wo jeder ist. Aber es gibt keine Regierung, die von strukturellem Rassismus spricht.

Es geht nicht um Ost oder West. Dieses Land kann nicht ohne Einwanderung, es setzt sich in der Mitte des europäischen Kontinents ja aus Eingewanderten zusammen. Es gab auch nie irgendeine Gesellschaft ohne Ein- oder Auswanderung. Es geht gar nicht ohne den vermeintlich Fremden, die Konstruktion der fremden Kultur ist lächerlich, es gibt nur eine Kultur des Zusammenlebens oder es gibt keine. Wo Abschottung ist, ist Dunkelheit. Niemand will da leben. Selbst die Leute aus Clausnitz nicht, denn im Grunde vergehen sie vor Selbsthass. Der Mensch hat keine Wahl, er kann sich nur öffnen oder zu Grunde gehen. 

Als die Menschen 1989 „Wir sind das Volk“ schrien, meinten sie das „Wir“, jetzt aber geht es nicht um das „Wir“, es geht um das „Volk“, das die völkische Bewegung des 19. Jahrhunderts meinte, und die war rassistisch und antisemitisch. Dass dieses Geschrei heute auch anti-muslimisch ist, ist fast Nebensache, denn was sich gerade breit macht, ist vor allem anti-demokratisch. 

Die Rolle der Politik

Ich bin enttäuscht, weil die Politik das nicht klar genug macht. Politik muss das Öffnen der Menschen, das Zusammenleben gestalten, wofür gibt es sonst Politik? 

Ich habe angefangen diesen Text zu schreiben, nachdem ich fassungslos und wütend das Video sah, in dem Geflüchtete in einem Bus mit der unglaublichen Aufschrift „Reisegenuss“ in Clausnitz ankamen und der hasserfüllte Mob die Menschen mit „Wir sind das Volk“-Gegröle bedrohte. Und dann dieser Polizist, der den völlig eingeschüchterten, angsterfüllten Jungen gewaltsam aus dem Bus zerrt, während der Mob dabei aufjohlt. Wer macht so was? Ich wollte mir die Erschütterung aus der Seele schreiben und ich dachte, es wird nicht gut enden. Aber ich erinnerte mich an die Leute, die ich in Chemnitz kennenlernte und die mich kennenlernten, die mich nach einigen Wochen zu sich nach Hause einluden und die am Ende traurig waren, dass ich wieder nach Hause fuhr. Und das beruhigte mich. 

Deutschland hat ein Rassismusproblem

Aber es geht nicht um mich. Da kommen traumatisierte Menschen aus Not und Elend, fliehen aus Verzweiflung und vor dem Tod. Um dann in die hässliche Fratze von entmenschlichten Wesen zu schauen, so dass sie noch einmal um ihr Leben fürchten müssen. Woher kommt diese Entmenschlichung? So was macht allenfalls der Krieg, aber hier ist kein Krieg. Hier stimmt etwas nicht. Auch mit der Politik nicht, mit der Polizei nicht. Dafür müssen wir keine US-amerikanischen Polizeivideos anschauen, in denen Afro-Amerikaner misshandelt oder gleich abgeknallt werden. Was Obama nach dem Attentat von Charleston über die klaffende Rassismus-Wunde, in die dort keiner hineinsehen will, sagte, können wir uns ruhig auch hier eingestehen: Deutschland hat ein gewaltiges Rassismusproblem. Wenn wir es aussprechen, wird es besser, nicht schlechter. Viele Facebook-Kommentare sprechen von Scham und Betroffenheit über Clausnitz, aber das reicht nicht. Das sind keine Einzelfälle, das ist ein wiederkehrendes, also strukturelles Problem. 

Ich, der als Einwanderungskind mit nationalsozialistischer Vergangenheitsbewältigung bis zum Erbrechen aufwuchs, muss es mir selber sagen. Weil ich es nicht fassen kann. Weil ich dachte, als jemand meinen Eltern einen Karton voll mit noch dampfender Scheiße vor die Tür legte, mit einem Zettel, auf dem mit armseliger Handschrift „Geh nach Anatolien, Hunde kurieren“ stand, das sei ein Spinner, wie das halt jeder so denkt. Aber das ist falsch. Ein Rassist denkt nie, dass er alleine steht. Überall. In Hoyerswerda nicht, nicht in Charleston und auch nicht in Clausnitz. Er denkt immer, dass er für andere mithandelt. Andere, die sich nicht trauen, die nicht erkennen, was er vermeintlich erkennt. Er denkt in seinem kranken Wahn, wie der norwegische Massenmörder Breivik, dass er irgendwas beschützt, was schützenswert ist. Aber da ist nichts. Nichts außer Selbsthass. Wir können diese Leute nicht alle auf die Couch legen, wo man sie eigentlich behandeln müsste. Nicht den Mob auf der Straße, nicht die gestörten AfD-Leute, auch nicht die aus der sogenannten bürgerliche Mitte, von denen offenbar viele immer noch denken, Rassimus ist nur, wenn das in der Gaskammer endet, und das sei ja vorbei. Ist es nicht. 

Deutsche sind doch so ehrgeizig. Warum ist die Politik dann nicht so progressiv und erkennt, dass ein Einwanderungsland seit Jahren nicht einfach so stehen bleiben kann. Es reicht nicht, einen einmaligen humanitären Akt zu vollziehen, damit wir uns dann wieder in tumben Das-Boot-ist-voll-Debatten aus den neunziger Jahren verheddern. Da waren wir doch schon. Wir sollten uns der Zukunft zuwenden und konsequent den Weg zu einer echten Einwanderungsgesellschaft bestreiten. Es gibt keinen Weg zurück, wir können nicht stehenbleiben oder abbiegen, es geht nur dorthin. Das muss Politik aber auch sagen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Plattform 60pages, die Murat Suner, Georg Diez und Brian O’Connor gemeinsam betreiben. Wir freuen uns sehr, dass wir ihn auch hier veröffentlichen dürfen.

Titelbild: C MB 166 – Flickr – CC BY-ND 2.0

Mehr bei EDITION F

Zeit für eine neue Kultur – warum Integration uns alle fordert. Weiterlesen

„Ich habe Angst“ – wie Rassismus den Alltag junger Menschen verändert. Weiterlesen

Jouanna Hassoun: „Ob wir Integration schaffen, kommt darauf an, wie stark sich Europa auf rechte Parolen einlässt“. Weiterlesen

Anzeige