Mukhtar arbeitete in einer Animationsfirma in Damaskus. Dann kam der Krieg und er musste fliehen. Ihm geht es darum, hier als Künstler und nicht als Geflüchteter wahrgenommen zu werden. Eine Geschichte über das Ankommen.
Die Heimat ist gefährlich
Den täglichen Espresso in der kleinen Cafeteria in der Aachener Talstraße zu trinken, ist jetzt eines seiner Morgenrituale. Aus der Halle des angrenzenden Gebäudes ruft eine Männerstimme: „Mukhtar, komm her, wir brauchen deine Hilfe“. Schnell trinkt er den Kaffee aus und hilft seinem Kollegen Sascha, die Malutensilien für den Workshop zu tragen. Heute hat er diesen schönen Arbeitsplatz, aber um hierher zu gelangen, war es ein weiter Weg, den Mukhtar nur mit viel Geduld und Entschlossenheit gehen konnte.
Sein vollständiger Name ist Muhammad Mukhtar, doch schon seit seiner frühen Kindheit in der syrischen Stadt Hasakah nennen ihn seine Familie und Verwandten Mukhtar. Inzwischen ist er 38 Jahre alt und sein Rufname ist fast das Einzige, was er aus seiner durch Krieg und Konflikte geteilten Heimatstadt mitnehmen konnte. Vor dem Krieg führte er in einem Vorort von Damaskus ein ganz normales Leben. Nach der Schule träumte er davon, an der Universität Damaskus Kunst zu studieren, aber diese Hoffnung zerschlug sich. Es ist die einzige Universität und die Nachfrage ist entsprechend hoch. Stattdessen musste er seinen obligatorischen Militärdienst ableisten. Viel erzählt er darüber nicht, nur dass es eine einschneidende Erfahrung war, weil er während dieser Zeit nicht die Chance hatte, weiter zu lernen oder zu studieren.
Eintauchen in die kreative Arbeit
Als Wendepunkt beschreibt Mukhtar seinen Einstieg ins Arbeitsleben bei einer privaten Animationsfirma. Die nächsten vier Jahre in einem jungen Team waren voller Herausforderungen. In dieser Zeit produzierte er mit großer Leidenschaft Videoanimationen, Zeichnungen und Cartoons.
„Es war eine großartige Zeit in meinem Leben. Ich habe so viele Erfahrungen gesammelt und hatte die Chance, in diesem Bereich der visuellen Kunst zu arbeiten, obwohl ich an der Universität in Syrien nicht Cartoon-Animation studieren konnte“, erzählt Mukhtar, während er uns im Atelierhaus Aachen herumführt. Entsprechend geschockt und traurig war der junge Künstler, als er erfuhr, dass die Firma aus unbekannten Gründen schließen würde. Die Arbeitslosigkeit setzte ihn enorm unter Druck, er musste dringend eine angemessene Arbeit finden, um überleben zu können. Mit Beginn des Krieges in Syrien 2011 kamen weitere Sorgen hinzu, zwar hatte er mittlerweile eine Arbeit in Damaskus gefunden, konnte aber seine Familie in Al Hasakah, in der nördlichsten Ecke Syriens, nicht erreichen. Tag und Nacht musste er während dieser Zeit im Büro ausharren.
„Es war sehr gefährlich, dieses Büro zu verlassen, denn viele meiner Freunde wurden entweder getötet oder verschleppt. Ich habe mich täglich bedroht gefühlt. Ich habe dann meine Familie geholt und alles daran gesetzt, ein neues Refugium außerhalb der Kriegszone zu finden“.
Die Flucht aus Damaskus blieb schließlich die einzige Überlebenschance.
Im Atelier. Bild: Jennifer Fey
Auf der Suche nach Sicherheit – ist Deutschland wirklich ein Traumland?
Anders als Millionen Syrerinnen und Syrer, die das Land über die Balkanroute verließen, flog Mukhtar mit einem Touristenvisum über Russland aus, weil er für die Flucht über die Türkei keinen vertrauenswürdigen Fluchthelfer hatte finden können. Die Bahnfahrt von Russland nach Deutschland war voller Hindernisse: Checkpoints, Visumskontrollen und andere Schwierigkeiten, die er aber alle meistern konnte. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: Die Ankunft im „Traumland“. Die Motivation nach Deutschland zu kommen, waren für ihn vor allem die vielen anderen Menschen aus seinem Land, die hier bereits angekommen waren.
