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Gewalt in der Kindheit: „Ich habe Mama vergeben”

In ihrer Kindheit wurde Linh von ihrer Mutter geschlagen, dennoch liebt sie sie über alles. Ein Protokoll über eine Beziehung voller Misstrauen und spätem Vergeben.

Meine Mutter hat mich häufig geschlagen

„Komm sofort her!“ Mama wies mit spitzem Finger auf den Stuhl am Esstisch, über den ich mich beugen sollte. In ihrer Hand ein Plastiklineal, mit dem sie drohend hin und her wedelte. Alles in mir zog sich zusammen, mein Instinkt mahnte mich, das Weite zu suchen. Und trotzdem ging ich schlurfend auf sie zu. Jegliche Gegenwehr würde meine Situation bloß verschlimmern, mein Widerwille war zwecklos. Also Kloß runterschlucken und alles schnell hinter sich bringen. Mama braucht nur zwei Schläge, dann ist das Lineal zerbrochen.

Noch immer erinnere ich mich an den stechenden Schmerz, meinen wunden sechsjährigen Hintern und diesen Moment der Erwartung, der schlimmer war als der Schlag selbst. Als ich sie Jahre später darauf anspreche, antwortet sie mit einem fragenden Blick. „Ich kann mich nicht daran erinnern“, murmelt sie und wendet sich ab, um ihre Orchideen von Blattläusen zu befreien. Ich schaue sie an und beobachte, wie sie sich niederkauert und behutsam die Blätter abwischt. Fast friedlich wirkt sie, so gedankenverloren und in sich gekehrt. Vielleicht war es auch Selbstschutz.

Meine Mutter hat mich häufiger während meiner Kindheit geschlagen. Bis heute kann sie nicht mit mir darüber sprechen.

Mama und ich gegen den Rest der Welt

Wir lebten damals in einem Randviertel der Großstadt, eines, das als sozialer Brennpunkt gilt und von vielen anderen Stadtbewohner gemieden wird. Für mich war es mein Zuhause. In den Sandkästen fand man hin und wieder Heroinspritzen. Auch die Instandhaltung der Bahnstationen erwies sich als schwieriges Unterfangen; viele Jugendliche nutzten sie als Ort, um ihren Frust in Form von Vandalismus auszulassen. Wer aus dem Viertel kam wurde oftmals abgestempelt oder mit staunenden Augen angestarrt.

Für meine Mama gab es keine Alternative. Mit ihren Eltern flüchtete sie während der 1980er Jahre vor dem Vietnamkrieg nach Deutschland. Es folgten ein Deutschinternat und der anschließende Rückzug zu den Eltern, die in diesem Viertel ihre Wurzel geschlagen hatten. Wir hätten uns sowieso nichts anderes leisten können. Manchmal wirkte Mama abgebrüht, fast schon zufrieden. Zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Schließlich gab es in den stillen Momenten nur Mama und mich. Mama und ich gegen den Rest der Welt. Von meinem leiblichen Vater hatte sie sich kurz nach meiner Geburt getrennt und noch heute spricht sie von der Ehe wie von einem Horrorstreifen. Er hatte sie jahrelang misshandelt.

Der Fußabdruck

Der Rosenkrieg zwischen meiner Mutter und meinem leiblichen Vater hielt über meine gesamte Kindheit an. Meine ersten Lebensjahre waren besonders schwierig. Ab und zu kam er und wollte mich sehen, sie stritten sich oft um mich. Einmal hat mein Vater versucht, die Tür einzutreten. Seinen Fußabdruck wischte meine Mutter nicht ab. Wollte sie ihm einen Spiegel vorhalten, ihn bei künftigen Besuchen daran erinnern, weshalb sie das Sorgerecht hatte? Keine Ahnung.

Bis dahin hatte ich nicht geahnt, dass er zu Wutausbrüchen neigte. Vielleicht hatte ich diesen beängstigenden Teil seiner Persönlichkeit schlichtweg ausgeblendet. Er lachte immer so schön, wenn ich auf einen seiner Scherze reinfiel. Beim Frühstück stahl er mir manchmal den Käse von der Brotscheibe und versteckte ihn hinter seinem Rücken. „Ich habe ihn aufgegessen“, behauptete er dann mit schelmischem Grinsen. Ich kann ihn auch Jahre später, nachdem ich die Wahrheit erfahren habe, nicht böse sein. Er hat mir nie wehgetan.

