Foto: Kinga Cichewi | Unsplash

Hochsensibel in einer Dreier-WG – mein Leben am Limit

Das Leben in einer WG kann schon „normale” Menschen überfordern. Wenn man aber hochsensibel ist, kann jeder Krümmel zum inneren Nervenzusammenbruch führen.

 

Direkt nach dem Aufwachen 51.743 Gedanken im Kopf 

Es ist 7:43 Uhr, ich liege im Bett und schiebe eine teelöffelgroße Menge Kokosöl in meinem Mund hin und her – mein neues Aufwachritual. Wie es dazu kam, das weiß ich auch nicht mehr ganz genau. Eigentlich halte ich von Morgenroutinen, und gerade solchen gehypten, eher weniger, aber wegen des anstehenden Zahnarzttermins und meiner Suche nach etwas, das mich morgens aufwachen lässt, liege ich jetzt mit flutschendem Geräusch, aber gänzlich unsexy, im Bett und starre an die Decke. Sowas mache ich jetzt also am Morgen, um über den kommenden Tag nachzudenken und meinen 51.743 Gedanken Platz zum zu-Ende-Denken zu schaffen.

Nebenan klingelt ein Wecker, im gleichen Ton wie meiner. Danach knarrt die Zimmertür, dann die zum Badezimmer. Noch eine Tür geht auf, Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer, ich höre Wasserrauschen und ein Klicken – ah, der Wasserkocher wurde eingeschaltet. Als nächstes wird die Dusche angehen, Schüsseln und Löffel werden klirren, weitere Türen werden zwischen dem Anziehen und Aufessen auf- und zugehen, bis die Haustür mit einem lauten Krachen ins Schloss fällt. Ich weiß das ganz genau, jeden Morgen grüßt das polternde Murmeltier. Und ich liege hier mit der Decke bis zum Kinn, habe gerade kurz vergessen, das Öl weiter hin und her zu schieben und frage mich, warum ich verdammt nochmal in eine WG, in diese WG ziehen wollte.

Kann ich als Hochsensible in einer WG glücklich werden? 

Ich stehe auf und jongliere meinen Mund voll Öl ins Badezimmer, wo der Heizkörper an und das Fenster auf ist. Beim Zähneputzen sehe ich Spritzer am Spiegel, eine leere Klopapierrolle und dass sich wohl jemand die Haare geföhnt haben muss. Ich entscheide mich dafür, dass Tee in mir Frieden stiften soll und bewege mich in die Küche zum Wasserkocher. Ach wie schön, Küchenhandtücher überall auf der Anrichte verteilt, Krümel auf der Ablage, dem Tisch und dem Boden, ein übervoller Mülleimer und ein nicht ausgeräumter Geschirrspüler, weswegen sich weiteres Geschirr in der Spüle stapelt. I love it. Not. 

Eigentlich hatte ich den Plan, genau hier zu arbeiten, am Küchentisch vor dem großen Fenster mit Blick in den Garten. Stattdessen räume ich also auf, wische, richte und schaffe Ordnung, die ich dringend brauche, weil ich sonst nicht kreativ sein, nicht denken, nicht arbeiten, ja nicht einmal stressfrei sein kann.

Schön finde ich das auch nicht, aber was soll ich machen? Meine Hochsensibilität schreit nach auditiver und visueller Ruhe und ästhetischer Stimmigkeit. Also räume ich äußerlich auf, was innerlich ungeordnet ist. Will dabei nicht wütend werden, nicht ärgerlich mit mir und auch nicht den anderen Mitbewohnerinnen sein, denn – und das wird mir jetzt wieder bewusst – genau deshalb habe ich die Entscheidung für eine WG, für diese WG getroffen: Ich wollte mich mir selbst stellen, meinen Ängsten und daran wachsen, wollte Gesellschaft genießen lernen. Mit dem Lappen in der Hand fühle ich mich nur gerade so gar nicht nach Wachstum und Größe, eher nach alten Mustern von zu wenig Abgrenzung, von zu viel „Was denken die anderen?“ und „Wenn ich etwas sage, mögen die mich dann noch?“

Was denken sie von mir, wenn ich mich beschwere?

Ich seufze, das Herz irgendwie auch und der alte Dielenboden sowieso, als ich in mein Zimmer zum Handy gehe und eine Nachricht in unsere gemeinschaftliche WhatsApp-Gruppe, in der es sonst um Klopapiernachschub, geteiltes Obst und Terminvorschläge für das nachzuholende Weihnachtsessen geht, absetze: „Hey ihr zwei, wollen wir nächste Woche Mittwoch unser Weihnachtsessen nachholen? Und: Ich weiß nicht genau, wer es ist, aber meint ihr, wir könnten morgens die Haustür leiser schließen? Und vielleicht achten wir gemeinsam wieder etwas mehr auf die Küche?“, schreibe ich, und fühle mich ein Stück weit besser. Ich weiß, was mich stört, es hätte klarer formuliert sein können, ist immer noch ein bisschen zu weich, aber ich muss auch nicht gleich zum textlichen Vorschlaghammer greifen, weil hier Krümel liegen.

„Ja, da packen wir alle wieder mehr an. Entschuldigt, in letzter Zeit ist es stressig in der Uni wegen der Klausurenphase. Ich achte wieder mehr darauf“ und „Auf jeden Fall, das mit der Tür tut mir leid, ich habe nicht mehr daran gedacht“, antworten beide wenige Minuten später und ich merke, wie die Erleichterung einsetzt, wie mich die übrigen Krümel gleich weniger stören. „Danke, dass wir so eine coole WG sind, in der wir so ehrlich miteinander sprechen können und aufeinander aufpassen“, schreibe ich und bekomme postwendend lieben Zuspruch: „Ja, ich habe euch wirklich lieb und bin froh, dass wir zusammenwohnen. Wirklich, ich bin richtig glücklich mit euch und unserer schönen WG. Habe übrigens Klopapier besorgt!“ 

Mit einem Lächeln im Gesicht weiß ich wieder genau, warum ich mich für eine WG, diese WG entschieden habe: weil ich über mich hinauswachse, weil ich mich Ängsten stelle und vor allem, weil ich an jedem einzelnen Tag von tollen Menschen umgeben bin, die aufeinander achten – und das verbindet. Das macht am Ende immer wieder jeden Krümel wett.


Podcast für Hochsensible 

Erst Mitte des Jahres hat die Autorin Maria Anna Schwarzberg den Podcast „Proud to be Sensibelchen ins Leben gerufen – ein Podcast für Hochsensible, Emotionale und Menschen, die sich weiterentwickeln wollen. Mittlerweile zählen die aktuell 55 Folgen insgesamt mehr als 250.000 Downloads. 

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