Aber die Realität war anders. Die Ankunft in Deutschland war zwar einerseits eine Befreiung, aber alles andere war nicht so einfach, wie Mukhtar es sich vorgestellt hatte. Er verbrachte zwei Monate in einem großen Flüchtlingslager mit Tausenden von Asylsuchenden in Gießen, dann zehn weitere Monate des Wartens in einer weiteren Unterkunft. Der Ort erinnerte den Künstler an einen Bauernhof, einsam gelegen – die nächstgrößere Stadt war Fulda – verbrachte er hier die Zeit bis sein Asylantrag schließlich entschieden war. In diesen Monaten war er wie blockiert: er traf keine neuen Menschen, es gab keinen Sprachkurs und keine Kunst.
Neuanfang in Aachen
Dann begann endlich ein neuer Lebensabschnitt: der neue Sehnsuchtsort war zunächst Berlin, das Zentrum der Kunst- und Kreativszene. Aber sein Traum, sich dort niederzulassen, erwies sich recht schnell als aussichtsloses Unterfangen.
„Ich habe drei Monate lang online nach einem Zimmer oder einer Wohnung gesucht. Die meisten Angebote im Internet waren Betrug. Ich mag Berlin sehr, es ist eine Stadt der Kunst und Kultur, aber ich habe dort nicht die geringste Chance gehabt“.
Glücklicherweise hatte Mukhtar einen Freund in Aachen, der ihm dort bei der Suche nach einer temporären Wohnung und bei der Registrierung beim Einwohnermeldeamt half. Monate später fand er eine eigene Wohnung. Sie liegt in einem sehr ruhigen Stadtteil und bietet ihm endlich den Raum, den er für seine Arbeit braucht, nachdem er mehr als zwei Jahre von all dem getrennt war, was er am liebsten macht.
Zweifellos war bis dahin seine unsichere Lebenssituation der Hauptgrund dafür, dass er nicht kreativ und produktiv an seiner Kunst arbeiten konnte. Er hörte auf, zu malen und zu zeichnen, weil es andere Prioritäten gab: bürokratische Behördengänge grundlegende Entscheidungen und reiner Überlebenskampf. Der Start zurück in den Beruf war nicht einfach für ihn.
„Es geht mir nicht darum, Kunst als Hobby zu machen, sondern darum, eine angemessene Arbeit in meinem Fachbereich zu finden. Zwei Jahre lang hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich einen Job finden konnte, es fehlte mir einfach an Ideen und auch an Orientierung“.
Ohne Sprachekenntnisse geht nichts
Die erste und wichtigste Bedingung, um sich in einem neuen Land niederzulassen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sind Sprachkenntnisse. In den Jahren 2015 und 2016 dauerte der Prozess, Deutschklassen für Neuankömmlinge anzubieten, aufgrund der hohen Anzahl Ankommender natürlich länger. Viele geflüchtete Menschen mussten Monate warten, um sich für einen von deutschen Behörden bereit gestellten Sprachkurs zu registrieren.
Mukhtar gehört zu denjenigen, die Geduld und Entschlossenheit hatten und dies nicht nur, weil Deutschland nun seine zweite Heimat ist, sondern auch weil er die große Motivation hat, der Welt seine künstlerische Arbeit zu zeigen.
Wie ein Sprungbrett wirkte für ihn in dieser Situation der Workshop des Deutschen Comic Vereins in Hamburg im März 2017. Das Thema war „Alphabet des Ankommens“ und die Idee dahinter, bestehende Herausforderungen von Newcomern mit Comic-Reportagen zu bewältigen, hat zu Mukhtars Verständnis der Arbeit von Malern und Cartoonisten in Deutschland beigetragen. Auch deutsche Künstler, das merkte er damals, scheinen leider nicht so leicht von ihrer Kunst leben zu können – aber für Neuangekommene ist es wahrscheinlich noch eine ganz andere Herausforderung. Also konzentrierte sich Mukthar erst einmal auf das Wesentliche und begann einen Sprachkurs, um endlich wirklich Fuß fassen zu können.