Das Glück mit meinem Stiefvater wollte er mir trotzdem anfangs nicht gönnen. Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als meine Mutter ihren späteren Lebensgefährten kennenlernte. Mein Stiefvater hatte zu diesem Zeitpunkt kein Geld, er war jung, verliebt und hatte sein Studium abgebrochen, um zu uns zu ziehen. Mit kleinen Jobs versuchte er, uns über Wasser zu halten. Und er zog mich auf. Für mich war er mein Papa. Dennoch wollte mein leiblicher Vater ihn lange Zeit fern haben, das Leben meiner Mutter erschweren. Sicherlich war er auch eifersüchtig auf Papa und mich.

„Oh, deine Mutter ist so lieb!“ – Freunde von Linh

Wegen der Auseinandersetzung mit meinem leiblichen Vater stand meine Mutter oft unter Strom. Nicht dass sie mir die Schuld für die Lage zuschob; sie wusste, dass ich unschuldig war. Dennoch kanalisierte sie den Druck in das eigene Familienleben. Sie war schnell reizbar, aufbrausend und übersensibel. Eine Seite, die die Außenwelt nie zu Gesicht bekam. „Oh, deine Mutter ist so lieb“, sagten die wenigen Freundinnen und Freunde, die sie kennenlernen durften. Ich lächelte dann verkniffen und erwiderte nichts. Erwähnte weder das Lineal, ihre psychologischen Spiele noch die Ohrfeigen, die sie zwischendurch verteilte.

Das war das Problem an Mama: Sie hatte diese zwei Seiten und Gesichter. Je näher man zu ihr stand, desto häufiger nutzte sie einen als Projektionsfläche für ihre Wut. In ihren Tobsuchtsanfällen fraß sie der Gedanke auf, dass die ganze Welt gegen sie sei. Indirekt verknüpfte sie uns mit den anderen Problemen ihres Lebens. Wir wuchsen zu Schattenmonstern ran, Papa und ich, Menschen, die ihr doch so nahe standen und sie trotzdem im Stich ließen. Der Unterton in ihren Vorwürfen war stets: „Macht ihr mir mit Absicht das Leben schwer? Wisst ihr nicht, dass ich schon genug zu leiden habe?“

Mama gefiel es auch nicht, dass ich mich mit meinem leiblichen Vater so gut verstand. Im Affekt ließ sie die eine oder andere Bombe platzen, wie damals bei einem Familienbesuch. Wir waren uns über irgendetwas uneinig gewesen und ich hatte meinen Vater verteidigt. „Er hat mich geschlagen“, brach es plötzlich aus ihr heraus, „als du noch in meinem Bauch warst!“ Ich, damals zwölf Jahre alt, konnte die darauffolgende Nacht nicht einschlafen.

Zwar machte sie mich nicht für ihren Schmerz verantwortlich, dennoch warf sie mir vor, ihrem Leid nicht genügend Anerkennung zu schenken. Sie suchte in mir eine Art Felsen, an den sie sich klammern konnte, und den Sinn, der all die vergangene Tortur rechtfertigte. Aber ich weigerte mich, meinen leiblichen Vater mit derselben Verachtung zu strafen wie sie. Ich war in diesen Momenten bloß eine Boje, zu der sie vergeblich geschwommen war, die verräterisch mit jenen Wellen tanzte, die sie zu verschlingen drohten. Unter ihren Füßen kein Halt. Mama, hast du mich manchmal so empfunden? Warst du deshalb so sauer auf mich?