Endlich eine echte Chance
Das Wichtigste war nun, neue Menschen kennenzulernen, Netzwerke auszuweiten, die Sprache zu üben und einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Die Online-Suche war für ihn einfachste Weg, und das Ergebnis ein echter Glücksfall. Mukhtar gelangte auf die Webseite des Atelierhauses Aachen und entschied sich für einen Versuch. „Ich benutzte den Google-Übersetzer, um die Angebote dieses Kunstortes herauszufinden. Er hatte im Grunde alles, was ich seit Monaten brauchte: einen Arbeitsplatz mit freundlicher Atmosphäre für eine bezahlbare Aufnahmegebühr“.
Zu seiner Überraschung lag die Werkstatt in der Nähe seiner Wohnung und so konnte er einfach mit dem Fahrrad hinfahren. Mukhtars erster Besuch dort erschien ihm wie eine Befreiung. „Ich traf Nadya, die Direktorin der Werkstatt. Sie sprach Englisch mit mir, ich dagegen antwortete mit dem wenigen Deutsch, das ich konnte. Ich erzählte ihr meine Geschichte. Sie führte mich durch das Atelierhaus, zeigte mir alles und erklärte mir, wie eine Mitgliedschaft funktioniert“.
Nach diesem geglückten ersten Treffen reichte Mukhtar alles ein, was er besaß: sein Curriculum Vitae und einige Bilder seiner früheren Arbeiten. „Als ich meine Zusage erhielt, hatte ich das Gefühl, dass ein neues Kapitel meines Lebens beginnt.“
Mukhtar und die Autorin des Textes, Asma Abidi, im Gespräch. Bild: Jennifer Fey
Ein Ort, an dem Vielfalt wichtig und willkommen ist
Während unseres Besuchs im Atelierhauses Aachen treffen wir auch Nadya Bascha, die gerade mit den Vorbereitung der nächsten Ausstellung beschäftigt ist. Sie erzählt, wie sehr sie ihr neues Mitglied schätzt. „Ich war von Anfang an von seiner künstlerischen Arbeit beeindruckt. Seine Arbeit enthält eine Vielfalt an Zeichnungen, Grafiken und Gemälde in unterschiedlichen Formaten und Medien“, sagt sie.
Vielfalt ist für Nadya Bascha ein hohes Gut, das geschützt werden muss. Die Direktorin und ihr Team sind auch von Mukhtars Sprachkenntnissen sehr beeindruckt und empfinden die tägliche Zusammenarbeit mit dem jungen Künstler als leicht und angenehm. Auch seine Künstlerkolleg*innen schätzen ihn sehr. Er hat ein gutes Kunstverständnis, fügt sich ganz natürlich in die Gemeinschaft ein und engagiert sich vielversprechend für Atelierhaus-Projekte. Mukhtars Integration in die Künstlergemeinschaft des Künstlerhauses Aachen hat also große Fortschritte gemacht. Seit er Mitglied geworden ist, hat er gearbeitet, die Herausforderungen der Kunstszene kennengelernt, besonders wie man Events organisiert und seine Arbeiten auf der nationalen Ebene fördern kann.
„Ich bin jeden Tag dort, ich produziere viel und habe die Gelegenheit, mit meinen neuen Gemälden an der jüngsten Ausstellung teilzunehmen. Meine Arbeiten werden zusammen mit denen vieler deutscher Künstler gezeigt. Das ist ein großer Erfolg für mich und ich sehe viel zuversichtlicher nach vorn“.
Die Führung endet an Mukhtars Arbeitsplatz. Wir sehen viele neue Arbeiten, von denen keine etwas mit dem, was sich in Syrien abspielt, zu tun hat. Seiner Meinung nach muss Kunst nicht unbedingt die Realität oder das Leiden reflektieren.
„Ich mache Kunst um der Kunst willen. Es ist die Kombination von Farbe, Form und Oberfläche, das ist meine Identität. Ich bin kein Botschafter für eine bestimmte Sache, ich möchte als Künstler, nicht als Geflüchteter gesehen werden.“
Als nächstes will er an einem B2-Sprachkurs teilnehmen und sich vielleicht an einer Universität einschreiben. Er ist ein Träumer und kennt keine Grenzen. Sein wichtigstes Ziel ist es, die Farben des Lebens zu mischen und täglich zu zeichnen.
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