Ein Teufelskreis der Gewalt

Meine Mutter war vorgeschädigt, wenn man das so sagen kann. Ihre Eltern haben keine Bilderbuchehe vorgeführt; Opa schlug Oma sehr schlimm und sehr oft. In der vierten Klasse bekam ich es das erste Mal mit. „Wir müssen kurz nach Oma schauen“, hatte meine Mutter gekeucht, als sie mir am Schultor entgegen kam. Ich griff nach ihrer Hand und wenige Minuten später standen wir im Flur meiner Großeltern. Omas Gesicht war mit dunklen Flecken übersäht und ihr rechtes Auge angeschwollen. Ich habe nicht verstanden, was vor sich ging und warum meine Mutter Opa anbrüllte. Kurz vor der Eskalation – beide drohten einander mit einem Küchenmesser – griff meine Mutter Oma und lief mit uns beiden raus. Ein Jahr später waren meine Großeltern geschieden. Meine Mutter hat seither keinen Kontakt mehr zu Opa.

Auch wenn sie es sich niemals eingestehen wollen würde: Opa hat sie sehr stark geprägt. Sie ist Teil dessen geworden, was man als Teufelskreis der Gewalt bezeichnet, der generationenübergreifenden Weitergabe von Gewalt. Es ist bekannt, dass Kinder vom Modell ihrer Eltern lernen und Angewohnheiten übernehmen. Psycholog*innen haben dies bereits in den 60er Jahren festgestellt.

„Wie kannst du nur so faul sein, du Schwein?!“ – Linhs Mutter zu Linh

Opa hatte sich stets mit seiner dickköpfigen Art durchgesetzt. Er hat seiner Unzufriedenheit dadurch Abhilfe verschaffen, indem er anderen Personen in der Familie die Schuld zuschob. Dieses Verhalten hatte sich meine Mutter angeeignet, was insbesondere dann zutage trat, wenn sie unter Stress stand. Ihr Gehirn schaltete in solchen Situationen auf altbekannte und vertraute Muster um, ein Automatismus, der jeglichen Appell an ihre Rationalität nichtig machte. Und dass sie sich ausgerechnet in einen Mann verlieben würde, der ihr selbiges antun würde wie Opa ihrer Mutter, ist nicht unüblich.

Lange habe ich gebraucht, um diese Verbindung zu knüpfen. Es fällt mir schwer, meine Mutter als theoretischen Gegenstand zu betrachten, sie zu einem psychologischen Objekt zu reduzieren. Doch die Distanz hilft mir. Nicht alles auf mich zu beziehen, hilft mir. Und es schafft Raum für Empathie, ohne die ich meiner Mutter nie hätte vergeben können. Tatsächlich trafen viele Risikofaktoren auf meine Mutter zu der Zeit zu: niedriger Bildungsstand, Armut, junges Lebensalter, psychosozialer Stress, beengte Wohnverhältnisse, Konflikte in der Familie. Ein trauriges Musterbeispiel, folgt man den Angaben der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes.

Der Staubsauger

Nichtsdestotrotz werden einige Erinnerungen auf ewig eingebrannt sein. Da gibt es diesen Tag, an dem sie versucht hat, ein Wörterbuch nach mir zu werfen. Ich habe genervt gestöhnt, als meine Mutter mich dazu aufrief, die Wohnung zu saugen. „Na gut.“ Meine Mutter, die etwas aufgekratzt zu sein schien, nahm diese Reaktion zum Anlass, um sich in die Situation hineinzusteigern. Ich bin mir nicht sicher, ob das Fass schlichtweg übergeschwappt war oder sie mich unbewusst als Ventil für eine andere Misere nutzte. Schon bald folgten die ersten wüsten Beschimpfungen meiner Persönlichkeit.

„Dieses Haus ist ein Schweinestall“, keifte sie,“Wie kann man so faul sein, du Schwein?!“ Bockig wie ich war schrie ich zurück, dass sie nicht das Recht habe, mich so zu nennen. Am Ende saß ich weinend auf unserem PVC-Boden neben der Heizung. Meine Mutter wirkte in solchen Momenten wie ausgetauscht; ihre Augen bekamen diesen verwirrten, stechenden Ausdruck. „Hör bloß auf zu heulen“, rief sie und schoss mit einem Blick voller Ekel nach.

Wenn meine Mutter sich in Rage schimpfte, war der Rest ein Selbstläufer. Manchmal wirkte es so, als ob sie sich in einer Spirale befinde, einem Loop, aus dem sie nicht ausbrechen konnte. Sie projizierte alles Übel auf mich. Vielleicht war es auch ein Selbstverteidigungsmechanismus; vielleicht konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass sie mir zu Unrecht wehtat. Je lauter ich wimmerte, desto wütender wurde sie.

Zwischen Selbstverherrlichung und Selbstsabotage

Ich schrie auf, als sie den Langenscheidt-Wälzer nach mir warf. Alles nur wegen eines Staubsaugers, schoss es mir durch den Kopf, während ich mich zusammenkugelte und den Rest meines Pullovers vollrotzte. Der Wurf war halbherzig und verfehlte mich um einen Meter. In ihm war das gespiegelt, was meine Mutter in ihrer Raserei gefangen hielt: Scham und Verleugnung. Scham, weil sie sich nicht traute, mich direkt zu treffen, und Verleugnung, weil sie trotzdem nicht davon ablassen konnte, den Versuch vorzutäuschen.

Ihr Leben war ein Drahtseilakt zwischen dem zerstörerischen Hang zur Selbstsabotage und einer Art Selbstverherrlichung, die sie gegenüber jeglichem Schuldbewusstsein zu immunisieren schien. Im Streit drehte sich alles um ihr Egozentrum. Erst wenn sie sich aus der Situation gestohlen und in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte, schien die Realität zurück in ihr Bewusstsein zu schwappen. Jahre danach erfuhr ich von meinem Vater, dass meine Mutter sich nach solchen Momenten oft ins Bett gelegt und um mich geweint hatte.

Das Wasser wird still

Eskalationen wie diese haben unsere Tochter-Mutter-Beziehung geprägt. In meinen Jugendjahren hatten wir ein gestörtes Verhältnis. Zeitweilig ergriff mich die Paranoia, dass sich jede Aussage meiner Mutter als Angriff gegen mich richtete. Ich habe mich gegen sie wehren wollen, wenn gar kein verbales Feuer von ihr ausging. Ich habe sie angeschnaubt, wenn sie einfache Bemerkungen machte. Und ich war wütend auf Papa, weil er sich meines Erachtens viel zu selten für mich eingesetzt hatte. Dass er die meiste Zeit selbst hilflos war und in den stillen Momenten auf sie einzureden versuchte, habe ich natürlich nicht gewusst.

Nach dem Abitur packte ich meine Taschen, um für zwölf Monate nach Indien zu gehen. Als wir uns am Flughafen verabschiedeten, brach meine Mutter in Tränen aus. Das Jahr darauf war entscheidend. Die Auszeit half mir Abstand zu gewinnen, um meine Mutter aus der Ferne zu betrachten. Und sie selbst lernte mich nach meiner Rückkehr als eigenständige Persönlichkeit schätzen und nicht mehr als Erweiterung ihrer selbst zu betrachten. Ich kam mit einer eigenen Welt zurück, die sie ihrer nicht mehr unterordnen konnte. In ihr hatte sich etwas verschoben.

Anfangs suchte ich in den ruhigen Momenten das Gespräch. Ich war auf Konfrontationskurs und erzählte ihr, wie sehr ich ihre Schläge während meiner Kindheit verurteilte. Sie erwiderte nichts. Aus ihren Augen las ich jedoch, dass sie mir zustimmte und sich schämte. „Linh, ich …“, fing sie an und brach ab. Stille. Mama hat nie gelernt, sich zu entschuldigen. Mich machte das anfangs rasend.

Es gab noch weitere solcher Momente, in denen sie zu mir sprach, ohne ein Wort zu verlieren. Wimpernschläge der Geknicktheit und des Schweigens. Ich brauchte eine Weile bis ich begriff, dass wir uns weder sprechen noch in die Arme fallen würden. Dass es für mich okay war und ihr Schweigen manchmal mehr aussagte als ihre Worte. Mama war nicht mehr am Ertrinken; inzwischen ist das Wasser zwischen uns still geworden. Und ich habe gelernt, unsere Last loszulassen.

Ratschläge und therapeutische Hilfe für Eltern, Kinder und Familienangehörige findet ihr hier:

Elterntelefon unter der Nummer gegen Kummer: 0800 111 0 550

Kinder und- Jugendtelefon: 116 111

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 166 016

Deutscher Kinderschutzbund

Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes

Der Originaltext von  Kim Ly Lam ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.

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